Die Literaturen der Welt erzählen vom Dorf: Bausteine einer Gattungsgeschichte.Mitte des 18. Jahrhunderts wird das Dorf zum Thema der Literatur; zuerst in Versen, dann in ungebundener Form. Man spricht von village sketches und contes villageois, später von derevenskaja proza und köy edebiyati. Zu besonderer Popularität gelangt die »Dorfgeschichte« in den deutschsprachigen Ländern.Marcus Twellmann nutzt dieses Gattungskonzept für vergleichende Lektüren, die das Erzählen in seiner lokalen Kontextgebundenheit und zugleich die Bewegung der Form untersuchen - ihr Anderswerden im Zuge globaler Übersetzung wie auch ihre Verfestigung. Wie keine andere gibt diese zumeist Realismus beanspruchende Gattung Aufschluss über die tiefgreifende Veränderung von Lebenswelten. Die Studie macht klar: Weltliteraturgeschichte ist möglich und das Dorf ist der Ort, wo sie als Erfahrung beginnt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2019Jenseits der Städte
Vom Schwarzwald über Italien bis nach Indien: Der Literaturwissenschaftler Marcus Twellmann erkundet „Dorfgeschichten“
Die Hälfte aller Menschen, so heißt es seit einigen Jahren, lebe mittlerweile in Städten. Es werden offenbar immer mehr, und ihnen gilt eine Unzahl soziologischer, psychologischer, urbanistischer oder architekturtheoretischer Studien. Auch die Literaturwissenschaft ist längst an der Erforschung des städtischen Lebens beteiligt. Allerdings ist eine Hälfte eben nur eine Hälfte: Den Landbewohnern scheint zwar die urbane Zukunft der Menschheit weniger scharf auf den Fersen zu sein. Aber es gibt sie, auch wenn die theoretische Neugier sie gern übergeht. Dieses Missverhältnis will der Konstanzer Literaturwissenschaftler Marcus Twellmann mit seiner großen Studie „Dorfgeschichten“ korrigieren. Sie ist einem Genre gewidmet, das seinen Anfang im 18. Jahrhundert nahm und mit der aktuellen Welle von Geschichten vom Lande (Lola Randl, Norbert Scheuer und viele andere) noch lange nicht erschöpft ist.
Das Dorf, erklärt Marcus Twellmann, zeichne sich durch „relative Kleinheit“ aus. Es bilde ein „sinnlich erfassbares Ganzes“ (was es zu einer Art von „Weltliteratur“ in sich selbst macht), das in dem Augenblick, in dem es zum Gegenstand der Literatur werde, auch Züge des Idyllischen trage – allerdings nicht allein, insofern die Volksaufklärung bei der Entwicklung der Dorfgeschichte ebenso eine Rolle spiele wie sozialreformerische Interessen. Das Dorf, als Gegenstand des Nachdenkens wie der Literatur, entsteht mithin erst in dem Augenblick, in dem alles Ständische und Stehende zu verdampfen beginnt und die Industrialisierung einsetzt.
Es muss, anders gesagt, als Gegenstand markiert sein, künstlerisch, wissenschaftlich, sozialreformerisch, wie auch immer, um zu einem literarischen Sujet zu werden. Aus dieser Erkenntnis leitet Twellmann die drei Absichten seines Buches ab: Zunächst will er erklären, was eine Dorfgeschichte ist. Sodann will er deutsche Dorfgeschichten in ein Verhältnis zu Dorfgeschichten aus anderen Ländern und Weltteilen setzen und darüber nachweisen, dass die Dorfgeschichte eine Gattung der „Weltliteratur“ sei. Schließlich geht es ihm darum, ein Muster zu entwerfen, wie man unter den Voraussetzungen einer „Geschichte globaler Formzirkulation“ mit einer solchen Gattung umgehen könne.
Ein literarisches Dorf spiegelt also keineswegs nur eine Lebensform, die sich Menschen gaben, als sie sesshaft wurden, und die sich danach kaum veränderte: ein Kollektiv, das vor allem besteht, weil es sich, mithilfe einer rudimentären Arbeitsteilung, selbst ernähren und verwalten kann (heute muss es, zumindest in den Industrieländern, genauso von außen ernährt werden wie die Stadt). Die Dorfgeschichte ist vielmehr eine junge und stets auch intellektuelle Errungenschaft. Dabei sei sie, so Marcus Twellmann, vor allem durch eine deutsche Tradition geprägt. Zwar habe es seit Mitte des 18. Jahrhunderts in England eine Literatur gegeben, die einerseits von einem Bewusstsein des Verlustes, andererseits von gesellschaftlichen Utopien wie dem „Musterdorf“ geprägt gewesen sei.
Das eigentliche Muster für die Dorfgeschichte habe allerdings erst Berthold Auerbach in seinen „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ aus dem Jahr 1843 geliefert, einem Buch, das zu seiner Zeit ein Weltbestseller war. Das literarische Dorf habe sich gebildet, als eine intellektuelle Elite sich über das niedere Volk beugte und ihm zu einer „realistischen Idylle“ (Friedrich Theodor Vischer) verhalf. Weil es dabei von vornherein um die Auseinandersetzung mit einer anderen Elite gegangen sei, nämlich der bürokratischen Macht in spätabsolutistischen Territorialstaaten (auch und vor allem bei Berthold Auerbach), sei die Dorfgeschichte auch politischer, als die gängige Vorstellung von der Flucht in die Idylle glauben lasse.
Mit solchen Gedanken setzt ein Projekt ein, das Marcus Twellmann in der Folge nur noch unter den Bedingungen einer mehr oder minder willkürlichen Auswahl verwirklichen kann. Er spricht über das türkische Dorf, wie es ab den Zwanzigern, unter der Herrschaft Kemal Atatürks zur Nation „erweckt“ werden sollte. Er setzt sich mit Ignazio Silones „Fontamara“ (1933) auseinander, dem Buch eines beginnenden Aufbegehrens einer bis dahin in jeder Beziehung unterworfenen italienischen Landbevölkerung. Ignazio Silone hatte mit diesem Werk ein Modell geschaffen, das der indische Schriftsteller Raja Rao für seinen Roman „Kanthapura“ (1938) übernahm – wobei sich diese Übernahme kaum verstehen lässt, wenn man nicht im Sinn behält, dass das indische Dorf im 19. Jahrhundert aus verwaltungspraktischen Gründen neu definiert wurde.
Große Aufmerksamkeit widmet Marcus Twellmann darüber hinaus dem Kommunismus (auch in Gestalt der ostdeutschen Agrarpolitik) und dessen Verhältnis zum Dorf, insbesondere im Hinblick auf das Gemeineigentum. Die Gegenstände ließen sich vermehren, weit über die Grenzen des Buches hinaus: So spielt das Dorf eine große Rolle auch in den skandinavischen Literaturen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Selma Lagerlöf, Knut Hamsun, Aleksis Kivi). Und welche Vorstellungen hegte die „völkische“ Literatur vom Dorf und seinen Geschichten?
Eines aber vermisst der Leser, der notwendigen Unvollständigkeit dieses Entwurfs zum Trotz, am Ende des Buches: ein Nachdenken darüber, warum ein Literaturwissenschaftler in diesen Zeiten ein Buch über „Dorfgeschichten“ schreibt. Denn der Grund für dieses Forschungsinteresse wird nicht darin liegen, dass das Dorf nun, da alles in die Stadt strebt, als literarischer oder theoretischer Ort gleichsam brachliegt (das ist nicht der Fall: siehe die vielen neuen Dorfgeschichten). So wie die Stadt sich verändert, so wandelt sich auch das Land: in die großen, trostlosen Flächen der Agrarindustrie auf der einen, in die Idyllen für erholungsbedürftige Großstädter auf der anderen Seite.
Jenseits dieser Teilung gibt es ein Land, mit dem keiner mehr etwas anfangen kann und das also an die Natur zurückfällt. Schon ist der Bauer fast verschwunden, in Schottland hat ein „Museum of Rural Life“ eröffnet, die Vereinzelung des Städters hat längst auch das Landleben erfasst. Einen gewaltigen Gegenstand hat Marcus Twellmann ergriffen, zu groß für ein einziges Buch, so gut es auch sein mag, und einer konzertierten Anstrengung würdig.
THOMAS STEINFELD
Marcus Twellmann: Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 516 Seiten, 39,90 Euro.
Das Muster schuf Berthold
Auerbach, seine Erzählungen
wurden ein Weltbestseller
Längst hat die Vereinzelung
auch das Landleben
ergriffen
Jedes Dorf ist eine Welt, Dorfliteratur immer auch Weltliteratur: Pescina in den Abruzzen, Zeichnung von Edward Lear.
Foto: akg-images / De Agostini / Galleria Garisenda
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Vom Schwarzwald über Italien bis nach Indien: Der Literaturwissenschaftler Marcus Twellmann erkundet „Dorfgeschichten“
Die Hälfte aller Menschen, so heißt es seit einigen Jahren, lebe mittlerweile in Städten. Es werden offenbar immer mehr, und ihnen gilt eine Unzahl soziologischer, psychologischer, urbanistischer oder architekturtheoretischer Studien. Auch die Literaturwissenschaft ist längst an der Erforschung des städtischen Lebens beteiligt. Allerdings ist eine Hälfte eben nur eine Hälfte: Den Landbewohnern scheint zwar die urbane Zukunft der Menschheit weniger scharf auf den Fersen zu sein. Aber es gibt sie, auch wenn die theoretische Neugier sie gern übergeht. Dieses Missverhältnis will der Konstanzer Literaturwissenschaftler Marcus Twellmann mit seiner großen Studie „Dorfgeschichten“ korrigieren. Sie ist einem Genre gewidmet, das seinen Anfang im 18. Jahrhundert nahm und mit der aktuellen Welle von Geschichten vom Lande (Lola Randl, Norbert Scheuer und viele andere) noch lange nicht erschöpft ist.
Das Dorf, erklärt Marcus Twellmann, zeichne sich durch „relative Kleinheit“ aus. Es bilde ein „sinnlich erfassbares Ganzes“ (was es zu einer Art von „Weltliteratur“ in sich selbst macht), das in dem Augenblick, in dem es zum Gegenstand der Literatur werde, auch Züge des Idyllischen trage – allerdings nicht allein, insofern die Volksaufklärung bei der Entwicklung der Dorfgeschichte ebenso eine Rolle spiele wie sozialreformerische Interessen. Das Dorf, als Gegenstand des Nachdenkens wie der Literatur, entsteht mithin erst in dem Augenblick, in dem alles Ständische und Stehende zu verdampfen beginnt und die Industrialisierung einsetzt.
Es muss, anders gesagt, als Gegenstand markiert sein, künstlerisch, wissenschaftlich, sozialreformerisch, wie auch immer, um zu einem literarischen Sujet zu werden. Aus dieser Erkenntnis leitet Twellmann die drei Absichten seines Buches ab: Zunächst will er erklären, was eine Dorfgeschichte ist. Sodann will er deutsche Dorfgeschichten in ein Verhältnis zu Dorfgeschichten aus anderen Ländern und Weltteilen setzen und darüber nachweisen, dass die Dorfgeschichte eine Gattung der „Weltliteratur“ sei. Schließlich geht es ihm darum, ein Muster zu entwerfen, wie man unter den Voraussetzungen einer „Geschichte globaler Formzirkulation“ mit einer solchen Gattung umgehen könne.
Ein literarisches Dorf spiegelt also keineswegs nur eine Lebensform, die sich Menschen gaben, als sie sesshaft wurden, und die sich danach kaum veränderte: ein Kollektiv, das vor allem besteht, weil es sich, mithilfe einer rudimentären Arbeitsteilung, selbst ernähren und verwalten kann (heute muss es, zumindest in den Industrieländern, genauso von außen ernährt werden wie die Stadt). Die Dorfgeschichte ist vielmehr eine junge und stets auch intellektuelle Errungenschaft. Dabei sei sie, so Marcus Twellmann, vor allem durch eine deutsche Tradition geprägt. Zwar habe es seit Mitte des 18. Jahrhunderts in England eine Literatur gegeben, die einerseits von einem Bewusstsein des Verlustes, andererseits von gesellschaftlichen Utopien wie dem „Musterdorf“ geprägt gewesen sei.
Das eigentliche Muster für die Dorfgeschichte habe allerdings erst Berthold Auerbach in seinen „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ aus dem Jahr 1843 geliefert, einem Buch, das zu seiner Zeit ein Weltbestseller war. Das literarische Dorf habe sich gebildet, als eine intellektuelle Elite sich über das niedere Volk beugte und ihm zu einer „realistischen Idylle“ (Friedrich Theodor Vischer) verhalf. Weil es dabei von vornherein um die Auseinandersetzung mit einer anderen Elite gegangen sei, nämlich der bürokratischen Macht in spätabsolutistischen Territorialstaaten (auch und vor allem bei Berthold Auerbach), sei die Dorfgeschichte auch politischer, als die gängige Vorstellung von der Flucht in die Idylle glauben lasse.
Mit solchen Gedanken setzt ein Projekt ein, das Marcus Twellmann in der Folge nur noch unter den Bedingungen einer mehr oder minder willkürlichen Auswahl verwirklichen kann. Er spricht über das türkische Dorf, wie es ab den Zwanzigern, unter der Herrschaft Kemal Atatürks zur Nation „erweckt“ werden sollte. Er setzt sich mit Ignazio Silones „Fontamara“ (1933) auseinander, dem Buch eines beginnenden Aufbegehrens einer bis dahin in jeder Beziehung unterworfenen italienischen Landbevölkerung. Ignazio Silone hatte mit diesem Werk ein Modell geschaffen, das der indische Schriftsteller Raja Rao für seinen Roman „Kanthapura“ (1938) übernahm – wobei sich diese Übernahme kaum verstehen lässt, wenn man nicht im Sinn behält, dass das indische Dorf im 19. Jahrhundert aus verwaltungspraktischen Gründen neu definiert wurde.
Große Aufmerksamkeit widmet Marcus Twellmann darüber hinaus dem Kommunismus (auch in Gestalt der ostdeutschen Agrarpolitik) und dessen Verhältnis zum Dorf, insbesondere im Hinblick auf das Gemeineigentum. Die Gegenstände ließen sich vermehren, weit über die Grenzen des Buches hinaus: So spielt das Dorf eine große Rolle auch in den skandinavischen Literaturen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Selma Lagerlöf, Knut Hamsun, Aleksis Kivi). Und welche Vorstellungen hegte die „völkische“ Literatur vom Dorf und seinen Geschichten?
Eines aber vermisst der Leser, der notwendigen Unvollständigkeit dieses Entwurfs zum Trotz, am Ende des Buches: ein Nachdenken darüber, warum ein Literaturwissenschaftler in diesen Zeiten ein Buch über „Dorfgeschichten“ schreibt. Denn der Grund für dieses Forschungsinteresse wird nicht darin liegen, dass das Dorf nun, da alles in die Stadt strebt, als literarischer oder theoretischer Ort gleichsam brachliegt (das ist nicht der Fall: siehe die vielen neuen Dorfgeschichten). So wie die Stadt sich verändert, so wandelt sich auch das Land: in die großen, trostlosen Flächen der Agrarindustrie auf der einen, in die Idyllen für erholungsbedürftige Großstädter auf der anderen Seite.
Jenseits dieser Teilung gibt es ein Land, mit dem keiner mehr etwas anfangen kann und das also an die Natur zurückfällt. Schon ist der Bauer fast verschwunden, in Schottland hat ein „Museum of Rural Life“ eröffnet, die Vereinzelung des Städters hat längst auch das Landleben erfasst. Einen gewaltigen Gegenstand hat Marcus Twellmann ergriffen, zu groß für ein einziges Buch, so gut es auch sein mag, und einer konzertierten Anstrengung würdig.
THOMAS STEINFELD
Marcus Twellmann: Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 516 Seiten, 39,90 Euro.
Das Muster schuf Berthold
Auerbach, seine Erzählungen
wurden ein Weltbestseller
Längst hat die Vereinzelung
auch das Landleben
ergriffen
Jedes Dorf ist eine Welt, Dorfliteratur immer auch Weltliteratur: Pescina in den Abruzzen, Zeichnung von Edward Lear.
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