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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2003

Dichter war früher
Seit Will Self keine Drogen mehr nimmt, schreibt er nur noch düsterer

Die Tage verlungerte er im Dunkel einer Tiefgarage, sah die Wagen die Betonspirale rauf- und runterkurven und wartete. Wartete mit fiebriger Nervosität. Irgendwann würde sein Dealer kommen, das Glück im Handschuhfach. Und dann, sobald er sich das Zeug endlich in die Venen gespritzt hatte, wäre alles gut: Es würde ausreichen, Will Self zu sein. Er würde in sich zusammensinken wie ein abgefüttertes Baby nach einem satten Rülpser, und danach würde er wieder anfangen zu warten.

Er hatte genug im Kopf, das war es nicht. Sogar sehr viel mehr als die meisten. Seine Gedanken tanzten Cancan in seinem Schädel, und daran war nicht bloß der Rausch schuld. Der sortierte die Dinge eher, erlöste ihn von der Gier, vom ewigen Wollen. Man wird nicht Junkie, man ist einer. Von Anfang an. Noch bevor man zum ersten Mal Heroin aufkocht. Noch bevor man sich dagegen entscheiden kann. Will Self war ein Junkie. Ist einer. Immer gewesen. Einer, der nichts mehr begehrt als die Droge. Auch wenn er seit fast drei Jahren clean ist. Ihretwegen hat er den Verstand verloren, 1997, als er aufs Klo schlich - schnell ein wenig von dem braunen Versprechen wegschnupfen. Das sollte ihn seinen Reporterjob beim "Observer" kosten, denn es war nicht irgendein Klo, sondern das des britischen Premierministers. In John Majors Wahlkampfjet. Voll wichtiger Leute, voller Journalisten, die in den Wochen darauf jede Menge fette, böse Schlagzeilen für ihn parat halten sollten, die vor seinem Haus lauerten und im Groucho Club in Soho oder wo er damals sonst bekanntermaßen herumhing.

Aber oft hat Will Self auch seinen Verstand zusammengehabt und sich ganze Tage und Nächte an den Computer gesetzt. Dann hat er andere Welten in die Tastatur gehämmert, während das Heroin wirkte, das Kokain, Haschisch, LSD, Speed, der Scotch, alles, was er intus haben mußte, wenn das Blut vom Herzen zum Hirn rauschen sollte und zurück.

Kein Wunder, daß seine Bücher seltsame Kopfgeburten in die Welt setzten: einen Rugbyspieler, dem in der Kniekehle eine Vagina wächst; ein Neugeborenes, das anfängt zu sprechen wie ein deutscher Manager; ein Affe, der glaubt, er sei Sigmund Freud.

Sein im Frühjahr auf deutsch erschienener Roman "Wie Tote leben" sei sein erstes Buch gewesen, das, sagt Will Self, in einem rundum nüchternen Gehirn entstanden ist. Zuerst fürchtete er, ohne Droge gehe es nicht, doch wurde er weder heiterer noch optimistischer oder weniger morbid. Es macht keinen Unterschied.

An diesem Abend steht Will Self, Englands berühmtester Junkie, seit seinem Debüt vor elf Jahren "the baddest bad boy" der Londoner Literaturszene, am Bahnhof Paddington und sieht erschöpft aus. Wie einer, dem alles zur Strapaze wird; die fast zwei Meter Körper in einen schwarzen Anzug gesteckt, das pferdige Gesicht zur Totengräbermiene gefroren, ein langer Jammer. Nachmittags war er tatsächlich auf der Beerdigung eines Bekannten, daher der Anzug. Seine Stimme ist tief und kommt von weit her, eine Radiostimme. Das Leder seiner Richard-James-Zugstiefeletten ist abgewetzt und brüchig wie sein Gesicht. Das Schlurfende, das Gebeugte seiner Gestalt läßt den 41jährigen wie eine Mischung aus John Lurie und Karl Valentin aussehen; "a bit scruffy", sagen die Briten, ein bißchen verlottert, auf charmante Art.

Er ist unterwegs Richtung "Literary Festival Swindon", der Zug fährt los, aber Will Self scheint wie festgenagelt. Sein Blick ist leer und stumpf wie der jener Typen, die einen in den Hallen großer Bahnhöfe um ein paar Cent anhauen und bei denen man ahnt, wofür sie die Almosen anlegen werden. Merkwürdig zeitlupenhaft sind seine Bewegungen, doch das liege nur an seiner enormen Müdigkeit, das Baby, sein Sohn Luther, habe die Nacht durchgeschrieen. Seine wilden Partyzeiten seien vorbei, sagt er, er gehe nicht mehr aus, schon damit er nicht in Versuchung gerate. Er sei ein Familienvater mit einem ganz und gar "mittelmäßigen Leben", einer Exfrau, vier Kindern und einer großartigen Frau, der "Independent"-Starkolumnistin Deborah Orr. Man könne nicht bis zum bitteren Ende der "zornige, junge Mann" bleiben, selbst, wenn der nie Pose war. Und dann sitzt Will Self auf der kleinen Bühne des kleinen Swindon Arts Centre und wird von einer aufgeregten Literaturprofessorin mit viel Ehrfurcht in den Fragen interviewt. Ist auf einmal wie angeknipst, wie der Stand-up-Comedian, der sich vor seinem Auftritt nur eine Auszeit genommen hat, zum Besinnen, damit ihm jetzt lässig ein kluger Witz nach dem anderen aus dem Mund fallen kann. Er flirtet mit dem Provinzpublikum, obwohl es ihn in Wahrheit nicht die Bohne interessiert; er gibt Autogramme und hat für jeden Fan ein nettes Wort übrig; er geht sogar noch mit der Professorin beim Italiener um die Ecke was essen: trinkt Mineralwasser, ist unterhaltsam, offen, aufmerksam, als könne er sich gar keinen besseren Abend denken.

"Ich bin in England sehr berühmt", stellt Will Self fest, "auch wenn ich hier nicht riesige Mengen Bücher verkaufe." Und macht einen so aufgeräumten Eindruck, daß man sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie er auch schon war. Kaputt, eine lebende Leiche. "Wie Tote leben" sei seine Rettung gewesen, sagt er. Ohne diesen Roman hätte er seinen Selbstmord weiterbetrieben; es fehlte nicht mehr viel. "Ich war unglaublich krank, hatte Überdosen, mein Immunsystem war zusammengebrochen, ich war ganz unten."

Er hatte einiges dafür getan, ganz unten anzukommen. Mit zwölf begann er, Dope zu rauchen, mit vierzehn hatte er seine Stammpubs in Hampstead, seinen ersten Schuß setzte er sich mit siebzehn. Als er zum Politik- und Philosophiestudium nach Oxford ging, gab es keine Sekunde, in der er nicht von irgend etwas high war. Sein damaliger Mitbewohner erzählt, daß Will Self sein Abschlußjahr an der Universität damit zubrachte, sich mit Kant und einer Spritze zu verkriechen. Seine Punkband hieß "Will Self and the Abusers".

Als er 27 Jahre alt war, starb seine Mutter, und er hing noch immer an der Nadel. Sein Leben bis dahin schien ihm ein "brillanter Fehler" zu sein, er war in fast allem gescheitert, jedoch, da war er sich sicher, auf höchstem Niveau. Zwar hatte er in den Achtzigern mal mit dem Saufen und Fixen aufgehört, aber das war, bevor er zu schreiben begann. Nun war Schreiben "alles, was ich wollte". Abgesehen von Sprit, Speed und anderem Zeug.

Damit gelang es ihm, der Düsternis für Minuten, für Stunden zu entkommen, obwohl er sie nie ganz loswerden konnte. Schon als Kind lieferten die Ärzte die verschiedensten Erklärungen für seine Abgründigkeit: Mal hieß es, er sei hyperaktiv, dann manisch-depressiv, später mit neunzehn eine "Borderline-Persönlichkeit". Seine eigene Diagnose ist simpler: "Ich bin so normal wie alle anderen, aber ich bin ein Drogenabhängiger." Mittlerweile schreibt er, wann immer er kann, fünfhundert Wörter die Stunde. Die Literatur und der Rausch, bei Will Self zwei Seiten derselben Medaille. Sie lassen das Leben schimmern, machen es größer, verwegener, strahlender. Dunkler und heller. "Drogen geben dir das Gefühl, du seist lebendig, weil du durch sie dein Leben bedrohst, andererseits killst du mit ihnen unangenehme Emotionen - zum Schluß vielleicht dich selbst."

Am allermeisten vermisse er heute die Selbstgenügsamkeit des Rausches, sagt Will Self - "du bist allein mit dir, und das langt dir vollkommen." Bizarre Phantasien lassen ihn abtauchen, literarische wie rauschhafte, sind zugleich sein Schnorchel zurück an die Oberfläche. Wahrscheinlich ist das Leben dann Momente lang so, wie Oscar Wilde gesagt hat, "ein Traum, der uns vom Schlafen abhält". Wilde hat ihm nun die Vorlage zu einem besonderen Albtraum geliefert: Gerade kam in England Will Selfs neuer Roman "Dorian" heraus. Der Titelheld treibt sich in der Schwulenszene der frühen achtziger Jahre herum, ein schamloser, schöner Junge, der unberührt von Alter und Krankheit bleibt, während an seiner Stelle sein Videobild altert und alle anderen dahingerafft werden. Das Gefühl, unsterblich zu sein, macht ihn zum Sadisten, der mordet und seine Liebhaber vorsätzlich infiziert. Seine "Dorian-Gray-Imitation" sei so ziemlich das Schwärzeste, was er je geschrieben habe, sagt Will Self. Aber er habe sowieso noch nie ein Happy-End geschrieben.

Auf einmal ist es Mitternacht, und die Schnellzüge nach London sind alle weg. Er hält sich nicht auf, darüber zu stöhnen, daß die Rückfahrt eine Stunde länger dauern wird; er faltet sich zusammen wie ein Akkordeon und harrt aus.

Er weiß ja, wie das geht.

ANUSCHKA ROSHANI

Will Self: "Dorian", bisher nur auf englisch erschienen bei Viking/Penguin Books

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