Als Mystiker und Menschheitsproblematiker, Ersatzchristus, Russlanderneuerer, Verbrechensbekämpfer hat man Fjodor Michailowitsch Dostojewski jahrzehntelang gesehen und vereinnahmt. Doch wer war der große Russe wirklich? Nicht undenkbar, dass der Klassiker unter den Dichtern und Briefeschreibern im deutschsprachigen Raum bislang völlig falsch verstanden wurde. Weithin vergessen jedenfalls ist das besonnene und beinahe revolutionäre Wort Thomas Manns, in diesem Schwer-Romancier könne man einen "ganz großen Humoristen" erkennen - bei dem es vor allem eins gibt: viel zu lachen. Eckhard Henscheid, selbst schon als ein "von der Romantik verfeinerter Dostojewski" (FAZ) tituliert, macht sich daran, diesem Missstand abzuhelfen. Eine gleichermaßen geistreiche wie unterhaltsame Streitschrift, die nichts weniger als die Revision einer hochkulturellen Großtorheit im Sinn hat.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Selber lesen, meint Rezensent Edo Reents angesichts dieses auschließenden Pauschalhumorverdachts, den Eckhard Henscheid Dostojewski gegenüber äußert. Ausschließend den ganzen schönen Rest, wie Reents bedauernd feststellt. Dass Dostojewski Humor kann, möchte er dabei gar nicht in Abrede stellen, und der Autor belegt es. Aber muss man deshalb auch gleich die Psychologie, das Dramatische und alles, was sonst begeistert an Dostojewski über Bord werfen, fragt Reents. Nein, meint er, Thomas Mann hat den Russen besser gesehen, in all seiner Vielfalt nämlich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Lustigkeit gehört einfach dazu
Gekreuzigter oder Humorist? Eckhard Henscheid sucht den Großhumoristen in Dostojewski.
Von Edo Reents
Thomas Mann schrieb vor beiläufig siebzig Jahren etwas richtiges über Dostojewski: "Denn unter anderem war dieser Gekreuzigte ein ganz großer Humorist." Die Frage ist nur, was Dostojewski mehr war, Gekreuzigter oder Humorist. Eckhard Henscheid lauscht auf 280 Seiten "Dostojewskis Gelächter" und vermeldet energisch "die Entdeckung eines Großhumoristen" (Untertitel), ist aber so nobel, unter dem Humor-Aspekt Thomas Mann die Erstbesteigung dieses russischen Zentralmassivs zu gönnen, so dass korrekterweise von einer "Wiederentdeckung" zu sprechen wäre. Das Buch ist, wie jeder seiner nichtfiktionalen Texte, typisch Henscheid: originell im Stil, rechthaberisch im Gestus - der Schriftsteller, der es ihm wirklich recht machen kann, wird nach wie vor gesucht - und voller überraschender Meinungen.
Was gibt es bei Dostojewski denn nun zu lachen? Wer den Romancier als einen Russland- und/oder Gottsucher kennt, als einen vor keiner Erkenntnis zurückschreckenden Psychologen, der im Seelenleben nicht nur seiner Protagonisten, sondern der Menschen überhaupt das Unterste zuoberst kehrt, der wird sich wundern, dass seine Bücher außerdem auch noch rasend komisch sein sollen.
Aber das sind sie. Schon Thomas Mann lag ja goldrichtig, als er von einem Werk sprach, "das außer dem ,verbrecherischen' Erkenntnis- und Bekenntnisfuror, mit dem es die Kunde vom Menschen erweitert, eine erstaunliche Menge von Mutwillen, phantastischer Komik und ,Lustigkeit des Geistes' in sich schließt". Eine Figur wie den wahrhaft unanständig vor sich hin schwatzenden alten Karamasow macht ihm so leicht keiner nach; und Henscheid hebt diese tragende, wenn auch alsbald ermordete Figur aus dem letzten Roman kräftig hervor.
Ansonsten scheint es ihm vor allem das Fest aus den "Dämonen" angetan zu haben; auf diese so unheimliche wie groteske Szenerie kommt er unermüdlich und ausgiebig zitierend zu sprechen. Was aber ist so komisch daran, dass an- oder schon stark betrunkene Männer aus unterschiedlichen, durchweg zwielichtigen und bis zuletzt nicht richtig durchschauten Milieus plötzlich unangemeldet irgendwo auftauchen, um Radau zu machen? Eben dieser Radau ist es, über den Henscheid so lachen muss, das absolute, völlig unberechenbare Durcheinander der Stimmen, von denen nie ganz klar wird, ob sie nun eigentlich etwas Geistreiches oder nicht doch bloß ausgemachte Dummheiten und Schamlosigkeiten sagen.
Michail Bachtin hatte in seiner einflussreichen, bis heute lesenswerten Studie über "Probleme der Poetik Dostojewskis" (erstmals 1929) von einem "polyphonen Roman" gesprochen und ihn, mit dem karnevalistischen Weltempfinden des Autors wie seines Personals, zum leitenden Gesichtspunkt seiner Gesamtdeutung gemacht. Henscheid tut das eine als Trivialität ab und das andere als an der Sache vorbeizielende Bedeutungshuberei - wie überhaupt praktisch alle Schriftsteller, Philologen und Literaturkritiker Schwätzer und Wichtigtuer sind, die das einmal falsch Angelesene (Gottsuche, Seelenzergliederung) weiter- und damit zur wachsenden allgemeinen Verdummung beitragen.
Man kennt das von Henscheid. Aber merkt er es auch? "Ja, doch, Dostojewski konnte zuweilen mit seitenlangen Tiraden und Effekthaschereien schon auch ein ziemlicher Langweiler sein": Kann dieser Dostojewski-Verehrer das nicht auch?
Aber er scheint gar kein richtiger Verehrer mehr zu sein. Hatte Henscheid früher auf die Frage, was man von diesem Autor lesen solle, einfach geantwortet: "alles", so finden von den fünf großen Romanen heute eigentlich nur noch die "Dämonen" Gnade vor ihm; der Rest ist ihm zu lang, zu amorph, zu sprunghaft, zu wenig durchkomponiert, zu geschwätzig. Vor allem den "Idioten" hält er für missraten, und den insgesamt wohl komischsten Roman, "Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner", erwähnt er vielleicht einmal am Rande. Sollte es ihm mit dem Russen mittlerweile so gehen wie einst Nietzsche mit Schopenhauer? Man möchte es nicht annehmen. Henscheid hat dieses von anfänglicher Begeisterung in richtiggehende Pauschalablehnung umschlagende Schüler-Lehrer-Verhältnis einmal witzig analysiert.
Es wäre noch folgendes anzumerken: Die hier nicht zum ersten Mal geäußerte Kritik an Dostojewskis kompositorischen Fähigkeiten ließe sich parieren oder wenigstens relativieren mit dem Hinweis auf die dramatische Machart der Romane: "Übrigens sind es keine Epen, sondern kolossale Dramen, fast ganz szenisch komponiert, in denen eine alle Tiefen der Menschenseele aufwühlende, oft in wenige Tage zusammengedrängte Handlung sich in über-realistischen und fieberhaften Dialogen darstellt" - auch hier las Thomas Mann schon ganz richtig.
Es mag sein, dass man vom Seelenerkundler und Tiefsinnsschürfer inzwischen mehr als genug gehört hat. Insofern ist es aller Ehren wert, eine wenig beachtete oder auch nur gesehene Seite an Dostojewski in neuem oder überhaupt erst bei Lichte zu betrachten. Aber so, wie Henscheid es nun macht, nur das Komische zu sehen und allen, nur mit Mutwillen wegzudiskutierenden philosophischen Gehalt, auch das auffallende Interesse am Verbrecherischen links liegenzulassen, so geht es auch nicht. Man lacht gerne mal, wenn's passt, auch über Dostojewski, dem die ganze Komik, wie Henscheid am Ende vermutet, wohl nur so "unterlaufen" ist. Aber nur lachen? Das wäre doch etwas wenig. Jeder prüfe es einfach noch einmal selbst nach.
Eckhard Henscheid: "Dostojewskis Gelächter". Die Entdeckung eines Großhumoristen.
Piper Verlag, München 2014. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gekreuzigter oder Humorist? Eckhard Henscheid sucht den Großhumoristen in Dostojewski.
Von Edo Reents
Thomas Mann schrieb vor beiläufig siebzig Jahren etwas richtiges über Dostojewski: "Denn unter anderem war dieser Gekreuzigte ein ganz großer Humorist." Die Frage ist nur, was Dostojewski mehr war, Gekreuzigter oder Humorist. Eckhard Henscheid lauscht auf 280 Seiten "Dostojewskis Gelächter" und vermeldet energisch "die Entdeckung eines Großhumoristen" (Untertitel), ist aber so nobel, unter dem Humor-Aspekt Thomas Mann die Erstbesteigung dieses russischen Zentralmassivs zu gönnen, so dass korrekterweise von einer "Wiederentdeckung" zu sprechen wäre. Das Buch ist, wie jeder seiner nichtfiktionalen Texte, typisch Henscheid: originell im Stil, rechthaberisch im Gestus - der Schriftsteller, der es ihm wirklich recht machen kann, wird nach wie vor gesucht - und voller überraschender Meinungen.
Was gibt es bei Dostojewski denn nun zu lachen? Wer den Romancier als einen Russland- und/oder Gottsucher kennt, als einen vor keiner Erkenntnis zurückschreckenden Psychologen, der im Seelenleben nicht nur seiner Protagonisten, sondern der Menschen überhaupt das Unterste zuoberst kehrt, der wird sich wundern, dass seine Bücher außerdem auch noch rasend komisch sein sollen.
Aber das sind sie. Schon Thomas Mann lag ja goldrichtig, als er von einem Werk sprach, "das außer dem ,verbrecherischen' Erkenntnis- und Bekenntnisfuror, mit dem es die Kunde vom Menschen erweitert, eine erstaunliche Menge von Mutwillen, phantastischer Komik und ,Lustigkeit des Geistes' in sich schließt". Eine Figur wie den wahrhaft unanständig vor sich hin schwatzenden alten Karamasow macht ihm so leicht keiner nach; und Henscheid hebt diese tragende, wenn auch alsbald ermordete Figur aus dem letzten Roman kräftig hervor.
Ansonsten scheint es ihm vor allem das Fest aus den "Dämonen" angetan zu haben; auf diese so unheimliche wie groteske Szenerie kommt er unermüdlich und ausgiebig zitierend zu sprechen. Was aber ist so komisch daran, dass an- oder schon stark betrunkene Männer aus unterschiedlichen, durchweg zwielichtigen und bis zuletzt nicht richtig durchschauten Milieus plötzlich unangemeldet irgendwo auftauchen, um Radau zu machen? Eben dieser Radau ist es, über den Henscheid so lachen muss, das absolute, völlig unberechenbare Durcheinander der Stimmen, von denen nie ganz klar wird, ob sie nun eigentlich etwas Geistreiches oder nicht doch bloß ausgemachte Dummheiten und Schamlosigkeiten sagen.
Michail Bachtin hatte in seiner einflussreichen, bis heute lesenswerten Studie über "Probleme der Poetik Dostojewskis" (erstmals 1929) von einem "polyphonen Roman" gesprochen und ihn, mit dem karnevalistischen Weltempfinden des Autors wie seines Personals, zum leitenden Gesichtspunkt seiner Gesamtdeutung gemacht. Henscheid tut das eine als Trivialität ab und das andere als an der Sache vorbeizielende Bedeutungshuberei - wie überhaupt praktisch alle Schriftsteller, Philologen und Literaturkritiker Schwätzer und Wichtigtuer sind, die das einmal falsch Angelesene (Gottsuche, Seelenzergliederung) weiter- und damit zur wachsenden allgemeinen Verdummung beitragen.
Man kennt das von Henscheid. Aber merkt er es auch? "Ja, doch, Dostojewski konnte zuweilen mit seitenlangen Tiraden und Effekthaschereien schon auch ein ziemlicher Langweiler sein": Kann dieser Dostojewski-Verehrer das nicht auch?
Aber er scheint gar kein richtiger Verehrer mehr zu sein. Hatte Henscheid früher auf die Frage, was man von diesem Autor lesen solle, einfach geantwortet: "alles", so finden von den fünf großen Romanen heute eigentlich nur noch die "Dämonen" Gnade vor ihm; der Rest ist ihm zu lang, zu amorph, zu sprunghaft, zu wenig durchkomponiert, zu geschwätzig. Vor allem den "Idioten" hält er für missraten, und den insgesamt wohl komischsten Roman, "Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner", erwähnt er vielleicht einmal am Rande. Sollte es ihm mit dem Russen mittlerweile so gehen wie einst Nietzsche mit Schopenhauer? Man möchte es nicht annehmen. Henscheid hat dieses von anfänglicher Begeisterung in richtiggehende Pauschalablehnung umschlagende Schüler-Lehrer-Verhältnis einmal witzig analysiert.
Es wäre noch folgendes anzumerken: Die hier nicht zum ersten Mal geäußerte Kritik an Dostojewskis kompositorischen Fähigkeiten ließe sich parieren oder wenigstens relativieren mit dem Hinweis auf die dramatische Machart der Romane: "Übrigens sind es keine Epen, sondern kolossale Dramen, fast ganz szenisch komponiert, in denen eine alle Tiefen der Menschenseele aufwühlende, oft in wenige Tage zusammengedrängte Handlung sich in über-realistischen und fieberhaften Dialogen darstellt" - auch hier las Thomas Mann schon ganz richtig.
Es mag sein, dass man vom Seelenerkundler und Tiefsinnsschürfer inzwischen mehr als genug gehört hat. Insofern ist es aller Ehren wert, eine wenig beachtete oder auch nur gesehene Seite an Dostojewski in neuem oder überhaupt erst bei Lichte zu betrachten. Aber so, wie Henscheid es nun macht, nur das Komische zu sehen und allen, nur mit Mutwillen wegzudiskutierenden philosophischen Gehalt, auch das auffallende Interesse am Verbrecherischen links liegenzulassen, so geht es auch nicht. Man lacht gerne mal, wenn's passt, auch über Dostojewski, dem die ganze Komik, wie Henscheid am Ende vermutet, wohl nur so "unterlaufen" ist. Aber nur lachen? Das wäre doch etwas wenig. Jeder prüfe es einfach noch einmal selbst nach.
Eckhard Henscheid: "Dostojewskis Gelächter". Die Entdeckung eines Großhumoristen.
Piper Verlag, München 2014. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
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"Dem versierten Leser kann es als gut recherchierte Dostojewski-Sekundärliteratur dienen.", Münchner Merkur, 18.02.2015