Nur elf Monate dauerte die vielleicht bedeutsamste Liebesgeschichte der jüngeren Zeit. Dora Diamant, die lange Zeit Unbekannte an Kafkas Seite, verfügte über eine seltene Weite des Geistes. Als Rebellin ihrer ostjüdisch-orthodoxen Umgebung - sie floh vor dem strengen Vater in die Verheissung des 'aufgeklärten' Westens - behielt sie und kultivierte immer den tiefen humanitären Geschmack einer religiösen Musikalität: Das Gefühl einer unverbrüchlichen Verantwortung und das Bestreben zur Identität von Heiligem und Alltäglichem. Als Zeugin zugleich auch für dieses 'Mandat' Kafkas aber auch im Eintreten für eine jiddische Kultur, die ihr als Quelle dieser tiefen humannen Integrität galt, geht Doras Leben und Bedeutung weit über die kurze Zeit des Zusammenlebens mit Kafka hinaus.'[Die] Grenzzone zwischen Tradition und Moderne betraten Franz Kafka und Dora Diamant gleichsam von entgegengesetzten Seiten, und fast zur selben Zeit. (...) Als er Dora Diamant kennenlernte, begriff er sofort, dass sie eine Art Koexistenz von östlicher und westlicher Lebensweise verkörperte, die auch er sich als Lösung durchaus vorstellen konnte, obgleich das weder in ihrem noch in seinem Lebensplan vorgesehen war: eine Komplizin also.' (Aus dem Vorwort von Reiner Stach)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2014Deutschland kann sich retten in Franz
Endlich übersetzt: Kathi Diamants Biografie über Dora Diamant, die „Kafkas letzte Liebe“ war
Dass jemand auszieht, um ein Rätsel zu lösen, die Lösung nicht findet, am Ende mit der Geschichte seiner Suche aber etwas in Händen hält, das kostbarer ist als es die Lösung des Rätsels gewesen wäre – diese alte Geschichte steckt hinter dem Buch „Kafkas letzte Liebe“. Seine Autorin, Kathi Diamant, ist 1952 in New York geboren und wurde 1971, als in ihrem Literaturkurs an der Universität Georgia Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ auf dem Programm stand, vom Dozenten gefragt, ob sie mit Dora Diamant verwandt sei. Sie kannte den Namen nicht, holte sich Max Brods Kafka-Biografie aus der Bibliothek, erfuhr von der Bedeutung die Dora Diamant für Kafka in seinem letzten Lebensjahr gehabt hatte, und machte sich daran, die Frage des Dozenten zu beantworten.
Das dauerte Jahrzehnte, und am Ende konnte sie die Frage nicht beantworten, war aber in amerikanischen, deutschen, österreichischen und israelischen öffentlichen und privaten Archiven sowie durch Gespräche mit Zeitzeugen zu einem leibhaftigen Dora-Diamant-Archiv geworden. Ihre Biografie über Dora Diamant erschien 2003 und wurde vielfach übersetzt. Die deutsche Ausgabe, für die ursprünglich der Ullstein Verlag die Rechte erworben hatte, ließ ein Jahrzehnt auf sich warten, und es ist nun dem kleinen Düsseldorfer Onomato Verlag zu danken, dass sie schließlich doch zustande gekommen ist.
Kafka hat Dora Diamant am 13. Juli 1923 bei seinem Aufenthalt in Müritz an der Ostsee kennengelernt. Nur wenige Schritte von seiner Pension befand sich eine Feriensiedlung, mit Kindern und Betreuern des Berliner Jüdischen Volksheims. Dora Diamant leitete dort die Küche, durch eine junge Berliner Buchhandelsmitarbeiterin, die er bei einer Theateraufführung für Urlaubsgäste kennengelernt hatte, wurde er ihr vorgestellt.
„Kafkas letzte Liebe“ – nicht von ungefähr klingt der Titel nach einem Roman. Zumal zu Beginn, bei der Schilderung des Kennenlernens an der Ostsee, des Zusammenlebens in Berlin, das so eng war, wie es Kafka nie zuvor mit einer Frau – auch nicht mit Felice Bauer – versucht hatte, und nicht zuletzt im Blick auf die Sterbeszenen im Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg, schreibt Kathi Diamant im Stil einer Romanbiografie: „Franz war um Mitternacht eingeschlafen. Während die Minuten seines letzten Tages langsam vergingen, saß Dora an seinem Bett . . .“
Aber diese Anflüge von Liebesroman lassen sich leicht verschmerzen angesichts des Reichtums an Lebens-Dokumenten, der in diesem Buch steckt. Es verfolgt die Lebensgeschichte Dora Diamants nach Kafkas Tod Station für Station über die Schauspielausbildung in Düsseldorf, karge Jahre in Berlin, das Exil in der Sowjetunion der Stalinprozesse und die Flucht über die Schweiz nach England bis zu ihrem Tod in London im Sommer 1952, weit ausführlicher als es Ernst Pawel in seiner Kafka-Biografie von 1984 tun konnte. Je mehr man sich in diese Lebensgeschichte vertieft, desto deutlicher tritt das doppelte Thema dieser Biografie hervor: die Geschichte des osteuropäischen Judentums, dem Dora Diamant entstammte, im zwanzigsten Jahrhundert, und die Geschichte von Kafka-Lesern und Kafka-Lektüren vor seinem Aufstieg zu einem weltliterarischen Autor nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Muttersprache Dora Diamants, die 1898 im polnischen Brzezin geboren wurde, war Jiddisch, die Sprache der Lemberger Theatertruppe, deren Gastspiel in Prag Kafka um 1911 aufmerksam verfolgt hatte – ja, er hatte sogar vor den Prager „Westjuden“ einen Vortrag über den „Jargon“ gehalten. Am Ende dieser Biografie, als Max Brod zwei Bände Tagebücher Kafkas herausgibt, wird Dora Diamant Kafkas Aufzeichnungen über die Gastspiele lesen und kommentieren.
Sie selbst war aus der Herkunftswelt nach Westen ausgewandert und hatte dabei die religiöse Bindung des Vaters an die Formel des chassidischen Rabbi, dessen Anhänger er war – „Alles Neue verbietet die Thora“ –, aufgegeben. Aber die kulturelle Bindung an das Jiddische in Theater und Poesie gab sie zeitlebens nicht auf. In Figuren wie Melech Rawitsch und Avrom Nokhem Stencl, die dieser Welt angehören, begegnet Dora Diamant frühen Kafka-Lesern, mit ihrem Mann Ludwig Lask gehört sie der radikalen deutschen Arbeiterbewegung an, tritt 1929 in die KPD ein.
In England findet sie im Haus der Philosophin Dorothy Emmett bei Manchester Aufnahme mit ihrer 1934 geborenen Tochter. Oft tritt sie als – wenn auch nicht angetraute – Witwe Kafkas auf, Max Brod lässt ihr Tantiemen aus Kafkas Schriften zukommen, obwohl sie der Publikation skeptisch gegenübersteht. Nach dem Krieg wird sie Brod bei einer Israel–Reise besuchen, auf der Rückreise in Paris Jean-Louis Barrault kennenlernen, der gerade den „Prozess“ probt, und Marthe Robert, die Kafkas Tagebücher übersetzen wird. Aus Marthe Roberts Nachlass stammen die Aufzeichnungen Dora Diamants aus ihrem letzten Lebensjahr, die hier erstmals veröffentlicht werden, in der amerikanischen Ausgabe sind sie noch nicht enthalten.
Die Notizen von 1951/52 reagieren auch auf das anschwellende Stimmengewirr über Kafka: „Sinnesfreudig wie ein Tier (oder wie ein Kind). – Woher bloß die Vermutung von Franz als Asket herkommt?“ Ein Versuch, das Verbindungslied zwischen Kafkas Humor und dem der Chinesen zu finden: „die verträumte, blütensamenwinzige Exaktheit“. Und sie ahnt schon seine Zukunft als säkularer Heiliger: „Ich bin im festen Glauben, dass Deutschland sich in Franz retten kann. So wie die Welt sich einmal im Monotheismus gerettet hat.“ Im Februar 1952 kommt ein Kafka-Leser aus Deutschland zu Besuch: Martin Walser. 1991 wird er in einer Rezension der Briefe Kafkas an seine Eltern in der Zeit davon berichten und sich vorwerfen, kein Ohr für den ostjüdischen Verehrungston gehabt zu haben, den Dora Diamant in den Notizen anschlug, die sie ihm vorlas.
LOTHAR MÜLLER
Kathi Diamant: Kafkas letzte Liebe. Die Biografie von Dora Diamant. Aus dem Englischen von Wiebke Mönning und Christoph Moos. Mit einem Vorwort von Rainer Stach. Onomato Verlag, Düsseldorf 2013. 464 Seiten, 19,80 Euro.
Dora Diamant auf einer Aufnahme von 1925; rechts die erste Seite ihrer nun publizierten Aufzeichnungen von 1951/52.
Foto: Onomato Verlag,Sammlung Lask
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Endlich übersetzt: Kathi Diamants Biografie über Dora Diamant, die „Kafkas letzte Liebe“ war
Dass jemand auszieht, um ein Rätsel zu lösen, die Lösung nicht findet, am Ende mit der Geschichte seiner Suche aber etwas in Händen hält, das kostbarer ist als es die Lösung des Rätsels gewesen wäre – diese alte Geschichte steckt hinter dem Buch „Kafkas letzte Liebe“. Seine Autorin, Kathi Diamant, ist 1952 in New York geboren und wurde 1971, als in ihrem Literaturkurs an der Universität Georgia Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ auf dem Programm stand, vom Dozenten gefragt, ob sie mit Dora Diamant verwandt sei. Sie kannte den Namen nicht, holte sich Max Brods Kafka-Biografie aus der Bibliothek, erfuhr von der Bedeutung die Dora Diamant für Kafka in seinem letzten Lebensjahr gehabt hatte, und machte sich daran, die Frage des Dozenten zu beantworten.
Das dauerte Jahrzehnte, und am Ende konnte sie die Frage nicht beantworten, war aber in amerikanischen, deutschen, österreichischen und israelischen öffentlichen und privaten Archiven sowie durch Gespräche mit Zeitzeugen zu einem leibhaftigen Dora-Diamant-Archiv geworden. Ihre Biografie über Dora Diamant erschien 2003 und wurde vielfach übersetzt. Die deutsche Ausgabe, für die ursprünglich der Ullstein Verlag die Rechte erworben hatte, ließ ein Jahrzehnt auf sich warten, und es ist nun dem kleinen Düsseldorfer Onomato Verlag zu danken, dass sie schließlich doch zustande gekommen ist.
Kafka hat Dora Diamant am 13. Juli 1923 bei seinem Aufenthalt in Müritz an der Ostsee kennengelernt. Nur wenige Schritte von seiner Pension befand sich eine Feriensiedlung, mit Kindern und Betreuern des Berliner Jüdischen Volksheims. Dora Diamant leitete dort die Küche, durch eine junge Berliner Buchhandelsmitarbeiterin, die er bei einer Theateraufführung für Urlaubsgäste kennengelernt hatte, wurde er ihr vorgestellt.
„Kafkas letzte Liebe“ – nicht von ungefähr klingt der Titel nach einem Roman. Zumal zu Beginn, bei der Schilderung des Kennenlernens an der Ostsee, des Zusammenlebens in Berlin, das so eng war, wie es Kafka nie zuvor mit einer Frau – auch nicht mit Felice Bauer – versucht hatte, und nicht zuletzt im Blick auf die Sterbeszenen im Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg, schreibt Kathi Diamant im Stil einer Romanbiografie: „Franz war um Mitternacht eingeschlafen. Während die Minuten seines letzten Tages langsam vergingen, saß Dora an seinem Bett . . .“
Aber diese Anflüge von Liebesroman lassen sich leicht verschmerzen angesichts des Reichtums an Lebens-Dokumenten, der in diesem Buch steckt. Es verfolgt die Lebensgeschichte Dora Diamants nach Kafkas Tod Station für Station über die Schauspielausbildung in Düsseldorf, karge Jahre in Berlin, das Exil in der Sowjetunion der Stalinprozesse und die Flucht über die Schweiz nach England bis zu ihrem Tod in London im Sommer 1952, weit ausführlicher als es Ernst Pawel in seiner Kafka-Biografie von 1984 tun konnte. Je mehr man sich in diese Lebensgeschichte vertieft, desto deutlicher tritt das doppelte Thema dieser Biografie hervor: die Geschichte des osteuropäischen Judentums, dem Dora Diamant entstammte, im zwanzigsten Jahrhundert, und die Geschichte von Kafka-Lesern und Kafka-Lektüren vor seinem Aufstieg zu einem weltliterarischen Autor nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Muttersprache Dora Diamants, die 1898 im polnischen Brzezin geboren wurde, war Jiddisch, die Sprache der Lemberger Theatertruppe, deren Gastspiel in Prag Kafka um 1911 aufmerksam verfolgt hatte – ja, er hatte sogar vor den Prager „Westjuden“ einen Vortrag über den „Jargon“ gehalten. Am Ende dieser Biografie, als Max Brod zwei Bände Tagebücher Kafkas herausgibt, wird Dora Diamant Kafkas Aufzeichnungen über die Gastspiele lesen und kommentieren.
Sie selbst war aus der Herkunftswelt nach Westen ausgewandert und hatte dabei die religiöse Bindung des Vaters an die Formel des chassidischen Rabbi, dessen Anhänger er war – „Alles Neue verbietet die Thora“ –, aufgegeben. Aber die kulturelle Bindung an das Jiddische in Theater und Poesie gab sie zeitlebens nicht auf. In Figuren wie Melech Rawitsch und Avrom Nokhem Stencl, die dieser Welt angehören, begegnet Dora Diamant frühen Kafka-Lesern, mit ihrem Mann Ludwig Lask gehört sie der radikalen deutschen Arbeiterbewegung an, tritt 1929 in die KPD ein.
In England findet sie im Haus der Philosophin Dorothy Emmett bei Manchester Aufnahme mit ihrer 1934 geborenen Tochter. Oft tritt sie als – wenn auch nicht angetraute – Witwe Kafkas auf, Max Brod lässt ihr Tantiemen aus Kafkas Schriften zukommen, obwohl sie der Publikation skeptisch gegenübersteht. Nach dem Krieg wird sie Brod bei einer Israel–Reise besuchen, auf der Rückreise in Paris Jean-Louis Barrault kennenlernen, der gerade den „Prozess“ probt, und Marthe Robert, die Kafkas Tagebücher übersetzen wird. Aus Marthe Roberts Nachlass stammen die Aufzeichnungen Dora Diamants aus ihrem letzten Lebensjahr, die hier erstmals veröffentlicht werden, in der amerikanischen Ausgabe sind sie noch nicht enthalten.
Die Notizen von 1951/52 reagieren auch auf das anschwellende Stimmengewirr über Kafka: „Sinnesfreudig wie ein Tier (oder wie ein Kind). – Woher bloß die Vermutung von Franz als Asket herkommt?“ Ein Versuch, das Verbindungslied zwischen Kafkas Humor und dem der Chinesen zu finden: „die verträumte, blütensamenwinzige Exaktheit“. Und sie ahnt schon seine Zukunft als säkularer Heiliger: „Ich bin im festen Glauben, dass Deutschland sich in Franz retten kann. So wie die Welt sich einmal im Monotheismus gerettet hat.“ Im Februar 1952 kommt ein Kafka-Leser aus Deutschland zu Besuch: Martin Walser. 1991 wird er in einer Rezension der Briefe Kafkas an seine Eltern in der Zeit davon berichten und sich vorwerfen, kein Ohr für den ostjüdischen Verehrungston gehabt zu haben, den Dora Diamant in den Notizen anschlug, die sie ihm vorlas.
LOTHAR MÜLLER
Kathi Diamant: Kafkas letzte Liebe. Die Biografie von Dora Diamant. Aus dem Englischen von Wiebke Mönning und Christoph Moos. Mit einem Vorwort von Rainer Stach. Onomato Verlag, Düsseldorf 2013. 464 Seiten, 19,80 Euro.
Dora Diamant auf einer Aufnahme von 1925; rechts die erste Seite ihrer nun publizierten Aufzeichnungen von 1951/52.
Foto: Onomato Verlag,Sammlung Lask
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mitunter fühlt sich Oliver Pfohlmann in einem kitschigen Groschenroman beim Lesen von Kathi Diamants Biografie über Kafkas letzte Geliebte Dora Diamant. Allerdings weiß er, dass die Autorin streng nach den Quellen, also Doras teilweise im Band mitabgedruckten Aufzeichnungen, arbeitet, wenn sie das Verhältnis zu Kafka beschreibt. Die Empathie steht einem überzeugenden, lebendigen Porträt Diamants nicht im Weg, erklärt Pfohlmann milde. Über Kafka erfährt der Rezensent naturgemäß so einiges. Etwa über die Sinnenfreude des angeblich so scheuen Schriftstellers. Vor allem aber über Diamants nahezu religiöse Verehrung Kafkas.
© Perlentaucher Medien GmbH
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