»Eine neue Art amerikanisches Epos.« The New York Times
Jacquie ist endlich nüchtern und will zu der Familie zurückkehren, die sie vor Jahren verlassen hat. Dene sammelt mit einer alten Kamera Geschichten von indianischem Leben. Edwin sucht seinen Vater. Und Orvil will zum ersten Mal den Tanz der Vorfahren tanzen. Ihre Leben sind miteinander verwoben und sie sind zum großen Powwow in Oakland gekommen, um ihre Traditionen zu feiern. Doch auch Tony ist dort, und er ist mit dunklen Absichten gekommen. 'Dort dort' ist ein bahnbrechender Roman, der die Geschichte der Native Americans neu erzählt und ein Netz aufwühlend realer Figuren aufspannt, die alle an einem schicksalhaften Tag aufeinandertreffen.
Jacquie ist endlich nüchtern und will zu der Familie zurückkehren, die sie vor Jahren verlassen hat. Dene sammelt mit einer alten Kamera Geschichten von indianischem Leben. Edwin sucht seinen Vater. Und Orvil will zum ersten Mal den Tanz der Vorfahren tanzen. Ihre Leben sind miteinander verwoben und sie sind zum großen Powwow in Oakland gekommen, um ihre Traditionen zu feiern. Doch auch Tony ist dort, und er ist mit dunklen Absichten gekommen. 'Dort dort' ist ein bahnbrechender Roman, der die Geschichte der Native Americans neu erzählt und ein Netz aufwühlend realer Figuren aufspannt, die alle an einem schicksalhaften Tag aufeinandertreffen.
buecher-magazin.deWenn es dort kein dort mehr gibt, wie entkommt die Identität dann dem kollektiven Trauma? Zwölf Menschen werden am Anfang vorgestellt mit Name und Herkunft. Sie alle sind Native Americans und leben im Oakland des 21. Jahrhunderts. Tommy Orange, selbst Mitglied der Cheyenne and Arapaho Tribes, ist ein tollkühner Erzähler. Er wirft uns hinein in rasant geschnittene Momentaufnahmen dieser allesamt versehrten Menschen und schafft es doch, jede Figur mit einem ganz eigenen Sound zu versehen. Da ist der 21-jährige Tony, der sein angeborenes fetales Alkoholsyndrom Drome nennt und für Octavio mit Drogen dealt. Opal, die für ihre Schwester Jacquie Red Feather deren drei Enkel aufzieht. Davon der 14-jährige Orvil, der den Tanz seiner Vorfahren mit YouTube trainiert. Dene, der in seinem ersten Dokumentarfilmprojekt die Geschichten von Native Americans aus Oakland aufzeichnet. Blue, die das Powwow-Komitee leitet, unterstützt vom jungen Edwin, der seinen indianischen Vater sucht. „Bleiben“, „Heimkehren“, „Zurückfordern“ heißen die drei Buchteile, die alle auf das große Finale, den Big Oakland Powwow hinführen. Hier fließen ihre löchrigen und kaputten Lebensläufe zusammen, doch nicht alle kommen wie Dene oder Orvil, um die Traditionen ihrer Vorfahren zu feiern.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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Kein leichter Stoff, doch voller literarischer Wucht und heiligem Zorn. Ferien-Brigitte, Sommer 2021
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2019Nimm deinen Namen, verfolge ihn zurück
Kein Klagelied, kein Triumphmarsch: Tommy Orange hat mit "Dort Dort" ein starkes Debüt über Amerikas Ureinwohner vorgelegt.
Dies ist ein Gegenwartsroman, auch wenn er weder in der Gegenwart noch mit Romanhaftem beginnt. "Massaker als Prolog" steht über einer der essayistischen Miniaturen am Anfang von "Dort Dort". Keine Fiktion ist notwendig, um die vulgäre körperliche Gewalt darzustellen, die Nordamerikas ersten Bewohnern über Jahrhunderte zugefügt wurde. Manhattan, 1637: Um ein "erfolgreiches Massaker" zu feiern, werden Köpfe von Pequot "wie Fußbälle durch die Straßen geschossen". Plymouth, 1676: Der Kopf des Wampanoag-Häuptlings Metacomet (King Philip) wird auf eine Lanze gespießt und ein Vierteljahrhundert als Sehenswürdigkeit ausgestellt. Wir kennen diese Geschichten, selbst wenn wir sie nicht gelesen haben. Sie handeln vom großen indianischen Elend, angerichtet durch weiße Geldgier und weißen Rassismus. Sie sind wahr.
Aber nein, in diesem Buch geht es nicht um Opfer, nicht um Sand Creek, Wounded Knee oder traurige Reservate - sondern um ein gutes Dutzend indianischer Bewohner von Oakland, Kalifornien, heute. Sie wollen kein Mitleid, aber auch keine Bewunderung. "Macht nicht den Fehler, uns zäh zu nennen", mahnt eine der Miniaturen. "Nicht zerstört worden zu sein, nicht aufgegeben zu haben, überlebt zu haben ist kein Ehrenzeichen. Würdet ihr das Opfer eines Mordversuchs zäh nennen?" So klingt Kunst, die sich weigert, ein Klagelied zu sein, und sich doch alles andere als triumphal fühlt.
Mal in erster, mal in zweiter, mal in dritter Person erzählt Tommy Orange in seinem bewegenden Debütroman von Menschen, die sich "Natives" nennen oder "Indians" oder "Native American Indians". Einige kennen sich schon, andere treffen erst bei dem Powwow zusammen, auf das die Handlung zustrebt.
Tony Loneman, mit dem die Erzählung beginnt, leidet an fetalem Alkoholsyndrom, noch so ein biographischer Prolog. Über sein Umfeld als Drogendealer gelangen Waffen aus dem 3D-Drucker in seine Hände. Auf dem Powwow, weiß Tony, wird viel Bargeld im Umlauf sein. Und dann steht da diese brutale Vorausdeutung: "Die Tragik des Ganzen wird unbeschreiblich sein, die Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten darum kämpfen, als Volk der Gegenwart anerkannt zu werden, modern und relevant, lebendig, nur um dann mit Federschmuck im Gras zu sterben."
Und doch hat dieser Roman, der von der amerikanischen Kritik hoch gelobt wurde, etwas Linderndes, Hoffnungsvolles. "There there", das sind die tröstenden Worte, die man einem Kind zuflüstert, das sich die Knie aufgeschlagen hat: Ist schon gut. Gleichzeitig fungiert der Titel als Lokalverankerung, indem er Gertrude Steins Bemerkung zu ihrer (und Oranges) Heimatstadt Oakland zitiert: "Es gibt kein dort dort."
Ein Niemandsland, niemandes Land. Sind Natives unsichtbar, dort, wo die amerikanische Regierung sie lange nicht wollte: in der Stadt? "Früher nannten sie uns Bürgersteigindianer . . . Äpfel. Ein Apfel ist außen rot und innen weiß." So fühlt sich der vierzehnjährige Orvil Red Feather, der endlich den Mut zusammengenommen hat, zu seinem ersten Powwow zu gehen. Seit er im Fernsehen einen indianischen Tänzer erblickt hat, erkundet er zaghaft seine Cheyenne-Identität. Und kann beim Powwow doch nicht anders, als in sich und den anderen Tänzern "als Indianer verkleidete Indianer" zu sehen.
Das ist für Tommy Orange das Paradox moderner indigener Literatur: Orvils Geschichte kann nicht vorwärts, ohne sich umzudrehen. Also führt sie zurück, zu Orvils entfremdeter Großmutter Jacquie. 1970 besetzt diese als Jugendliche mit ihrer Familie die Insel Alcatraz, wo indianische Aktivisten gegen die Assimilationspolitik der Regierung protestieren. Dort lernt sie einen Jungen kennen. Sie trinken zu viel, kommen sich näher - bis Jacquie sagt, sie habe genug, er solle aufhören. Er hört nicht auf.
Die mit jedem Kapitel wechselnde Erzählperspektive ist deshalb so wirkungsvoll, weil durch sie auch die Gewalt und die Missverständnisse zwischen Natives fokussiert werden. "We Indians often get ourselves wrong", schrieb kürzlich der Ojibwe-Autor David Treuer in seinem Buch "The Heartbeat of Wounded Knee". Orange hat das begriffen und findet eine bewundernswerte Balance zwischen selbstbewusstem Wortführer und stets noch lernendem Zuhörer. Der Fremddefinierung erteilt der 1982 geborene Autor eine flammende Absage, die als Roman hochspannend und als Essay im besten Sinne polemisch ist. Der Nachname des Autors erklärt sich dadurch, dass Behörden Indianern mitunter schlicht die Farbbezeichnungen amerikanischer Truppenverbände aufzwängten: Black, Brown, Orange.
Der große Zuhörer des Romans, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene, gehört, wie Orange, den Cheyenne- und Arapaho-Stämmen an und will auf dem Powwow Ureinwohner aus Oakland interviewen. In der Kommission, die ihm vorher ein Stipendium bewilligen soll, sitzt ein Skeptiker: der einzige Indianer. "Dene wusste, dass es der Native sein würde. Der wahrscheinlich nicht mal glaubt, dass Dene selbst einer ist."
Auch das ist die komplizierte Identität moderner Natives: Welches Schiedsgericht soll entscheiden, wer ein "echter" ist und wer ein "Pretendian"? Einer der Protagonisten hat eine Masterarbeit über Blutanteilsregelungen geschrieben; die umstrittene Methode des "blood quantum" wird noch heute von einigen Stämmen genutzt. Wer die amerikanische Politik verfolgt, weiß um die Aktualität der Debatte. Vergangenes Jahr ließ die Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren mittels eines DNA-Tests ermitteln, dass sie vor sechs bis zehn Generationen indianische Vorfahren hatte. Neulich hat sie sich für diese Rechnerei entschuldigt. Beschämender war Donald Trumps rassistische Bezeichnung Warrens als "Pocahontas", bei der er vermutlich den gleichnamigen Disney-Film vor Augen hatte - nur ein Beispiel für die Verzerrung, die Orange als "Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch" verurteilt.
Wie anders geht dieses Buch mit den Generationen um, die es umfasst: respektvoll und deshalb bereit, auf ein sauberes Happy End zu verzichten. Es blickt tief hinein ins indianische Bewusstsein. Einmal auch ins weiße: "Nimm nur deinen Nachnamen. Verfolge ihn zurück, und vielleicht findest du heraus, dass euer Weg mit Gold gepflastert war oder mit Fallen." Dieser Appell ist hierzulande mindestens so einleuchtend wie in den Vereinigten Staaten. Wir sind noch nicht fertig, sagt Tommy Orange. Wir sind gerade erst über den Prolog hinausgekommen.
CORNELIUS DIECKMANN
Tommy Orange:
"Dort Dort". Roman.
Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser
Berlin Verlag, Berlin 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Klagelied, kein Triumphmarsch: Tommy Orange hat mit "Dort Dort" ein starkes Debüt über Amerikas Ureinwohner vorgelegt.
Dies ist ein Gegenwartsroman, auch wenn er weder in der Gegenwart noch mit Romanhaftem beginnt. "Massaker als Prolog" steht über einer der essayistischen Miniaturen am Anfang von "Dort Dort". Keine Fiktion ist notwendig, um die vulgäre körperliche Gewalt darzustellen, die Nordamerikas ersten Bewohnern über Jahrhunderte zugefügt wurde. Manhattan, 1637: Um ein "erfolgreiches Massaker" zu feiern, werden Köpfe von Pequot "wie Fußbälle durch die Straßen geschossen". Plymouth, 1676: Der Kopf des Wampanoag-Häuptlings Metacomet (King Philip) wird auf eine Lanze gespießt und ein Vierteljahrhundert als Sehenswürdigkeit ausgestellt. Wir kennen diese Geschichten, selbst wenn wir sie nicht gelesen haben. Sie handeln vom großen indianischen Elend, angerichtet durch weiße Geldgier und weißen Rassismus. Sie sind wahr.
Aber nein, in diesem Buch geht es nicht um Opfer, nicht um Sand Creek, Wounded Knee oder traurige Reservate - sondern um ein gutes Dutzend indianischer Bewohner von Oakland, Kalifornien, heute. Sie wollen kein Mitleid, aber auch keine Bewunderung. "Macht nicht den Fehler, uns zäh zu nennen", mahnt eine der Miniaturen. "Nicht zerstört worden zu sein, nicht aufgegeben zu haben, überlebt zu haben ist kein Ehrenzeichen. Würdet ihr das Opfer eines Mordversuchs zäh nennen?" So klingt Kunst, die sich weigert, ein Klagelied zu sein, und sich doch alles andere als triumphal fühlt.
Mal in erster, mal in zweiter, mal in dritter Person erzählt Tommy Orange in seinem bewegenden Debütroman von Menschen, die sich "Natives" nennen oder "Indians" oder "Native American Indians". Einige kennen sich schon, andere treffen erst bei dem Powwow zusammen, auf das die Handlung zustrebt.
Tony Loneman, mit dem die Erzählung beginnt, leidet an fetalem Alkoholsyndrom, noch so ein biographischer Prolog. Über sein Umfeld als Drogendealer gelangen Waffen aus dem 3D-Drucker in seine Hände. Auf dem Powwow, weiß Tony, wird viel Bargeld im Umlauf sein. Und dann steht da diese brutale Vorausdeutung: "Die Tragik des Ganzen wird unbeschreiblich sein, die Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten darum kämpfen, als Volk der Gegenwart anerkannt zu werden, modern und relevant, lebendig, nur um dann mit Federschmuck im Gras zu sterben."
Und doch hat dieser Roman, der von der amerikanischen Kritik hoch gelobt wurde, etwas Linderndes, Hoffnungsvolles. "There there", das sind die tröstenden Worte, die man einem Kind zuflüstert, das sich die Knie aufgeschlagen hat: Ist schon gut. Gleichzeitig fungiert der Titel als Lokalverankerung, indem er Gertrude Steins Bemerkung zu ihrer (und Oranges) Heimatstadt Oakland zitiert: "Es gibt kein dort dort."
Ein Niemandsland, niemandes Land. Sind Natives unsichtbar, dort, wo die amerikanische Regierung sie lange nicht wollte: in der Stadt? "Früher nannten sie uns Bürgersteigindianer . . . Äpfel. Ein Apfel ist außen rot und innen weiß." So fühlt sich der vierzehnjährige Orvil Red Feather, der endlich den Mut zusammengenommen hat, zu seinem ersten Powwow zu gehen. Seit er im Fernsehen einen indianischen Tänzer erblickt hat, erkundet er zaghaft seine Cheyenne-Identität. Und kann beim Powwow doch nicht anders, als in sich und den anderen Tänzern "als Indianer verkleidete Indianer" zu sehen.
Das ist für Tommy Orange das Paradox moderner indigener Literatur: Orvils Geschichte kann nicht vorwärts, ohne sich umzudrehen. Also führt sie zurück, zu Orvils entfremdeter Großmutter Jacquie. 1970 besetzt diese als Jugendliche mit ihrer Familie die Insel Alcatraz, wo indianische Aktivisten gegen die Assimilationspolitik der Regierung protestieren. Dort lernt sie einen Jungen kennen. Sie trinken zu viel, kommen sich näher - bis Jacquie sagt, sie habe genug, er solle aufhören. Er hört nicht auf.
Die mit jedem Kapitel wechselnde Erzählperspektive ist deshalb so wirkungsvoll, weil durch sie auch die Gewalt und die Missverständnisse zwischen Natives fokussiert werden. "We Indians often get ourselves wrong", schrieb kürzlich der Ojibwe-Autor David Treuer in seinem Buch "The Heartbeat of Wounded Knee". Orange hat das begriffen und findet eine bewundernswerte Balance zwischen selbstbewusstem Wortführer und stets noch lernendem Zuhörer. Der Fremddefinierung erteilt der 1982 geborene Autor eine flammende Absage, die als Roman hochspannend und als Essay im besten Sinne polemisch ist. Der Nachname des Autors erklärt sich dadurch, dass Behörden Indianern mitunter schlicht die Farbbezeichnungen amerikanischer Truppenverbände aufzwängten: Black, Brown, Orange.
Der große Zuhörer des Romans, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene, gehört, wie Orange, den Cheyenne- und Arapaho-Stämmen an und will auf dem Powwow Ureinwohner aus Oakland interviewen. In der Kommission, die ihm vorher ein Stipendium bewilligen soll, sitzt ein Skeptiker: der einzige Indianer. "Dene wusste, dass es der Native sein würde. Der wahrscheinlich nicht mal glaubt, dass Dene selbst einer ist."
Auch das ist die komplizierte Identität moderner Natives: Welches Schiedsgericht soll entscheiden, wer ein "echter" ist und wer ein "Pretendian"? Einer der Protagonisten hat eine Masterarbeit über Blutanteilsregelungen geschrieben; die umstrittene Methode des "blood quantum" wird noch heute von einigen Stämmen genutzt. Wer die amerikanische Politik verfolgt, weiß um die Aktualität der Debatte. Vergangenes Jahr ließ die Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren mittels eines DNA-Tests ermitteln, dass sie vor sechs bis zehn Generationen indianische Vorfahren hatte. Neulich hat sie sich für diese Rechnerei entschuldigt. Beschämender war Donald Trumps rassistische Bezeichnung Warrens als "Pocahontas", bei der er vermutlich den gleichnamigen Disney-Film vor Augen hatte - nur ein Beispiel für die Verzerrung, die Orange als "Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch" verurteilt.
Wie anders geht dieses Buch mit den Generationen um, die es umfasst: respektvoll und deshalb bereit, auf ein sauberes Happy End zu verzichten. Es blickt tief hinein ins indianische Bewusstsein. Einmal auch ins weiße: "Nimm nur deinen Nachnamen. Verfolge ihn zurück, und vielleicht findest du heraus, dass euer Weg mit Gold gepflastert war oder mit Fallen." Dieser Appell ist hierzulande mindestens so einleuchtend wie in den Vereinigten Staaten. Wir sind noch nicht fertig, sagt Tommy Orange. Wir sind gerade erst über den Prolog hinausgekommen.
CORNELIUS DIECKMANN
Tommy Orange:
"Dort Dort". Roman.
Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser
Berlin Verlag, Berlin 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2019Buch des Zorns
Internetsucht, Fettsucht, fetales Alkoholsyndrom:
Tommy Oranges Roman über das Leben der Native Americans
VON HARALD EGGEBRECHT
Zwölf amerikanische Ureinwohner, zwölf Charaktere, zwölf Lebensgeschichten in vier Teilen erzählt: Bleiben; Zurückfordern; Heimkehren; Powwow – und alles ist ausgerichtet auf einen Zielpunkt, einen Termin, an dem die zwölf warum auch immer zusammentreffen werden, zumindest da sein werden: das Big Oakland Powwow. Es wird ein Termin der Hoffnungen, Wünsche, Überraschungen und dann auch des infernalischen, blutigen Ernstes.
Indianergeschichten von heute in aller Drastik und Kompromisslosigkeit des Benennens des andauernden Elends der Ureinwohner, der Natives, das der blutrünstig-totalen Landnahme durch die Weißen zu „verdanken“ ist. Aber dies ist kein Jammer- und Klagebuch, sondern eines des unmissverständlich brennenden Zorns, aber ohne die Protagonisten ideologisch oder politisch wohlfeil zu instrumentalisieren und so zu Pappfiguren zu verflachen.
Tommy Orange, 1982 in Oakland, Kalifornien, geboren und Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes, gibt jeder seiner Personen ihre ganz eigene Stimme, ihr je eigenes Denken und Fühlen. Sie hängen ihren traumatischen Familiengeschichten ebenso nach wie ihren bekifften Träumen oder anderen Drogen- und Alkoholbenebelungen und dem Wiedererwachen in die hässlich-harte Realität daraus. Tommy Orange gelingt es, jede seiner Figuren so individuell sprechen und agieren zu lassen, wie sich auch ihre Biografien bis zum Powwow grundverschieden darstellen. Es sind keine Frauen und Männer aus den Reservationshöllen der Native Americans mehr, sondern Stadtbewohner, von denen manche kaum mehr wissen, dass sie Native-Ursprünge haben.
Ein paar der „Helden“ seien vorgestellt: Die erste Stimme gehört dem 21-jährigen Tony Loneman mit Cheyenne-Vorfahren. Er hat ein angeborenes fetales Alkoholsyndrom, das er nur als „Drom“ bezeichnet und ihn furchtbar aussehen lässt: „Das eigene Gesicht im Spiegel, die meisten wissen gar nicht mehr, wie es überhaupt aussieht. (…) nur ich, ich weiß genau, wie mein Gesicht aussieht. Ich weiß, was es bedeutet. Meine Augenlider hängen runter, als wäre ich fertig, als wäre ich high, und mein Mund steht die ganze Zeit offen. Zwischen den einzelnen Teilen in meinem Gesicht ist zu viel Platz – Augen, Nase und Mund stehen so weit auseinander, als hätte sie ein Säufer beim Griff nach dem nächsten Schluck da hingeklatscht.“ Dass man ihn besser nicht entsetzt anschauen sollte, ist klar. „Ich finde, mein großer Körper ist der Ausgleich für mein Gesicht. (…) Und wenn ich aufstehe, wenn ich mich so groß mache, wie ich kann, verdammt groß, dann geht mir keiner auf den Sack.“ Seine Grandma Maxine nennt ihn eine „Medizinpersönlichkeit“, er sei selten, „und wenn es mal einen von uns gibt, sollen wir auch anders aussehen, weil wir eben anders sind.“ Um es vorwegzunehmen, Tony Loneman nimmt beim Powwow kein gutes Ende.
Edwin Black aus der Beziehung seiner weißen Mutter Karen mit dem Indianer Harvey, den er nicht kennt, hat mal geträumt, Schriftsteller zu werden, hat auch einen Master in Vergleichender Literaturwissenschaft gemacht, spezialisiert auf Native American Literature.
Doch statt aufzubrechen, wohnt er bei seiner Mutter, versackt vorm Internet und versucht vergeblich, aus seiner Fettsucht herauszukommen: „Kriegt uns das, was wir am meisten vermeiden wollen, am Ende doch, weil wir uns mit unserer Sorge zu sehr darauf konzentriert haben?“ Auf dem Powwow wird Edwin seinen Vater erstmals treffen.
Dene Oxendene will als Dokumentarfilmer ein Projekt seines verstorbenen Onkels verwirklichen und Natives aus Oakland und Umgebung vor der Kamera ihre Biografien erzählen lassen. Das Powwow bietet dafür eine gute Gelegenheit, doch als die Schüsse fallen, hat er einfach Glück, die Kugel bleibt in einem Pfahl seiner Kamerabude stecken, und er legt sich flach auf den Boden, als er sieht, wie „Calvin Johnson aus dem Powwow-Komitee mit einer weißen Pistole auf einen Typen, der am Boden liegt,“ schießt, „und links und rechts von ihm schießen noch zwei andere Typen“. Manche haben Pech, der 14-jährige Orvil Red Feather, der dicke Edwin und andere fangen Kugeln ein.
Tommy Oranges vor Energie glühender Roman hat eine musikalisch-filmische Struktur, er wirkt vom Ende her gesehen wie eine zwölfstimmige Fuge, die in furioser, sich beschleunigender Parallelmontage die Figuren dem katastrophischen Höhepunkt zutreibt. Blue, die das Big Oakland Powwow organisiert hat und bei Stiefeltern aufgewachsen ist, begegnet nun erstmals ihrer Mutter Jacquie Red Feather, die sie gleich nach ihrer Geburt zur Adoption freigab, weil Blue aus einer Vergewaltigung entstand. Und dieser Vater ist Harvey, den sie jetzt plötzlich neben der Mutter sitzen sieht. Neben solchen seelischen Schocks sind die Kugeln beim Überfall auf den Safe des Powwow geradezu banal in ihrer realen Tödlichkeit.
Tommy Orange breitet in „Dort dort“ eine bedrängende Fülle von Geschichten, Gesichten und Gesichtern, Gedanken und Träumen aus, die geprägt sind von jenem verhängnisvollen Zusammentreffen der weißen Eindringlinge mit den indigenen Amerikanern.
Mit eisiger Kälte stellt Tommy Orange die Vernutzung der Native Americans in Film, Fernsehen und Werbespots fest: „Der Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch. Von den obersten Spitzen Kanadas und Alaskas bis hinab zum äußersten Ende Südamerikas wurden Indianer entfernt und auf ein gefiedertes Bild reduziert.“ Dagegen setzt er die urbanen Indianer: „Die erste in der Stadt geborene Generation.“
Von ihr erzählt er in diesem ungemein fesselnden, bitterbösen, auch witzigen, dann plötzlich poetisch ausgreifenden Buch (von Hannes Meyer sehr überzeugend ins Deutsche gebracht) nie dick, pathetisch oder zeigefingerisch. Vielmehr klingt es in aller Dichte und Prägnanz knapp, rau, ja, grob und in einer Weise ansteckend ingrimmig sogar im Komischen, dass jedes Lachen rasch abreißt und im Halse stecken bleibt.
Tommy Orange: Dort dort. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin 2019. 288 Seiten, 22 Euro.
Viele Native Americans wissen
gar nicht mehr, dass
sie native Ursprünge haben
Die Sprache ist nie pathetisch
oder zeigefingerisch,
sondern knapp, rau, grob
„Meine Augenlieder hängen runter, als wäre ich fertig, als wäre ich high“: Tommy Oranges Figuren hängen traumatischen Familiengeschichte nach, sind häufig drogen- und alkoholsüchtig.
Foto:daniel acker/bloomerg
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Internetsucht, Fettsucht, fetales Alkoholsyndrom:
Tommy Oranges Roman über das Leben der Native Americans
VON HARALD EGGEBRECHT
Zwölf amerikanische Ureinwohner, zwölf Charaktere, zwölf Lebensgeschichten in vier Teilen erzählt: Bleiben; Zurückfordern; Heimkehren; Powwow – und alles ist ausgerichtet auf einen Zielpunkt, einen Termin, an dem die zwölf warum auch immer zusammentreffen werden, zumindest da sein werden: das Big Oakland Powwow. Es wird ein Termin der Hoffnungen, Wünsche, Überraschungen und dann auch des infernalischen, blutigen Ernstes.
Indianergeschichten von heute in aller Drastik und Kompromisslosigkeit des Benennens des andauernden Elends der Ureinwohner, der Natives, das der blutrünstig-totalen Landnahme durch die Weißen zu „verdanken“ ist. Aber dies ist kein Jammer- und Klagebuch, sondern eines des unmissverständlich brennenden Zorns, aber ohne die Protagonisten ideologisch oder politisch wohlfeil zu instrumentalisieren und so zu Pappfiguren zu verflachen.
Tommy Orange, 1982 in Oakland, Kalifornien, geboren und Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes, gibt jeder seiner Personen ihre ganz eigene Stimme, ihr je eigenes Denken und Fühlen. Sie hängen ihren traumatischen Familiengeschichten ebenso nach wie ihren bekifften Träumen oder anderen Drogen- und Alkoholbenebelungen und dem Wiedererwachen in die hässlich-harte Realität daraus. Tommy Orange gelingt es, jede seiner Figuren so individuell sprechen und agieren zu lassen, wie sich auch ihre Biografien bis zum Powwow grundverschieden darstellen. Es sind keine Frauen und Männer aus den Reservationshöllen der Native Americans mehr, sondern Stadtbewohner, von denen manche kaum mehr wissen, dass sie Native-Ursprünge haben.
Ein paar der „Helden“ seien vorgestellt: Die erste Stimme gehört dem 21-jährigen Tony Loneman mit Cheyenne-Vorfahren. Er hat ein angeborenes fetales Alkoholsyndrom, das er nur als „Drom“ bezeichnet und ihn furchtbar aussehen lässt: „Das eigene Gesicht im Spiegel, die meisten wissen gar nicht mehr, wie es überhaupt aussieht. (…) nur ich, ich weiß genau, wie mein Gesicht aussieht. Ich weiß, was es bedeutet. Meine Augenlider hängen runter, als wäre ich fertig, als wäre ich high, und mein Mund steht die ganze Zeit offen. Zwischen den einzelnen Teilen in meinem Gesicht ist zu viel Platz – Augen, Nase und Mund stehen so weit auseinander, als hätte sie ein Säufer beim Griff nach dem nächsten Schluck da hingeklatscht.“ Dass man ihn besser nicht entsetzt anschauen sollte, ist klar. „Ich finde, mein großer Körper ist der Ausgleich für mein Gesicht. (…) Und wenn ich aufstehe, wenn ich mich so groß mache, wie ich kann, verdammt groß, dann geht mir keiner auf den Sack.“ Seine Grandma Maxine nennt ihn eine „Medizinpersönlichkeit“, er sei selten, „und wenn es mal einen von uns gibt, sollen wir auch anders aussehen, weil wir eben anders sind.“ Um es vorwegzunehmen, Tony Loneman nimmt beim Powwow kein gutes Ende.
Edwin Black aus der Beziehung seiner weißen Mutter Karen mit dem Indianer Harvey, den er nicht kennt, hat mal geträumt, Schriftsteller zu werden, hat auch einen Master in Vergleichender Literaturwissenschaft gemacht, spezialisiert auf Native American Literature.
Doch statt aufzubrechen, wohnt er bei seiner Mutter, versackt vorm Internet und versucht vergeblich, aus seiner Fettsucht herauszukommen: „Kriegt uns das, was wir am meisten vermeiden wollen, am Ende doch, weil wir uns mit unserer Sorge zu sehr darauf konzentriert haben?“ Auf dem Powwow wird Edwin seinen Vater erstmals treffen.
Dene Oxendene will als Dokumentarfilmer ein Projekt seines verstorbenen Onkels verwirklichen und Natives aus Oakland und Umgebung vor der Kamera ihre Biografien erzählen lassen. Das Powwow bietet dafür eine gute Gelegenheit, doch als die Schüsse fallen, hat er einfach Glück, die Kugel bleibt in einem Pfahl seiner Kamerabude stecken, und er legt sich flach auf den Boden, als er sieht, wie „Calvin Johnson aus dem Powwow-Komitee mit einer weißen Pistole auf einen Typen, der am Boden liegt,“ schießt, „und links und rechts von ihm schießen noch zwei andere Typen“. Manche haben Pech, der 14-jährige Orvil Red Feather, der dicke Edwin und andere fangen Kugeln ein.
Tommy Oranges vor Energie glühender Roman hat eine musikalisch-filmische Struktur, er wirkt vom Ende her gesehen wie eine zwölfstimmige Fuge, die in furioser, sich beschleunigender Parallelmontage die Figuren dem katastrophischen Höhepunkt zutreibt. Blue, die das Big Oakland Powwow organisiert hat und bei Stiefeltern aufgewachsen ist, begegnet nun erstmals ihrer Mutter Jacquie Red Feather, die sie gleich nach ihrer Geburt zur Adoption freigab, weil Blue aus einer Vergewaltigung entstand. Und dieser Vater ist Harvey, den sie jetzt plötzlich neben der Mutter sitzen sieht. Neben solchen seelischen Schocks sind die Kugeln beim Überfall auf den Safe des Powwow geradezu banal in ihrer realen Tödlichkeit.
Tommy Orange breitet in „Dort dort“ eine bedrängende Fülle von Geschichten, Gesichten und Gesichtern, Gedanken und Träumen aus, die geprägt sind von jenem verhängnisvollen Zusammentreffen der weißen Eindringlinge mit den indigenen Amerikanern.
Mit eisiger Kälte stellt Tommy Orange die Vernutzung der Native Americans in Film, Fernsehen und Werbespots fest: „Der Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch. Von den obersten Spitzen Kanadas und Alaskas bis hinab zum äußersten Ende Südamerikas wurden Indianer entfernt und auf ein gefiedertes Bild reduziert.“ Dagegen setzt er die urbanen Indianer: „Die erste in der Stadt geborene Generation.“
Von ihr erzählt er in diesem ungemein fesselnden, bitterbösen, auch witzigen, dann plötzlich poetisch ausgreifenden Buch (von Hannes Meyer sehr überzeugend ins Deutsche gebracht) nie dick, pathetisch oder zeigefingerisch. Vielmehr klingt es in aller Dichte und Prägnanz knapp, rau, ja, grob und in einer Weise ansteckend ingrimmig sogar im Komischen, dass jedes Lachen rasch abreißt und im Halse stecken bleibt.
Tommy Orange: Dort dort. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin 2019. 288 Seiten, 22 Euro.
Viele Native Americans wissen
gar nicht mehr, dass
sie native Ursprünge haben
Die Sprache ist nie pathetisch
oder zeigefingerisch,
sondern knapp, rau, grob
„Meine Augenlieder hängen runter, als wäre ich fertig, als wäre ich high“: Tommy Oranges Figuren hängen traumatischen Familiengeschichte nach, sind häufig drogen- und alkoholsüchtig.
Foto:daniel acker/bloomerg
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Dieser Roman bietet keine Wohlfühllektüre, warnt Rezensent Eberhard Falcke. Tommy Orange erzählt in seinem grandiosen Debütroman vom Alltag der assimilierten Ureinwohner Amerikas und von ihrer brutalen Vergangenheit. Dabei gelingt es ihm, stets die Waage zu halten zwischen "sozialkritischer Anklage und nüchterner Bestandsaufnahme", zwischen Elend und Stolz seiner Figuren, zwischen Erzählung und Essay, so Falcke. Der Autor, der sich selbst den Chayenne und Arapaho-Stämmen zugehörig fühlt, hüte sich jedoch davor, seine Figuren als mitleiderregende Vertreter eines gemeinsamen Schicksals zu porträtieren. Stattdessen zeigt er sie als individuelle und facettenreiche Menschen, die sich ein möglichst gutes Leben zu erkämpfen versuchen, lobt Falcke, der "Dort dort" so differenzierend wie spannend findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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