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Sylvin Rubinstein lebt heute zurückgezogen in Hamburg-St. Pauli. In langen Nächten erzählt der 87-Jährige dem Journalisten Kuno Kruse von seiner Zwillingsschwester Maria. Sie verschwand 1941 in Ostgalizien zusammen mit seiner Mutter. Die unehelichen Kinder einer jüdischen Tänzerin und eines russischen Fürsten wuchsen im galizischen Brody auf. Rubinstein lässt die Tanzschule der strengen Madame Litwinowa in Riga und die großen Varietebühnen Europas wiedererstehen, auf denen Maria und Sylvin ein gefeiertes Tanzpaar waren, umgeben von Luxus und Glamour. Mit Ausbruch des Weltkriegs begann für ihn…mehr

Produktbeschreibung
Sylvin Rubinstein lebt heute zurückgezogen in Hamburg-St. Pauli. In langen Nächten erzählt der 87-Jährige dem Journalisten Kuno Kruse von seiner Zwillingsschwester Maria. Sie verschwand 1941 in Ostgalizien zusammen mit seiner Mutter. Die unehelichen Kinder einer jüdischen Tänzerin und eines russischen Fürsten wuchsen im galizischen Brody auf. Rubinstein lässt die Tanzschule der strengen Madame Litwinowa in Riga und die großen Varietebühnen Europas wiedererstehen, auf denen Maria und Sylvin ein gefeiertes Tanzpaar waren, umgeben von Luxus und Glamour. Mit Ausbruch des Weltkriegs begann für ihn ein Leben zwischen Versteck und Gefängnis. Rubinstein überlebte, weil ihn der deutsche Wehrmachtsoffizier Kurt Werner schützte. Ausgestattet mit falschen Papieren schickte Werner den jüdischen Tänzer 1942 als Zwangsarbeiter nach Berlin. Dort gab es Wunder - den Bäcker, der ihm Brot schenkte; die Nonnen, die ihn in einem Krankenhaus versteckten. Nach 1945 begann sein drittes Leben - ohne s eine geliebte Schwester. Doch wenn der alte Mann in seiner Küche erzählt, dann tanzt Dolores, und Maria lebt für immer.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Tanzt, Kinder, tanzt, die Nacht ist lang
Kuno Kruse erzählt die wunder- und grausame Biographie des Überlebenskünstlers Sylvin Rubinstein / Von Sonja Zekri

Am Ende des Buches erhebt er sich: Sylvin Rubinstein, der alte Tänzer und Flaneur, der Sohn einer jüdischen Ballerina, der einen Wehrmachtsoffizier "Vater" nannte; Rubinstein, zärtlicher Zwillingsbruder, kaltblütiger "Ganeff", Widerstandskämpfer und Beau, greift sich den Fächer und tanzt. Und in ihm lodert dasselbe Feuer wie vor dem Krieg, als er mit seiner Schwester auf den Bühnen Europas Triumphe feierte oder danach, als er in den Bars von St. Pauli als "Dolorita" strippte, das Gemächt am Bein festgeklebt: "Das muß bei Dir kochen, wenn Du raus kommst. Dann arbeiten die Kastagnetten, und die Traurigkeit kommt." Danach ist das Buch zu Ende, und die Kastagnetten schweigen. Aber die Traurigkeit bleibt.

In einer winzigen Küche auf St. Pauli, zwischen Nippes und Bühnenschminke, lebt dieser unruhige Zeuge des Jahrhunderts, und der Hamburger Journalist Kuno Kruse hat ihm für "Dolores & Imperio" seine Geschichte abgelauscht. Und weil der Tänzer auf so viele Leben zurückblickt, verwirft Kruse die Chronologie, läßt rührende, grausame, schillernde Nebenfiguren aufmarschieren, die Jahrzehnte voneinander getrennt leben, reiht Episoden aus dem Varieté an Akte des Widerstandes, glanzvolle Auftritte an lebensmüde Einsamkeit.

Rubinstein sind alle Leben gleich nah. Das galizische Brody etwa, wo er und seine geliebte Schwester Maria als Kinder einer jüdischen Ballerina und eines christlichen Offiziers des Zaren schon durch ihre Geburt provozierten. Oder Riga, wo sie bei der strengen Litwinowa klassisches Ballett lernten. Natürlich die Bühnen Europas, der Berliner "Winterpalast", einmal sogar der Broadway. "Maria und ich", sagt Rubinstein, "wir waren magnetisch, wenn wir haben getanzt. Wir waren ein Fuß." Sie war ein engelsgleiches Wesen, fern und unberührbar, er ein bildhübscher Schwerenöter. Glaubt man Rubinstein, und Kruse hat gelernt, ihm zu glauben, dann wurden die Geschwister von Männern wie Frauen gleichermaßen umschwärmt und blieben doch keusch.

Stolz tanzten die "galizischen Fürstenkinder" auf dem Vulkan, und als die Nazis an die Macht kamen, räumten sie die Bühne nur widerwillig. In Polen aber geschieht das Unfaßbare. Sylvin will Papiere beschaffen. Maria steigt am Warschauer Bahnhof in den Zug, "natürlich erster Klasse", um voraus zu fahren. Er sieht sie nie wieder. Und so unscharf die Beziehung der Geschwister in der bisherigen Erzählung geblieben war, Rubinsteins Schmerz ist greifbar und überwältigend.

"Ich weiß nicht, was ist in mir", sagt er, "ich besitze in mir eine große Grausamkeit. Ich kann nicht abspülen die Rache." Rubinstein lernt den Wehrmachtsoffizier Kurt Werner kennen, eine charismatische Vaterfigur, die den "Jungen" für die eigenen Widerstandspläne einsetzt. Rubinstein begeht Attentate, läßt sich von Werner als polnischer Zwangsarbeiter nach Berlin schicken, infiziert sich mit Typhus. Und überlebt.

Ein böses Schicksal scheint an ihm zu erproben, wieviel Anpassung ein Mensch erträgt, wie oft er Kostüme, Nationalitäten, Glauben, sogar das Geschlecht wechseln kann, ohne sich zu verlieren. Rubinstein redet jiddisch, wenn er kann, deutsch oder polnisch, wenn er muß. Er hat gelernt, sich zu bekreuzigen und hebräisch zu beten. Seinen stärksten Auftritt hat er nicht auf der Bühne, sondern im Warschauer Gefängnis. Nackt wird er einem SS-Offizier vorgeführt und verwandelt die Demütigung in einen Triumph. "Eine Drehung. Stand. Kein Graf Roniker hätte so akrobatisch durch den Raum schreiten können wie der nackte Sylvin Rubinstein", schreibt Kruse. Natürlich wird Rubinstein freigelassen. Und nicht zum letzten Mal siegt die Schönheit über den Tod. Als Berlin in Trümmern liegt, schneidert er sich sein Kostüm als "Dolorita" - aus dem roten Stoff einer Hakenkreuzfahne. Rubinstein entkommt dem Würgegriff der Epoche mit einem Bühnentrick.

Doch die Erinnerung ist grausamer als die Wirklichkeit. Als "Dolorita" bereits eine bekannte Größe auf St. Pauli ist, kann Rubinstein nicht vergessen. Die genußvollen Schmerzen der saturierten Herren in den Hinterzimmern ekeln ihn an. Am schlimmsten aber sind die Nächte, wenn er sich hustend im Schlaf wälzt, heimgesucht von SS-Schergen, Künstlern und natürlich Maria, dem grausamsten aller Geister. "Rubinstein ist nie in einem KZ gewesen", so Kruse, "und doch ist er in allen. Denn Maria ist dort gewesen."

Kruse schreibt nicht ohne Pathos und leugnet nicht seine Zweifel. Blinde Flecken in Rubinsteins Biographie bleiben; manches, wie seine Rolle gegen Ende des Krieges, wird sich nie klären lassen. Doch wenn Kruse dem alten Tänzer zusieht, wie er in Rüschen, Fotos und vergangenen Zeiten wühlt, wenn er ihn auf Reisen nach Polen und Galizien begleitet, dann nähern sich die beiden dem wahren Kern der Geschichte. "Dolores und Imperio", schwindelerregend und farbenprächtig wie der Flamenco und vielleicht bald gefolgt von einem Fernseh- und einem Kino-Film, erzählt vom Fluch eines Menschen, der sich gegen alles zu schützen weiß, nur nicht gegen die Vergangenheit.

"Wenn ich habe getanzt, ich habe gehabt mein Schwesterlein immer dabei", sagt Rubinstein. Die Kastagnetten schweigen, aber diese Stimme hat man lange im Ohr.

Kuno Kruse: "Dolores & Imperio". Die drei Leben des Sylvin Rubinstein. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2000. 256 S., geb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Dieses Buch verheißt Pathos. Und wenn wir Sonja Zekri richtig verstehen, liegt das an der Art und Weise, wie der Autor sein Süppchen kocht. Da wird schon mal gerafft und verschoben, wird die Chronologie der Ereignisse um des Effektes willen verworfen. Und weil der Autor, ein Journalist, dem Artisten Rubinstein, dessen Biografie er aufschreibt, so ziemlich alles abkauft, passiert es in diesem Buch nicht nur einmal, dass die Schönheit über den Tod siegt. Am Ende hat`s die Rezensentin voll erwischt: "`Dolores und Imperio`, schwindelerregend und farbenprächtig wie der Flamenco und vielleicht bald gefolgt von einem Fernseh- und einem Kino-Film..." Vielleicht? Ganz bestimmt.

© Perlentaucher Medien GmbH"