Historischer Hintergrund:
Die beiden Brüder Edmond und Jules de Goncourt stammten aus einer vermögenden Familie und lebten ihr Leben lang ausschließlich für ihre Interessen, hauptsächlich die Literatur. Sie lebten und arbeiteten fast symbiotisch zusammen, teilten sich sogar ihre Geliebte. Mit ihrem
literarischen Interesse für die niederen Stände gelten sie als die Begründer des Naturalismus.…mehrHistorischer Hintergrund:
Die beiden Brüder Edmond und Jules de Goncourt stammten aus einer vermögenden Familie und lebten ihr Leben lang ausschließlich für ihre Interessen, hauptsächlich die Literatur. Sie lebten und arbeiteten fast symbiotisch zusammen, teilten sich sogar ihre Geliebte. Mit ihrem literarischen Interesse für die niederen Stände gelten sie als die Begründer des Naturalismus.
Ein besonderes Zeitdokument ist das Tagebuch (ab 1851), das beide Brüder verfassten und das Edmond, der ältere Bruder, nach Jules‘ Tod noch 25 Jahre alleine fortführte. In diesem Tagebuch nehmen die Beiden kein Blatt vor den Mund. Sie beobachten scharf und mitleidlos, notieren unbestechlich genauestens Intimitäten ihres Freundeskreises, zu dem die wichtigsten Literaten ihrer Zeit und auch die Prinzessin Mathilde, Nichte Napoleons und Kusine des Kaisers Napoleon III., gehörten. Das vollständige Tagebuch erschien 2013 erstmals auf Deutsch und ist die Quelle für Sulzers Roman.
Der Prix Goncourt ging aus einer Stiftung Edmonds Goncourts hervor und gilt inzwischen als der begehrteste Literaturpreis Frankreichs.
Mein Lese-Eindruck:
Selten hat mir ein Romantitel so gut gefallen wie „Doppelleben“. Dieser Titel trifft in mehrfacher Weise zu, und zwar auf jeden der verschiedenen Handlungsstränge. Die kapitelweise miteinander verschränkt werden.
Zunächst betrifft „Doppelleben“ das symbiotische Zusammenleben und -arbeiten der beiden Brüder Goncourt. Jules‘ Syphilis-Erkrankung wird von seinem älteren Bruder beharrlich geleugnet, und hier gelingen Sulzer sehr empathische und berührende Szenen, wenn er die Sorge und auch die Verzweiflung Edmonds erzählt, der sich mit dem geistigen Verfall seines Bruders nicht abfinden kann.
„Doppelleben“ betrifft aber auch die Magd Rose, die seit den Kindheitstagen der Brüder im Haus lebte und sie wie eine Mutter aufopferungsvoll versorgte. Erst nach ihrem Tod erfahren die Brüder von ihrem Doppelleben: sie hatte sich verschuldet, gestohlen und betrogen, um ihren jungen Geliebten zu finanzieren, dem sie hörig war. Beide Brüder mussten erkennen, dass sie, die so stolz auf ihre scharfe Beobachtungsgabe waren, bei den Tragödien in ihrer direkten Umgebung blind waren. Sie beschließen einen professionellen, d. h. ästhetischen Umgang mit dem Erlebten und schreiben den Roman Germinie Lacerteux, in dem sie das Leben einer Frau der niederen Stände mit allen abstoßenden Facetten thematisieren.
„Doppelleben“ betrifft aber auch die Zeit, in die der Autor seinen Leser mitnimmt. Es ist die Zeit Napoleons III., wir erleben den Glanz der Salons, üppige Festmähler und opulente Vergnügungen – und auf der anderen Seite das Elende der Unterschicht: gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, Alkoholismus, Kriminalität, Prostitution. Sulzer verschränkt beide Seiten der Gesellschaft. In Erinnerung bleibt eine pointierte Szene, als im Salon der Prinzessin ein Arzt dieses Elend ins Gespräch bringt, was von der champagnertrinkenden Gesellschaft jedoch als „degoutantes Hirngespinst abgetan wird.
Sulzers Buch besticht nicht nur durch die genaue historische Recherche, sondern auch durch die immer ruhige, fast behäbig-altmodische Sprache, in der er erzählt. Dramatisches wechselt mit Lyrischem, Anekdoten aus den Tagebüchern sorgen für Kurzweil. Sulzer erzählt seine Geschichte mit Empathie, ohne larmoyant zu werden, und so gelingt ihm ein spannender Roman, der eine starke Sogwirkung entfaltet.