Da ist der kränkelnde, dreißig Jahre ältere Ehemann, ein jüdischer Künstler, da sind die drei Töchter mit Essstörungen und Pubertätssorgen, die kranken Eltern, und das Ganze im ständigen Hin und Her zwischen Kalifornien und Japan, wo die Autorin eine berühmte Dichterin ist. Der Alltag einer Frau, die alle Mühe hat, ihre Rollen als einzige Tochter, als Ehefrau und Mutter, als Schriftstellerin und als Intellektuelle auszubalancieren. Ein Leben voller Energie und Nachdenklichkeit, ein Leben zwischen den Kulturen, Generationen, dem vertrauten Gestern und dem lebendigen Heute. Eindringliche Stimmungen und kompakte Naturschilderungen wechseln sich ab mit absurden Situationen. Davon berichtet Hiromi Ito in ihrem ganz eigenen, stark vom mündlichen Erzählen geprägten Ton, mit Anklängen an Märchen, buddhistische Legenden, Literatur aus Ost und West, bis hin zu moderner Lyrik, Rap und Werbeslogans.
Kein Wunder, dass Japans bekannteste Frauenaktivistin, die Soziologin Chizuko Ueno, in ihrem Nachwort zum Roman schrieb: »In der Sackgasse? Da hilft nur eins - Hiromi Ito!«
Kein Wunder, dass Japans bekannteste Frauenaktivistin, die Soziologin Chizuko Ueno, in ihrem Nachwort zum Roman schrieb: »In der Sackgasse? Da hilft nur eins - Hiromi Ito!«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2021Immer Tiger Balm zur Hand
Karma und Eltern wollen ständig gepflegt sein: Hiromi Itos philosophischer Familienroman "Dornauszieher"
Die 1955 in Tokio geborene Hiromi Ito ist eine der provokantesten und kreativsten feministischen Stimmen Japans. Seit den späten Siebzigerjahren erregte die als "Schamanin der Poesie" bezeichnete Autorin mit performanceartigen Lesungen Aufsehen. Frühe Werke wie "Territorialtheorien 1+2" oder "Das Medium und sein Deuter" sind Etüden über Sinn und Sinnlichkeit, Körperlichkeit und die condition féminine. Seit dem Umzug nach Kalifornien, 1997 mit ihrem zweiten Mann, einem englischen Künstler, ergänzen noch der Status als Migrantin, amerikanische Folklore ("Coyote Song"), aber auch altes asiatisches Kulturgut ("Lesarten des Herz-Sutras") ihr Repertoire.
Die spätere Ito ist scheinbar introspektiver. Auch ihr im Original 2007 erschienener Roman "Dornauszieher" kreist eher um Senilität als um Sexualität, um Probleme der superalten japanischen Gesellschaft (für 2025 wird dort ein Mangel von 377 000 Pflegekräften prognostiziert) und Verwaltung von Pflege.
Stark autobiographisch rekapituliert Ito ein transpazifisches Leben zwischen Zeitzonen, Kontinenten und Kulturen. Nachdem die Eltern in Kumamoto hilfsbedürftig geworden sind, jettet die im Tokio-Dialekt "Shiromi" genannte Erzählerin zwischen den Vereinigten Staaten und Japan hin und her. Im Crescendo dieser Kalamitäten muss sich ihr dreißig Jahre älterer Mann wegen Herzproblemen in Kalifornien operieren lassen, als Shiromi gerade in Japan weilt. Die Krankenhaus-Odyssee der im Rollstuhl sitzenden Mutter, der demente Vater, der streitlustige Ehemann, die pubertierenden Töchter mit Essstörungen und die unfallanfälligen Haustiere sorgen für akkumuliertes Leid. Ito verfängt sich im Netz ihrer Verpflichtungen zwischen westlicher Priorität der Partnerschaft und Kindes-Pietät in Japan.
Der Roman lebt vom Kontrast zwischen dem buddhistischen Leitmotiv eines Meers der Qualen und dem Humor, mit dem die Erzählerin ihre Situation schultert: etwa wenn Shiromi den in westlicher Streitkultur geschulten atheistischen, No-Theater und Ozu-Filme hassenden Gatten ("Wenn er spricht, pickt er genüsslich mein holpriges Englisch wie mit Stäbchen auf und wirft es ins heiße Tempura-Öl") mit Schweigen straft oder ihn (wie in den Mythen die Göttin Izanami ihren Gefährten) mit Pfirsichen als "Metaphern" bewirft. Oder ihrem blonden Masseur erklärt: "Wir Asiaten haben immer Tiger Balm zur Hand."
Der westlich-männlich-rationalen Welt steht im Roman ein weiblich-spirituell-schamanisches Universum gegenüber. Wie Itos Großmutter war die von Shiromi ein Medium, und die Erzählerin vergleicht sich mit einer Füchsin in Menschengestalt. Sehnsuchtsort für Generationen von Frauen in Itos realer Familie war der Tempel Koganji im Tokioter Stadtteil Sugamo: Dort wird ein "Dornauszieher" genannter Bodhisattwa verehrt, dem heilende Kräfte zugesprochen werden. Die kann man durch Zufächeln von Rauch aus einem Räucherkessel akquirieren oder indem man eine Statue des Bodhisattwa wäscht. In den Krankenhäusern Kumamotos, wo Shiromis Mutter "das Piepsen der Instrumente" umfängt, symbolisiert ein Talisman aus dem Koganji, den die Tochter ihr mitbringt, den "Geheimcode" Sugamo als Weisheit des alten Japans.
Neben Shiromis Ausflügen nach Sugamo orchestrieren Reisen zu Dichtertreffen, historische Urszenen wie die Seeschlacht von Dannoura oder Mammutbäume im Sequoia-Nationalpark die Identitätssuche der Erzählerin. Alltägliches kippt ins Surreale, wenn ein Dichter sich plötzlich zum Bodhisattwa wandelt. Oder beim Ausflug zur Westspitze von Amakusa ein "flimmerndes Gewimmel" von Totengeistern am Horizont als Wink vom "Reinen Land" erscheint, dem buddhistischen Paradies.
Shiromi vergleicht ihr Herumjetten mit der Tätigkeit eines Wandermönches. Während sich das spirituelle Interesse ihrer amerikanisierten Tochter Aiko, die sich in Japan rasch ein Tamagotchi kauft, aufs Sammeln von "Gotchi Points" als Karma-Guthaben beschränkt, begreift Shiromi beim Besuch eines No-Stücks, dass der wahre Gewinn des Wanderns darin liege, zu einer Kraft zu werden, die anderen hilft - und dadurch auch sich selbst. So ist der mit Anspielungen auf Weltliteratur - der in einer Traumsequenz entladene Zorn von Pilgerinnen auf den atheistischen Gatten verweist auf den Furor der Anhängerinnen des Dionysos in Euripides' "Bacchantinnen" - gespickte, von Irmela HijiyaKirschnereit fachkundig übersetzte Roman eine wunderbare Resilienz-Erzählung. Anrührend und ergreifend beschwört Ito das Bewahren von Würde und Emanzipationen des Humanen in den Transitzonen des Lebens. STEFFEN GNAM
Hiromi Ito: "Dornauszieher". Der fabelhafte Jizo von Sugamo. Roman.
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 336 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karma und Eltern wollen ständig gepflegt sein: Hiromi Itos philosophischer Familienroman "Dornauszieher"
Die 1955 in Tokio geborene Hiromi Ito ist eine der provokantesten und kreativsten feministischen Stimmen Japans. Seit den späten Siebzigerjahren erregte die als "Schamanin der Poesie" bezeichnete Autorin mit performanceartigen Lesungen Aufsehen. Frühe Werke wie "Territorialtheorien 1+2" oder "Das Medium und sein Deuter" sind Etüden über Sinn und Sinnlichkeit, Körperlichkeit und die condition féminine. Seit dem Umzug nach Kalifornien, 1997 mit ihrem zweiten Mann, einem englischen Künstler, ergänzen noch der Status als Migrantin, amerikanische Folklore ("Coyote Song"), aber auch altes asiatisches Kulturgut ("Lesarten des Herz-Sutras") ihr Repertoire.
Die spätere Ito ist scheinbar introspektiver. Auch ihr im Original 2007 erschienener Roman "Dornauszieher" kreist eher um Senilität als um Sexualität, um Probleme der superalten japanischen Gesellschaft (für 2025 wird dort ein Mangel von 377 000 Pflegekräften prognostiziert) und Verwaltung von Pflege.
Stark autobiographisch rekapituliert Ito ein transpazifisches Leben zwischen Zeitzonen, Kontinenten und Kulturen. Nachdem die Eltern in Kumamoto hilfsbedürftig geworden sind, jettet die im Tokio-Dialekt "Shiromi" genannte Erzählerin zwischen den Vereinigten Staaten und Japan hin und her. Im Crescendo dieser Kalamitäten muss sich ihr dreißig Jahre älterer Mann wegen Herzproblemen in Kalifornien operieren lassen, als Shiromi gerade in Japan weilt. Die Krankenhaus-Odyssee der im Rollstuhl sitzenden Mutter, der demente Vater, der streitlustige Ehemann, die pubertierenden Töchter mit Essstörungen und die unfallanfälligen Haustiere sorgen für akkumuliertes Leid. Ito verfängt sich im Netz ihrer Verpflichtungen zwischen westlicher Priorität der Partnerschaft und Kindes-Pietät in Japan.
Der Roman lebt vom Kontrast zwischen dem buddhistischen Leitmotiv eines Meers der Qualen und dem Humor, mit dem die Erzählerin ihre Situation schultert: etwa wenn Shiromi den in westlicher Streitkultur geschulten atheistischen, No-Theater und Ozu-Filme hassenden Gatten ("Wenn er spricht, pickt er genüsslich mein holpriges Englisch wie mit Stäbchen auf und wirft es ins heiße Tempura-Öl") mit Schweigen straft oder ihn (wie in den Mythen die Göttin Izanami ihren Gefährten) mit Pfirsichen als "Metaphern" bewirft. Oder ihrem blonden Masseur erklärt: "Wir Asiaten haben immer Tiger Balm zur Hand."
Der westlich-männlich-rationalen Welt steht im Roman ein weiblich-spirituell-schamanisches Universum gegenüber. Wie Itos Großmutter war die von Shiromi ein Medium, und die Erzählerin vergleicht sich mit einer Füchsin in Menschengestalt. Sehnsuchtsort für Generationen von Frauen in Itos realer Familie war der Tempel Koganji im Tokioter Stadtteil Sugamo: Dort wird ein "Dornauszieher" genannter Bodhisattwa verehrt, dem heilende Kräfte zugesprochen werden. Die kann man durch Zufächeln von Rauch aus einem Räucherkessel akquirieren oder indem man eine Statue des Bodhisattwa wäscht. In den Krankenhäusern Kumamotos, wo Shiromis Mutter "das Piepsen der Instrumente" umfängt, symbolisiert ein Talisman aus dem Koganji, den die Tochter ihr mitbringt, den "Geheimcode" Sugamo als Weisheit des alten Japans.
Neben Shiromis Ausflügen nach Sugamo orchestrieren Reisen zu Dichtertreffen, historische Urszenen wie die Seeschlacht von Dannoura oder Mammutbäume im Sequoia-Nationalpark die Identitätssuche der Erzählerin. Alltägliches kippt ins Surreale, wenn ein Dichter sich plötzlich zum Bodhisattwa wandelt. Oder beim Ausflug zur Westspitze von Amakusa ein "flimmerndes Gewimmel" von Totengeistern am Horizont als Wink vom "Reinen Land" erscheint, dem buddhistischen Paradies.
Shiromi vergleicht ihr Herumjetten mit der Tätigkeit eines Wandermönches. Während sich das spirituelle Interesse ihrer amerikanisierten Tochter Aiko, die sich in Japan rasch ein Tamagotchi kauft, aufs Sammeln von "Gotchi Points" als Karma-Guthaben beschränkt, begreift Shiromi beim Besuch eines No-Stücks, dass der wahre Gewinn des Wanderns darin liege, zu einer Kraft zu werden, die anderen hilft - und dadurch auch sich selbst. So ist der mit Anspielungen auf Weltliteratur - der in einer Traumsequenz entladene Zorn von Pilgerinnen auf den atheistischen Gatten verweist auf den Furor der Anhängerinnen des Dionysos in Euripides' "Bacchantinnen" - gespickte, von Irmela HijiyaKirschnereit fachkundig übersetzte Roman eine wunderbare Resilienz-Erzählung. Anrührend und ergreifend beschwört Ito das Bewahren von Würde und Emanzipationen des Humanen in den Transitzonen des Lebens. STEFFEN GNAM
Hiromi Ito: "Dornauszieher". Der fabelhafte Jizo von Sugamo. Roman.
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 336 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam schätzt die frühe Hiromi Ito für ihre "Provokation", die späte indes für ihre "Introspektion". Ito wurde seit den Siebzigern für ihre Performances und feministischen Werke bekannt und als "Schamanin der Poesie" bezeichnet, seit den Neunzigern lebt sie mit ihrem Mann, einem englischen Künstler, in Kalifornien, erläutert der Kritiker. In diesem Referenzrahmen bewegt sich dieser 2007 im Original erschienene und autobiografisch geprägte Roman, fährt er fort: Ito erzählt von einem Leben zwischen den Kontinenten und Kulturen, ihre Titelheldin Shiromi pflegt ihre Eltern in Japan, während ihr Mann in Kalifornien am Herzen operiert wird. Wie die Autorin "westlich-männlich-rationale" Welt und "weiblich-spirituell-schamanisches Universum" gegeneinanderschneidet, während ihre Heldin wie ein "Wandermönch" herumjettet, findet Gnam beeindruckend: Brillant, wie sie No-Theater, Ozu-Filme oder Euripides' "Bacchantinnen", Alltägliches und Surreales miteinander verknüpft, lobt er. Ein bewegender "Resilienzroman", der von Irmela Hijiya-Kirschnereit gekonnt übersetzt wurde, schließt Gnam.
© Perlentaucher Medien GmbH
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