"Verdienen Sie so viel, dass Sie sich heute Abend eine Frau leisten können?" - fragt Don Giovanni seinen Taxi-Fahrgast an einem höllenfahrend heißen Tag. Derweil wird eine fast nackte Schauspielerin von einer Schlange gebissen. Eine andere, leidlich bekleidete, isst einen Apfel und bringt allein damit einen dramatischen Dichter zur Tollheitsverzweiflung. Man ist also mittendrin in einem theatralischen Rondo paradiso. Primadonnen, die den Wetteinsatz aufgekratzter Londoner Club-Gentlemen bilden, kratzen sich gegenseitig die Augen aus. Dorf und Depp kommen innig zusammen. Hexen jagen einen Bankräuber. Casanova wird zu einer Ballonfahrt verdonnert. Verliebte Bratscher machen Skandal. Geschichtengängerinnen gehen in verbotene Bücherkeller. Eine Fledermaus triumphiert als Scheidungskind.In diesem Buch versammeln sich lauter groteske, komisch bizarre, dramatisch zugespitzte und unerhörte Begebenheiten, die Gerhard Stadelmaier, der legendäre Theaterkritiker, erzählend über seine und seiner Leser Kopf-Bühne jagt. Und über all dem schweben Robert Schumanns "Novelletten"-Klaviergeister der Lebensfreude. Stadelmaiers Novelletten aber sind: eine Partitur der Lesefreude.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Döring lernt den ehemaligen Theaterkritiker der FAZ, Gerhard Stadelmaier, als großen Erzähler und Virtuosen im Umgang mit Distanz und Empathie kennen in diesen Geschichten. Allein das Figurenarsenal, das der Band versammelt, Primadonnen, Taxifahrer, Dichter, Dirigenten, Narren, und der literarische Zitatenschatz, aus dem der Autor sich bedient, um Alltagsszenen mit musizierenden Kindern und singenden Dorftrotteln, "wundersame Wandlungen" ins Fantastische und Groteske zu inszenieren, scheinen Döring bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2020Der ganze Welttheaterwahnsinn
Gerhard Stadelmaier lässt sich für seinen Noveletten-Band "Don Giovanni fährt Taxi" nicht nur von Robert Schumanns Musik inspirieren
Eine Kinderszene gibt den Ton an, erst scharf im Anschlag, später sanft verklingend. Ein Klaviervorspiel der örtlichen Musikschule: Die Eltern wollen endlich hören, wofür sie ihre Kinder jeden Tag zum Üben bringen sollen. "Aber Üben kann man halt nicht vorspielen", weshalb also ein Bach-Menuett oder eines der Stücke aus Schumanns "Kinderszenen" dargeboten werden muss. Doch in der Phantasie des Kindes, das uns die Szene übermittelt, spielt sich ohnehin ganz etwas anderes ab: Der geöffnete Konzertflügel vorn auf dem Podium ist ihm ein schwarzlackiertes Raubtier mit weit aufgerissenem Maul, ein grimmes Ungetüm, dem die verschreckten Schüler einer nach dem anderen zum Fraß vorgeworfen werden und das auch unseren Erinnerungserzähler zu verschlingen droht. Als bald die Reihe an ihm ist, hilft nur noch Beten, und - o Wunder! - das Untier zeigt Erbarmen. Einen einzigen Akkord nur schlägt er an und lauscht traumselig dem Verklingen seiner wunderbaren Töne, derweil Lehrer, Eltern und das Publikum in Unruhe geraten, weil das Vorspiel offenkundig stockt. Das Raubtier aber "scheint plötzlich zu lächeln. Und küsst mir sanft die Hand. Das genügt." Man muss Bestien nur zu bändigen wissen.
Kaum drei Seiten lang, ist diese Szene eine der einprägsamsten des gesamten Bandes, ein "Intermezzo" in der Folge eines guten Dutzends von Geschichten, die viel von wundersamen Wandlungen erzählen, Alltagsszenen und -begegnungen, die sich mitunter ins Phantastische, Groteske oder Wunderbare weiten und dabei oftmals Unerwartetes zum Schwingen bringen. So werden drei Biertrinker und Schwadroneure namens Egon, Emil und Edwin, die an einer öden Ausfallstraße auf der Tankstelle abhängen, zu den drei Schicksalshexen aus Shakespeares "Macbeth", der bald insolvente Pächter eines Landgasthofs, der ein ganzes Sortiment erlesener Single-Malt-Whisky-Sorten führt, wandelt sich unversehens zum Zaubermeister Prospero aus Shakespeares Alterswerk "Der Sturm", und ein redseliger Taxifahrer, der bei der Arbeit gerne alte Mozart-Einspielungen hört und dazu von der Käuflichkeit der Frauenliebe phantasiert, zum Don Giovanni. Seinen Titel jedoch borgt der Band vom Komponisten der "Kinderszenen": Robert Schumann.
Schumanns "Novelletten" sind eine Sammlung kleiner Charakter- und Bravourstücke für Klavier, die der junge Musiker selbst als "abenteuerliche Geschichten", darunter "Spaßhaftes" sowie "Familienscenen mit Vätern, eine Hochzeit, kurz äußert Liebenswürdiges" beschrieben und mit allerhand literarischen Anspielungen, auch beispielsweise auf die Hexen aus "Macbeth", versehen hat. Das gibt dem Autor offenkundig Anregung für eine sorgsam komponierte Folge abenteuerlicher Erzählstücke, die ihrerseits viele musikalische Anspielungen bieten und im Registerreichtum ihres Sprachklangs vielleicht überhaupt am besten wie Musik genommen werden können. Das jedenfalls steht jedem offen, der ihren hochkulturellen Zitatenschatz - das Vorwort dankt Max Frisch, Marina Zwetajewa, William Shakespeare, Lorenzo da Ponte und Patrick Süskind - womöglich doch nicht ganz erschließen kann. Das Wesentliche scheinen ohnehin die Tempoangaben, die Schumann seinen Stücken gibt, bereits zu sagen: von "Markiert und kräftig" bis "Leicht und mit Humor" ist auch bei Gerhard Stadelmaier alles dabei.
Naturgemäß spielt sich das Ganze auf der Bühne ab. Denn nicht nur Lesern dieser Zeitung, deren Feuilleton-Redaktion Stadelmaier lange angehörte, ist dieser Autor - vor vier Jahren debütierte er mit einem Roman - als leidenschaftlichster Theaterkritiker des Landes weithin bekannt. Zu seinem siebzigsten Geburtstag hat er nun diesen Geschichtenband herausgebracht und darin viel Gelegenheit gefunden, absonderlichen Alltagsaufführungen zuzuschauen, als gelte es, das Spiel ihrer Protagonisten noch einmal zu rezensieren, außer Taxifahrern, Klavierlehrern und verkommenen Schankwirten, zum Beispiel auch etliche Primadonnen, dramatische Dichter, Dirigenten, verliebte Bratscher, greise Club-Präsidenten, Scheidungskinder, Bücher- und Geschichtennarren: den ganzen "Welttheaterwahnsinn" eben. Denn weil die Welt nun mal bloß Bühne ist, wie schon ein Shakespeare-Narr verkündet, gehen Bühnenkritiker nie in den Ruhestand.
Manche der Geschichten lesen sich tatsächlich so, als müssten sie nachholend noch einmal den Leidensdruck bearbeiten, dem Stadelmaier sich zeitlebens, wie schon gelegentlich bekundet, in Aufführungen des Regietheaters ausgesetzt gesehen hat. Die stärksten Texte allerdings kommen ohne solche abgedroschenen Polemiken aufs "Pimmelreich der Schmiere" aus und ziehen gänzlich andere Register.
Die zentrale Geschichte trägt den Titel "Dorf und Depp" und erzählt davon, wie ein absonderlicher und eher beschränkter Mensch, den man gemeinhin als Dorftrottel bezeichnen würde, allein durch seine seltsamen, nie mehr als fünf Töne umfassenden, doch eben dadurch ungemein betörenden Lieder die gesamte Mitwelt in den Bann zieht und ein einträgliches Leben fristet - bis er eines Wintermorgens auf dem frostharten Acker aufgefunden wird: das Gesicht zu Boden und die Gliedmaßen erstarrt, "lag er da wie ein großes Insekt". Wie dieser Anblick, der den Anfang und das Ende der Geschichte bildet, durch eine grandiose Erzählschleife die ganze Lebensgeschichte dieses Sonderlings aufrollt und uns in einer seltsamen Mischung aus Distanz und Empathie zu teilnehmenden Beobachtern der Dorfgemeinschaft macht, ist mitreißend und bei allem Witz der Wortgewalt wie mit einem melancholischen Bordun-Bass unterlegt. Statt an Robert Schumann stellt sich hier die musikalische Erinnerung an Franz Schubert ein und dessen "Leiermann", das letzte Lied der "Winterreise", das ebenfalls mit eng umgrenztem Tonvorrat auskommt und in klammer Stille endet. An diesem Beispiel zeigt sich Stadelmaier als ein starker Welterzähler.
TOBIAS DÖRING
Gerhard Stadelmaier: "Don Giovanni fährt Taxi". Noveletten.
Verlag Klöpfer, Narr, Tübingen 2020. 226 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerhard Stadelmaier lässt sich für seinen Noveletten-Band "Don Giovanni fährt Taxi" nicht nur von Robert Schumanns Musik inspirieren
Eine Kinderszene gibt den Ton an, erst scharf im Anschlag, später sanft verklingend. Ein Klaviervorspiel der örtlichen Musikschule: Die Eltern wollen endlich hören, wofür sie ihre Kinder jeden Tag zum Üben bringen sollen. "Aber Üben kann man halt nicht vorspielen", weshalb also ein Bach-Menuett oder eines der Stücke aus Schumanns "Kinderszenen" dargeboten werden muss. Doch in der Phantasie des Kindes, das uns die Szene übermittelt, spielt sich ohnehin ganz etwas anderes ab: Der geöffnete Konzertflügel vorn auf dem Podium ist ihm ein schwarzlackiertes Raubtier mit weit aufgerissenem Maul, ein grimmes Ungetüm, dem die verschreckten Schüler einer nach dem anderen zum Fraß vorgeworfen werden und das auch unseren Erinnerungserzähler zu verschlingen droht. Als bald die Reihe an ihm ist, hilft nur noch Beten, und - o Wunder! - das Untier zeigt Erbarmen. Einen einzigen Akkord nur schlägt er an und lauscht traumselig dem Verklingen seiner wunderbaren Töne, derweil Lehrer, Eltern und das Publikum in Unruhe geraten, weil das Vorspiel offenkundig stockt. Das Raubtier aber "scheint plötzlich zu lächeln. Und küsst mir sanft die Hand. Das genügt." Man muss Bestien nur zu bändigen wissen.
Kaum drei Seiten lang, ist diese Szene eine der einprägsamsten des gesamten Bandes, ein "Intermezzo" in der Folge eines guten Dutzends von Geschichten, die viel von wundersamen Wandlungen erzählen, Alltagsszenen und -begegnungen, die sich mitunter ins Phantastische, Groteske oder Wunderbare weiten und dabei oftmals Unerwartetes zum Schwingen bringen. So werden drei Biertrinker und Schwadroneure namens Egon, Emil und Edwin, die an einer öden Ausfallstraße auf der Tankstelle abhängen, zu den drei Schicksalshexen aus Shakespeares "Macbeth", der bald insolvente Pächter eines Landgasthofs, der ein ganzes Sortiment erlesener Single-Malt-Whisky-Sorten führt, wandelt sich unversehens zum Zaubermeister Prospero aus Shakespeares Alterswerk "Der Sturm", und ein redseliger Taxifahrer, der bei der Arbeit gerne alte Mozart-Einspielungen hört und dazu von der Käuflichkeit der Frauenliebe phantasiert, zum Don Giovanni. Seinen Titel jedoch borgt der Band vom Komponisten der "Kinderszenen": Robert Schumann.
Schumanns "Novelletten" sind eine Sammlung kleiner Charakter- und Bravourstücke für Klavier, die der junge Musiker selbst als "abenteuerliche Geschichten", darunter "Spaßhaftes" sowie "Familienscenen mit Vätern, eine Hochzeit, kurz äußert Liebenswürdiges" beschrieben und mit allerhand literarischen Anspielungen, auch beispielsweise auf die Hexen aus "Macbeth", versehen hat. Das gibt dem Autor offenkundig Anregung für eine sorgsam komponierte Folge abenteuerlicher Erzählstücke, die ihrerseits viele musikalische Anspielungen bieten und im Registerreichtum ihres Sprachklangs vielleicht überhaupt am besten wie Musik genommen werden können. Das jedenfalls steht jedem offen, der ihren hochkulturellen Zitatenschatz - das Vorwort dankt Max Frisch, Marina Zwetajewa, William Shakespeare, Lorenzo da Ponte und Patrick Süskind - womöglich doch nicht ganz erschließen kann. Das Wesentliche scheinen ohnehin die Tempoangaben, die Schumann seinen Stücken gibt, bereits zu sagen: von "Markiert und kräftig" bis "Leicht und mit Humor" ist auch bei Gerhard Stadelmaier alles dabei.
Naturgemäß spielt sich das Ganze auf der Bühne ab. Denn nicht nur Lesern dieser Zeitung, deren Feuilleton-Redaktion Stadelmaier lange angehörte, ist dieser Autor - vor vier Jahren debütierte er mit einem Roman - als leidenschaftlichster Theaterkritiker des Landes weithin bekannt. Zu seinem siebzigsten Geburtstag hat er nun diesen Geschichtenband herausgebracht und darin viel Gelegenheit gefunden, absonderlichen Alltagsaufführungen zuzuschauen, als gelte es, das Spiel ihrer Protagonisten noch einmal zu rezensieren, außer Taxifahrern, Klavierlehrern und verkommenen Schankwirten, zum Beispiel auch etliche Primadonnen, dramatische Dichter, Dirigenten, verliebte Bratscher, greise Club-Präsidenten, Scheidungskinder, Bücher- und Geschichtennarren: den ganzen "Welttheaterwahnsinn" eben. Denn weil die Welt nun mal bloß Bühne ist, wie schon ein Shakespeare-Narr verkündet, gehen Bühnenkritiker nie in den Ruhestand.
Manche der Geschichten lesen sich tatsächlich so, als müssten sie nachholend noch einmal den Leidensdruck bearbeiten, dem Stadelmaier sich zeitlebens, wie schon gelegentlich bekundet, in Aufführungen des Regietheaters ausgesetzt gesehen hat. Die stärksten Texte allerdings kommen ohne solche abgedroschenen Polemiken aufs "Pimmelreich der Schmiere" aus und ziehen gänzlich andere Register.
Die zentrale Geschichte trägt den Titel "Dorf und Depp" und erzählt davon, wie ein absonderlicher und eher beschränkter Mensch, den man gemeinhin als Dorftrottel bezeichnen würde, allein durch seine seltsamen, nie mehr als fünf Töne umfassenden, doch eben dadurch ungemein betörenden Lieder die gesamte Mitwelt in den Bann zieht und ein einträgliches Leben fristet - bis er eines Wintermorgens auf dem frostharten Acker aufgefunden wird: das Gesicht zu Boden und die Gliedmaßen erstarrt, "lag er da wie ein großes Insekt". Wie dieser Anblick, der den Anfang und das Ende der Geschichte bildet, durch eine grandiose Erzählschleife die ganze Lebensgeschichte dieses Sonderlings aufrollt und uns in einer seltsamen Mischung aus Distanz und Empathie zu teilnehmenden Beobachtern der Dorfgemeinschaft macht, ist mitreißend und bei allem Witz der Wortgewalt wie mit einem melancholischen Bordun-Bass unterlegt. Statt an Robert Schumann stellt sich hier die musikalische Erinnerung an Franz Schubert ein und dessen "Leiermann", das letzte Lied der "Winterreise", das ebenfalls mit eng umgrenztem Tonvorrat auskommt und in klammer Stille endet. An diesem Beispiel zeigt sich Stadelmaier als ein starker Welterzähler.
TOBIAS DÖRING
Gerhard Stadelmaier: "Don Giovanni fährt Taxi". Noveletten.
Verlag Klöpfer, Narr, Tübingen 2020. 226 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main