Der Berufsgruppe der »Domra«, die in Indien zur Kaste der Unberührbaren gehört, unterstehen die Verbrennungsstätten in Varanasi am Harishchandra Ghat und am Manikarnika Ghat. Die Domra verkaufen Holz, nehmen für jeden Leichnam, der am Ufer des Ganges eingeäschert wird, eine Gebühr ein und hüten das ewig brennende heilige Feuer, von dem alle Scheiterhaufen angezündet werden. Sie kümmern sich um die einzelnen Scheiterhaufen und scharren die Asche zusammen. Die Holzkohlereste und die Asche werden von den Domra nach Schmuck und Wertgegenständen durchsucht, bevor die Rückstände eines niedergebrannten Scheiterhaufens dem Fluß übergeben werden und langsam flußabwärts treiben.
»Wenn die Rituale beendet, die Gottesdienste aus und die Toten verbrannt sind, bleibt das pure Leben: inhuman, heidnisch und unerlöst. Eigentlich müßten die Kinder der Aufklärung Winkler als Ketzer verfolgen. Dennoch: Domra - Am Ufer des Ganges ist ein großes Buch, mittelalterlich und hoffnungslos.« Helmut Schödel, Die Zeit
»Wenn die Rituale beendet, die Gottesdienste aus und die Toten verbrannt sind, bleibt das pure Leben: inhuman, heidnisch und unerlöst. Eigentlich müßten die Kinder der Aufklärung Winkler als Ketzer verfolgen. Dennoch: Domra - Am Ufer des Ganges ist ein großes Buch, mittelalterlich und hoffnungslos.« Helmut Schödel, Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996Der Maler des Kuhfladens
Ein Erzähler im Dienst des Sprachlosen: Josef Winkler in Indien / Von Thomas Steinfeld
Der Kärntner Dichter Josef Winkler mußte weit reisen, um der zu bleiben, der er ist. Einst schilderte er mit großer Genauigkeit, wie unangenehm es ist, aus Kärnten zu stammen und von den dunklen und dampfenden Teilen der österreichischen Provinz zu berichten. "Menschenkind" hieß sein erster Roman. Er erschien 1979, handelte von Unordnung und frühem Leid und schien vom Drang getragen, sich einen Alb von der Seele schreiben zu müssen. Die Kritik hat ihm eine Fallgeschichte und den Versuch einer Befreiung zugute gehalten. Doch der Alb blieb, und aus der Fallgeschichte wurde ein Fall. Jetzt hat sich Josef Winkler in Benares an den Ufern des Ganges niedergelassen, um den Domra, den Feuerbestattern, und ihren brennenden Toten zuzusehen.
Josef Winkler ist kein Hindu, und er ist nicht so weit gereist, weil ein Glaube ihm verspricht, seinen Toten werde hier Erlösung gewährt. Auch ist er nicht gekommen, um sich an das Zufällige und Vergängliche eines Lebens erinnern zu lassen. Der Dichter, der in der Heimat nur Schrecken fand, sucht auch an den Leichenfeuern den Ekel und das kommode Grauen. Mit ihnen ist er ein beinahe häusliches Verhältnis eingegangen - er schreibt, und die menschlichen Körper verbrennen en gros und en detail. "Zwei fünfzehnjährige Jungen, Angehörige des Toten, die während der Einäscherung ein rituelles Bad im Ganges genommen, ein weißblaukariertes, plitschnasses Tuch um ihre nackten Hüften geschlungen und am Nabel verknotet hatten, waren zum Einäscherungsplatz zurückgekommen und stellten sich zu den vier rauchenden Männern, die den Leichnam aufgeschnürt und von der grünen Bambustragbahre auf den Scheiterhaufen gehoben hatten. Deutlich konnte man die Konturen ihrer Geschlechtsteile unter den nassen, dünnen Badetüchern sehen. Einer der beiden Knaben griff immer wieder, auf den langsam anbrennenden, auf dem Scheiterhaufen liegenden Toten blickend, unter das blauweißkarierte Tuch an seine Geschlechtsteile und zog an der Vorhaut seines Gliedes. Wenn der Wind stärker wehte, sah man einen Augenblick lang seine schwarzen Geschlechtsteile, seine mehr als einen Zentimeter über die Eichel seines Gliedes hängende, zerknitterte, feuchte Vorhaut und seine buschigen schwarzen Schamhaare." Das alles ist ganz furchtbar, aber das Fleisch gibt keine Ruhe.
Und das muß so sein. Denn der Ekel ist eine Daseinsqualität, und um dieses Prinzips willen hat die Manie der Beschreibung den Dichter ergriffen, eine radikale Entschlossenheit, sich auch das kleinste Detail nicht entgehen zu lassen und alles, was sichtbar ist, in einem Wort festzuhalten. Die faits divers des Fleisches und des Widerlichen werden hier aufgezählt, bis das Prinzip der Literatur, von ihren Gegenständen stets nur in einer Folge berichten zu können, in Tausende von Einzelheiten zerbricht. Diese dürfen nicht nur - sie sollen sich wiederholen. Der Dichter will sein Werk zur Implosion bringen: Wie, wenn er am Ende ein reines Kondensat von Leben hervorgebracht hätte?
Der Fall tritt nicht ein. Er kann nicht eintreten. Schon Gotthold Ephraim Lessing hatte schwerwiegende Einwände gegen den Wahn der beschreibenden Poesie, und er hatte recht. Die Dichter, meinte er im "Laokoon", dürften "die Bedürfnisse der Malerei nicht zu ihrem Reichtume machen". Denn was das Auge mit einem Blick übersehe, müsse der Dichter nach und nach aufzählen, und oft geschehe es, daß man am Ende vergessen habe, was am Anfang beschrieben worden sei. Das Auge kann nicht überlaufen, das Gedächtnis schon eher. Josef Winkler aber hat es auf dieses Übermaß abgesehen, weil er es für ein Zeichen von Wahrheit hält. Geschichten besitzt er nicht, nur diesen hartnäckigen Impuls zum Abstoßenden, den er in tausend Metastasen wuchern läßt, bis kein Gegenstand mehr frei davon ist.
Oder besser: bis alle Gegenstände einander gleichen. "Angezündet wurde der Holzstoß, auf dem der Leichnam einer dicken, kaum vierzigjährigen Frau mit entblößtem Gesicht lag, von einem geschorenen, ebenfalls dicken, eunuchenhaft aussehenden, vielleicht dreißigjährigen Mann, der sich, als er mit dem trockenen Schilf, auf dem ein heißes, glühendes Holzkohlenstück lag, um den Scheiterhaufen herumging, verbrannt hatte und ein dickes Stück Eis auf die Brandwunde seiner Hand drückte. Da er zuvor mit drei Domra, knöcheltief im Wasser stehend, die auf der siebensprossigen Bambusleiter liegende Frau in den Ganges eingetaucht und das nahtlose weiße Baumwolltuch, mit dem sein nackter Körper umhüllt war, dabei an den Hüften naßgemacht hatte, sah man, während er mit dem Eis der verbrannten Haut die Schmerzen zu lindern suchte, durch den dünnen, nassen Stoff des Baumwolltuches seine schwarzen Schamhaare und sein kleines Glied." Und so geht das weiter. Es ist keine Erfindung dabei, ja es wird nicht einmal erzählt. Falls Erzählen bedeutet, daß jemand zuhören soll.
Aber die Leidenschaft, mit der Josef Winkler Beiwörter in großen Haufen versammelt, ist heiliger Ernst. Sie dient dem Kult des einzelnen, und die endlose Reihe ist ihr Ritus. Diese Sprache soll zeigen, wie nah hier am Körper geschrieben wird. Das hat etwas Anachronistisches. Im Grunde ist die Verehrung für Jean Genet oder Hubert Fichte, am liebsten aber für Pier Paolo Pasolini und das dazugehörige Pathos der Entgrenzung noch ein Vorhaben aus den späten siebziger Jahren. Doch die reine, die unverstellte, die sinnliche Wahrheit entzog sich ihren Liebhabern. Diese ließen sich eine Zeitlang nicht beirren, denn sie gehorchten dem Gesetz des schärferen Reizes, das auch vor dem Ekel nicht zurückweicht - im Gegenteil. Das alles ist eine Weile her. Zurück blieb Josef Winkler. Doch nicht in Kärnten. Dort drohte Wiederholung, und das Entsetzen brauchte entsetzlichere Nahrung. Auch in Italien war Josef Winkler schon und fand dort eingetrocknete Leichen und von Ochsen zertrampelte Mädchen. Auch diese Empfindung wurde stumpf, und Indien lockte mit schrecklicheren Spektakeln.
Josef Winkler will das Tabu, um es zu verletzen. "Crescebat ex prohibitione cupiditas" - aus dem Verbot wächst das Begehren -, lehrt der heilige Augustinus, als würde das Projekt der eigentlichen Erfahrung gewinnen, wenn es sich in der Nähe der Blasphemie aufhielte. Die Leidenschaft soll den Verstand ersetzen, aber das Dumme ist, daß sich allein der Verstand für das Prinzip der Leidenschaft entscheiden kann. So entstehen die Ruhelosigkeit, die das Gesetz der Hingabe begleitet, der moderne Orientalismus mit seinen Ekelszenen und Adjektivhäufungen wie Dungberge. Zwar wird aus der Hingabe ans Detail keine Transzendenz. Aber man kommt auf diese Weise aus Kärnten an die Ufer des Ganges.
Josef Winkler: "Domra. Am Ufer des Ganges". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 259 S., geb., 38,- DM.
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Ein Erzähler im Dienst des Sprachlosen: Josef Winkler in Indien / Von Thomas Steinfeld
Der Kärntner Dichter Josef Winkler mußte weit reisen, um der zu bleiben, der er ist. Einst schilderte er mit großer Genauigkeit, wie unangenehm es ist, aus Kärnten zu stammen und von den dunklen und dampfenden Teilen der österreichischen Provinz zu berichten. "Menschenkind" hieß sein erster Roman. Er erschien 1979, handelte von Unordnung und frühem Leid und schien vom Drang getragen, sich einen Alb von der Seele schreiben zu müssen. Die Kritik hat ihm eine Fallgeschichte und den Versuch einer Befreiung zugute gehalten. Doch der Alb blieb, und aus der Fallgeschichte wurde ein Fall. Jetzt hat sich Josef Winkler in Benares an den Ufern des Ganges niedergelassen, um den Domra, den Feuerbestattern, und ihren brennenden Toten zuzusehen.
Josef Winkler ist kein Hindu, und er ist nicht so weit gereist, weil ein Glaube ihm verspricht, seinen Toten werde hier Erlösung gewährt. Auch ist er nicht gekommen, um sich an das Zufällige und Vergängliche eines Lebens erinnern zu lassen. Der Dichter, der in der Heimat nur Schrecken fand, sucht auch an den Leichenfeuern den Ekel und das kommode Grauen. Mit ihnen ist er ein beinahe häusliches Verhältnis eingegangen - er schreibt, und die menschlichen Körper verbrennen en gros und en detail. "Zwei fünfzehnjährige Jungen, Angehörige des Toten, die während der Einäscherung ein rituelles Bad im Ganges genommen, ein weißblaukariertes, plitschnasses Tuch um ihre nackten Hüften geschlungen und am Nabel verknotet hatten, waren zum Einäscherungsplatz zurückgekommen und stellten sich zu den vier rauchenden Männern, die den Leichnam aufgeschnürt und von der grünen Bambustragbahre auf den Scheiterhaufen gehoben hatten. Deutlich konnte man die Konturen ihrer Geschlechtsteile unter den nassen, dünnen Badetüchern sehen. Einer der beiden Knaben griff immer wieder, auf den langsam anbrennenden, auf dem Scheiterhaufen liegenden Toten blickend, unter das blauweißkarierte Tuch an seine Geschlechtsteile und zog an der Vorhaut seines Gliedes. Wenn der Wind stärker wehte, sah man einen Augenblick lang seine schwarzen Geschlechtsteile, seine mehr als einen Zentimeter über die Eichel seines Gliedes hängende, zerknitterte, feuchte Vorhaut und seine buschigen schwarzen Schamhaare." Das alles ist ganz furchtbar, aber das Fleisch gibt keine Ruhe.
Und das muß so sein. Denn der Ekel ist eine Daseinsqualität, und um dieses Prinzips willen hat die Manie der Beschreibung den Dichter ergriffen, eine radikale Entschlossenheit, sich auch das kleinste Detail nicht entgehen zu lassen und alles, was sichtbar ist, in einem Wort festzuhalten. Die faits divers des Fleisches und des Widerlichen werden hier aufgezählt, bis das Prinzip der Literatur, von ihren Gegenständen stets nur in einer Folge berichten zu können, in Tausende von Einzelheiten zerbricht. Diese dürfen nicht nur - sie sollen sich wiederholen. Der Dichter will sein Werk zur Implosion bringen: Wie, wenn er am Ende ein reines Kondensat von Leben hervorgebracht hätte?
Der Fall tritt nicht ein. Er kann nicht eintreten. Schon Gotthold Ephraim Lessing hatte schwerwiegende Einwände gegen den Wahn der beschreibenden Poesie, und er hatte recht. Die Dichter, meinte er im "Laokoon", dürften "die Bedürfnisse der Malerei nicht zu ihrem Reichtume machen". Denn was das Auge mit einem Blick übersehe, müsse der Dichter nach und nach aufzählen, und oft geschehe es, daß man am Ende vergessen habe, was am Anfang beschrieben worden sei. Das Auge kann nicht überlaufen, das Gedächtnis schon eher. Josef Winkler aber hat es auf dieses Übermaß abgesehen, weil er es für ein Zeichen von Wahrheit hält. Geschichten besitzt er nicht, nur diesen hartnäckigen Impuls zum Abstoßenden, den er in tausend Metastasen wuchern läßt, bis kein Gegenstand mehr frei davon ist.
Oder besser: bis alle Gegenstände einander gleichen. "Angezündet wurde der Holzstoß, auf dem der Leichnam einer dicken, kaum vierzigjährigen Frau mit entblößtem Gesicht lag, von einem geschorenen, ebenfalls dicken, eunuchenhaft aussehenden, vielleicht dreißigjährigen Mann, der sich, als er mit dem trockenen Schilf, auf dem ein heißes, glühendes Holzkohlenstück lag, um den Scheiterhaufen herumging, verbrannt hatte und ein dickes Stück Eis auf die Brandwunde seiner Hand drückte. Da er zuvor mit drei Domra, knöcheltief im Wasser stehend, die auf der siebensprossigen Bambusleiter liegende Frau in den Ganges eingetaucht und das nahtlose weiße Baumwolltuch, mit dem sein nackter Körper umhüllt war, dabei an den Hüften naßgemacht hatte, sah man, während er mit dem Eis der verbrannten Haut die Schmerzen zu lindern suchte, durch den dünnen, nassen Stoff des Baumwolltuches seine schwarzen Schamhaare und sein kleines Glied." Und so geht das weiter. Es ist keine Erfindung dabei, ja es wird nicht einmal erzählt. Falls Erzählen bedeutet, daß jemand zuhören soll.
Aber die Leidenschaft, mit der Josef Winkler Beiwörter in großen Haufen versammelt, ist heiliger Ernst. Sie dient dem Kult des einzelnen, und die endlose Reihe ist ihr Ritus. Diese Sprache soll zeigen, wie nah hier am Körper geschrieben wird. Das hat etwas Anachronistisches. Im Grunde ist die Verehrung für Jean Genet oder Hubert Fichte, am liebsten aber für Pier Paolo Pasolini und das dazugehörige Pathos der Entgrenzung noch ein Vorhaben aus den späten siebziger Jahren. Doch die reine, die unverstellte, die sinnliche Wahrheit entzog sich ihren Liebhabern. Diese ließen sich eine Zeitlang nicht beirren, denn sie gehorchten dem Gesetz des schärferen Reizes, das auch vor dem Ekel nicht zurückweicht - im Gegenteil. Das alles ist eine Weile her. Zurück blieb Josef Winkler. Doch nicht in Kärnten. Dort drohte Wiederholung, und das Entsetzen brauchte entsetzlichere Nahrung. Auch in Italien war Josef Winkler schon und fand dort eingetrocknete Leichen und von Ochsen zertrampelte Mädchen. Auch diese Empfindung wurde stumpf, und Indien lockte mit schrecklicheren Spektakeln.
Josef Winkler will das Tabu, um es zu verletzen. "Crescebat ex prohibitione cupiditas" - aus dem Verbot wächst das Begehren -, lehrt der heilige Augustinus, als würde das Projekt der eigentlichen Erfahrung gewinnen, wenn es sich in der Nähe der Blasphemie aufhielte. Die Leidenschaft soll den Verstand ersetzen, aber das Dumme ist, daß sich allein der Verstand für das Prinzip der Leidenschaft entscheiden kann. So entstehen die Ruhelosigkeit, die das Gesetz der Hingabe begleitet, der moderne Orientalismus mit seinen Ekelszenen und Adjektivhäufungen wie Dungberge. Zwar wird aus der Hingabe ans Detail keine Transzendenz. Aber man kommt auf diese Weise aus Kärnten an die Ufer des Ganges.
Josef Winkler: "Domra. Am Ufer des Ganges". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 259 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main