Im Alter von fünfundzwanzig Jahren erlebte Guy de Maupassant die ersten Anzeichen einer ererbten syphilitischen Erkrankung. Das Entsetzen vor dem unausweichlichen Ende sollte ihn nie mehr verlassen; es stiftete ihn nicht nur zu einem vermeintlich tollkühnen Lebenswandel an, sondern es bildete auch den Fundus, aus dem er den Stoff für einige seiner beeindruckendsten Erzählungen bezog. Der vorliegende Band enthält neben Kabinettstücken des Wahnsinns aus Maupassants Feder die deutsche Erstveröffentlichung seiner frühen Burleske "Dr. Gloss und die Seelenwanderung", in der das Schreckliche noch humoristisch gemildert erscheint und dennoch seinen schwarzen Schatten bereits spürbar entfaltet. Eine echte Entdeckung!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2012Wahnsinn als Leidenschaft
Zu den Schriftstellern, auf die das Klischee von Genie und Wahnsinn leider zutrifft, gehört Guy de Maupassant (1850 bis 1893): Er litt seit 1877 an Syphilis und starb im besten Mannesalter in einer Nervenklinik. Aus dem Schrecken heraus entstanden Texte, die das Thema beeindruckend gestalten: Der bekannteste ist "Der Horla". Melanie Walz präsentiert nun fünf von ihr übersetzte, teils verspielte, teils abgründige Wahnsinns-Erzählungen. Die längste, ein Kleinod, erscheint dabei erstmals auf Deutsch: "Dr. Gloss und die Seelenwanderung" erzählt von einem friedlichen Privatgelehrten, der ein Manuskript findet. Mit deftiger Ironie beschreibt Maupassant, wie Dr. Gloss, dessen Name Candides unverbesserlichen Lehrer evoziert, erst einen Affen und dann sich selbst für eine Reinkarnation des Pythagoras hält: ". . . nichts bedeutet diese Freude neben der, die Doktor Héraclius Gloss überkam, als er nach so langem Schlingern in der Dünung der Philosophen und auf dem Floß der Ungewissheiten endlich triumphierend und erleuchtet in den Hafen der Seelenwanderung einfuhr." Des Einen Triumph ist des anderen Spott: Als Dr. Gloss sich nicht damit begnügt, mit seinem Hund zu reden, sondern zum militanten Vegetarier wird, erregt er öffentliches Ärgernis - der Weg ins Irrenhaus ist vorgezeichnet. Dort wartet eine Überraschung . . . Die anderen Erzählungen präsentieren einen Mann, den Eifersucht auf ein Pferd quält, einen mordenden Richter, einen Seher unsichtbarer Wesen und einen Liebhaber der Nacht. Als Kaminlektüre unbedingt empfohlen! (Guy de Maupassant: "Dr. Gloss und die Seelenwanderung". Erzählungen. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz. Verlag C. H. Beck textura, München 2012. 126 S., br., 14,95 [Euro].)
nibe
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zu den Schriftstellern, auf die das Klischee von Genie und Wahnsinn leider zutrifft, gehört Guy de Maupassant (1850 bis 1893): Er litt seit 1877 an Syphilis und starb im besten Mannesalter in einer Nervenklinik. Aus dem Schrecken heraus entstanden Texte, die das Thema beeindruckend gestalten: Der bekannteste ist "Der Horla". Melanie Walz präsentiert nun fünf von ihr übersetzte, teils verspielte, teils abgründige Wahnsinns-Erzählungen. Die längste, ein Kleinod, erscheint dabei erstmals auf Deutsch: "Dr. Gloss und die Seelenwanderung" erzählt von einem friedlichen Privatgelehrten, der ein Manuskript findet. Mit deftiger Ironie beschreibt Maupassant, wie Dr. Gloss, dessen Name Candides unverbesserlichen Lehrer evoziert, erst einen Affen und dann sich selbst für eine Reinkarnation des Pythagoras hält: ". . . nichts bedeutet diese Freude neben der, die Doktor Héraclius Gloss überkam, als er nach so langem Schlingern in der Dünung der Philosophen und auf dem Floß der Ungewissheiten endlich triumphierend und erleuchtet in den Hafen der Seelenwanderung einfuhr." Des Einen Triumph ist des anderen Spott: Als Dr. Gloss sich nicht damit begnügt, mit seinem Hund zu reden, sondern zum militanten Vegetarier wird, erregt er öffentliches Ärgernis - der Weg ins Irrenhaus ist vorgezeichnet. Dort wartet eine Überraschung . . . Die anderen Erzählungen präsentieren einen Mann, den Eifersucht auf ein Pferd quält, einen mordenden Richter, einen Seher unsichtbarer Wesen und einen Liebhaber der Nacht. Als Kaminlektüre unbedingt empfohlen! (Guy de Maupassant: "Dr. Gloss und die Seelenwanderung". Erzählungen. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz. Verlag C. H. Beck textura, München 2012. 126 S., br., 14,95 [Euro].)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Obwohl der französische Schriftsteller Guy de Maupassant nur 43 Jahre alt wurde, ist sein literarisches Werk so umfangreich, dass sich darin noch 120 Jahre nach seinem Tod unübersetzte Kostbarkeiten finden, berichtet Kristina Maidt-Zinke. Der Band "Dr. Gloss und die Seelenwanderung" mit von Melanie Walz "elegant" ins Deutsche übertragenen Erzählungen konzentriert sich auf den eher düsteren Bereich von Maupassants Schaffen, der etwa den Werken von E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe oder Nikolai Gogol vergleichbar ist, so die Rezensentin. Da diese Texte überwiegend aus dem Spätwerk stammen, lassen ästhetische Brüche und unvermittelt hereinbrechende Gewalt (überwiegend an Tieren) das spätere Schicksal Maupassant ahnen, der nach einem Selbstmordversuch in einer Nervenklinik landete, wie Maidt-Zinke weiß, dazwischen zeigen sich aber auch die "ironisch-humoristischen Qualitäten" des Autors.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.01.2013Flirrendes Licht, gefiltert durch Melancholie
Guy de Maupassant gehört zwar zum Kanon der großen französischen Erzähler – und wird doch immer noch unterschätzt.
Zwei deutsche Erstveröffentlichungen aus seinem umfangreichen Werk rücken den Autor nun verblüffend nah an die Gegenwart
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Im Namen Maupassant steckt – „wenn man es so ungeschickt ausdrücken will“, wie die Übersetzerin Melanie Walz bemerkt – die Bedeutung „einen üblen Verlauf nehmend“. Ungeschickt oder nicht, auf das Leben des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant trifft die Aussage ziemlich erschütternd zu. Als ihm, nach zähen literarischen Anfängen, 1880 mit der Novelle „Boule de suif“ der Durchbruch gelang, machten sich die ersten schwerwiegenden Auswirkungen seiner Syphilis-Infektion bemerkbar. Wenige Wochen später starb sein väterlicher Freund und Förderer Gustave Flaubert. Dem damals dreißigjährigen Maupassant blieben noch dreizehn Jahre Lebenszeit, in denen sein anschwellender Ruhm nicht nur von den sich verschlimmernden Krankheitssymptomen überschattet war, sondern auch von der Furcht, wie sein jüngerer Bruder Hervé in geistiger Umnachtung zu enden. So kam es denn auch: Seinem Tod vor nunmehr 120 Jahren gingen ein Selbstmordversuch und ein anderthalbjähriger Aufenthalt in der Nervenklinik voraus.
Der Nachwelt hinterließ er die Früchte der besessenen Arbeitswut, mit der er seinen Malaisen getrotzt hatte – fast dreihundert Novellen und Erzählungen, eine Fülle journalistischer Arbeiten, sechs abgeschlossene und zwei unvollendete Romane. Kaum überraschend, dass sich darunter immer noch Unübersetztes findet: Gegenwärtig laden gleich zwei deutsche Erstveröffentlichungen dazu ein, das Bild eines Autors zu komplettieren, der es zu Lebzeiten bei der Kritik viel schwerer hatte als beim Publikum, der sich selbst als „Prosahändler“ bezeichnete und heute zwar zum Kanon der großen französischen Erzähler gehört, der jedoch – vor allem im Vergleich zu dem akribischen Stilisten Flaubert – mit einem Hautgout von Qualitätsschwankungen, verdächtig guter Verfilmbarkeit und Schullektüre-Eignung behaftet ist.
Im 20. Jahrhundert rettete man sich aus dem Rezeptionsdilemma durch die dezidierte Hinwendung zur „dunklen“ Seite Maupassants, jenen Texten, die von Wahnsinn und Besessenheit, von Albträumen, Doppelgängern und Gespenstern handeln und es ermöglichen, den Verfasser in die Tradition von E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe und Nikolai Gogol zu stellen. Solche Geschichten finden sich vorwiegend im Spätwerk, doch schon auf das Jahr 1875 lässt sich die Burleske „Dr. Gloss und die Seelenwanderung“ datieren, die aus dem Nachlass stammt, 1921 in der Revue de Paris erstmals publiziert wurde und nun, von Melanie Walz elegant ins Deutsche übertragen und ergänzt um Nacht- und Schauerstücke aus dem folgenden Jahrzehnt, in der Preziosen-Reihe „textura“ bei Beck erschienen ist.
Die Geschichte des Doktor Héraclius Gloss, der beim Trödler ein Manuskript mit dem Erfahrungsbericht einer Seelenwanderung findet und daraus allerlei kuriose Konsequenzen ableitet, bis er schließlich glaubt, den Text selbst verfasst zu haben – diese Geschichte beginnt als geistreiche Gelehrtensatire. Mit Seitenhieben sowohl gegen die Arroganz der aufgeklärten Wissenschaft als auch gegen die damals grassierenden okkultistischen Bewegungen, mit scharfem Blick für die komischen Seiten menschlichen Erkenntnisstrebens zeichnet Maupassant die Karikatur eines von Hybris befallenen Wahrheitssuchers, der sich in einen grotesken Wahn hineinsteigert.
Zu entdecken sind dabei vor allem die ironisch-humoristischen Qualitäten des jungen Maupassant, sein übermütiges Experimentieren mit Stilelementen von Voltaire, Balzac und Flauberts „Bouvard et Pecuchet“. Doch bevor er seinen Helden, wie im Vorgriff auf das eigene Schicksal, in die Irrenanstalt schickt, lässt er ihn ein schreckliches, nicht im Mindesten mehr amüsantes Tiermassaker anrichten. Hier legt sich der Schatten späterer Schreckensphantasien so unvermittelt über das satirische Spiel, dass man geradezu von einem ästhetischen Bruch sprechen kann.
Auch die Erzählungen „Wahnsinnig?“ und „Ein Wahnsinniger“ sind für Tierfreunde ungeeignet, und über ihren literarischen Rang lässt sich streiten. Der „Brief eines Wahnsinnigen“ enthält interessante Reflexionen über die Natur der Sinneswahrnehmungen und beeindruckt als Vorstudie zur berühmten Schauererzählung „Le Horla“. Am unheimlichsten aber fesselt der „schwarze“ Maupassant immer noch mit der Pariser Traumvision „Die Nacht“, die schon Adorno besonders schätzte. Gegner der aktuellen Pläne des französischen Umweltministeriums, in der Hauptstadt die nächtliche Beleuchtung von Geschäften und Büros abzuschalten, könnten diesen Text ohne Weiteres zum Pamphlet umfunktionieren.
Das gleißende Licht der Côte d’Azur, gefiltert durch Melancholie, Sarkasmus und kulturpessimistische Reflexion, liegt über der zweiten Maupassant-Entdeckung. Die Reiseerzählung „Auf See“, im Original „Sur l’eau“, nach dem Vorabdruck in der Zeitschrift Les Lettres et les Arts 1888 als Buch veröffentlicht, hat der Mare-Verlag in blaue Seide eingebunden und in eine Kassette gesteckt, wie um die Kostbarkeit des Fundstücks hervorzuheben. In der Tat versammelt dieser Text die widerstreitenden Wesenszüge und wechselnden Stimmungen, die Talente und Schwächen Maupassants wie in einer Nussschale und rückt den Autor zugleich verblüffend nahe an die Gegenwart.
Schon sein Verfahren, die Aufzeichnungen von einem neuntägigen Segeltörn entlang der französischen Mittelmeerküste mit Fragmenten seiner Feuilletons und Erzählungen zu verweben, die in den vorausgegangenen sieben Jahren in den Zeitungen Gil Blas und Le Gaulois erschienen waren, und dann das Ganze in einer Vorbemerkung als spontan entstandenes Kreuzfahrttagebuch auszugeben, ist von geradezu postmoderner Frechheit. Im Ergebnis wirkt die Mixtur aus nautischen Notizen, Landschafts- und Ortsschilderungen, Naturschwärmerei, Gesellschaftsglossen, klarsichtiger Zeitkritik und hemmungslos selbstbezogenem Lamento vollkommen organisch, solange man nicht darauf insistiert, sie einem Genre zuzuordnen, sondern sie in ihrer Eigenart als „hybrides Werk“ genießt. Julian Barnes, der in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe diese Formulierung verwendet, spielt damit auch auf Maupassants nonchalanten Umgang mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion an.
1885 hatte der Schriftsteller, zu dessen Problemen wenigstens Geldnot nicht zähl-te, ein kleines Segelschiff gekauft, das er nach seinem im selben Jahr erschienenen Roman „Bel-Ami“ taufte. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er, wie im Buch beschrieben, mit den Matrosen Bertrand und Raymond von Antibes über Cannes, Agay, Saint-Raphaël nach Saint-Tropez und wieder zurück segelte und anschließend mit dem Zug nach Monte Carlo fuhr, aber ob er seine Impressionen tatsächlich an Bord des Kutters notierte, ist ebenso wenig beglaubigt wie seine Landgänge, und so manche historische Anekdote, die dabei anfällt, lässt sich als Erfindung enttarnen.
Doch wer die Gegend kennt, erfreut sich an etlichen Déjà-vus, und wer den Niedergang der Côte d’Azur betrauert, erfährt hier vielleicht zum ersten Mal, dass die touristische Erschließung und Ausbeutung dieses gesegneten Landstrichs schon damals von Konsortien und Baugesellschaften planmäßig betrieben wurde. Der desillusionierende Blick, den heutige Reisereportagen in ihrem vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Urlaubsindustrie kaum noch riskieren, zählt ebenso zu den journalistischen Stärken Maupassants wie der polemische Furor seiner Anti-Kriegs-Suada und der ätzende Spott, mit dem er den Adels- und Literatentick einer Möchtegern-Gesellschaft seziert. Mögen seine Gemütszustände so rasch umschlagen wie das Wetter, mag seine Schwermut zuweilen ins Morbide kippen – von Wahnsinn kann hier noch keine Rede sein, und selbst die düstersten Auslassungen über die Leiden des Schriftstellers oder die Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens sind durchzogen von feinen Lichtstreifen ironischer Distanz.
Die Übersetzung von Cornelia Hasting erfasst das Schwanken, die Ambivalenz der Gedanken und Empfindungen mit so viel musikalischem Gespür, dass das Schaukeln des Schiffes auf blauen Wellen darin eingefangen zu sein scheint – eine echte Trouvaille.
Auch die „dunkle“ Seite
Maupassants ist von Ironie
und Übermut durchzogen
Das hybride Werk „Auf See“
als Tagebuch auszugeben,
ist von postmoderner Frechheit
Guy de Maupassant:
Dr. Gloss und die Seelenwanderung. Erzählungen.
Aus dem Französischen
von Melanie Walz. Verlag C.H. Beck, München 2012. 126 Seiten, 14,95 Euro.
Guy de Maupassant:
Auf See. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting. Mit einem Nachwort
von Julian Barnes.
Mare Verlag, Hamburg 2012.
207 Seiten, 24 Euro.
Der desillusionierende Blick auf die touristische Ausbeutung der Côte d’Azur zählt zu den Stärken der journalistischen Arbeiten Maupassants. Unser Bild zeigt den Quai des États-Unis in Nizza.
FOTO: SCHERL
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Guy de Maupassant gehört zwar zum Kanon der großen französischen Erzähler – und wird doch immer noch unterschätzt.
Zwei deutsche Erstveröffentlichungen aus seinem umfangreichen Werk rücken den Autor nun verblüffend nah an die Gegenwart
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Im Namen Maupassant steckt – „wenn man es so ungeschickt ausdrücken will“, wie die Übersetzerin Melanie Walz bemerkt – die Bedeutung „einen üblen Verlauf nehmend“. Ungeschickt oder nicht, auf das Leben des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant trifft die Aussage ziemlich erschütternd zu. Als ihm, nach zähen literarischen Anfängen, 1880 mit der Novelle „Boule de suif“ der Durchbruch gelang, machten sich die ersten schwerwiegenden Auswirkungen seiner Syphilis-Infektion bemerkbar. Wenige Wochen später starb sein väterlicher Freund und Förderer Gustave Flaubert. Dem damals dreißigjährigen Maupassant blieben noch dreizehn Jahre Lebenszeit, in denen sein anschwellender Ruhm nicht nur von den sich verschlimmernden Krankheitssymptomen überschattet war, sondern auch von der Furcht, wie sein jüngerer Bruder Hervé in geistiger Umnachtung zu enden. So kam es denn auch: Seinem Tod vor nunmehr 120 Jahren gingen ein Selbstmordversuch und ein anderthalbjähriger Aufenthalt in der Nervenklinik voraus.
Der Nachwelt hinterließ er die Früchte der besessenen Arbeitswut, mit der er seinen Malaisen getrotzt hatte – fast dreihundert Novellen und Erzählungen, eine Fülle journalistischer Arbeiten, sechs abgeschlossene und zwei unvollendete Romane. Kaum überraschend, dass sich darunter immer noch Unübersetztes findet: Gegenwärtig laden gleich zwei deutsche Erstveröffentlichungen dazu ein, das Bild eines Autors zu komplettieren, der es zu Lebzeiten bei der Kritik viel schwerer hatte als beim Publikum, der sich selbst als „Prosahändler“ bezeichnete und heute zwar zum Kanon der großen französischen Erzähler gehört, der jedoch – vor allem im Vergleich zu dem akribischen Stilisten Flaubert – mit einem Hautgout von Qualitätsschwankungen, verdächtig guter Verfilmbarkeit und Schullektüre-Eignung behaftet ist.
Im 20. Jahrhundert rettete man sich aus dem Rezeptionsdilemma durch die dezidierte Hinwendung zur „dunklen“ Seite Maupassants, jenen Texten, die von Wahnsinn und Besessenheit, von Albträumen, Doppelgängern und Gespenstern handeln und es ermöglichen, den Verfasser in die Tradition von E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe und Nikolai Gogol zu stellen. Solche Geschichten finden sich vorwiegend im Spätwerk, doch schon auf das Jahr 1875 lässt sich die Burleske „Dr. Gloss und die Seelenwanderung“ datieren, die aus dem Nachlass stammt, 1921 in der Revue de Paris erstmals publiziert wurde und nun, von Melanie Walz elegant ins Deutsche übertragen und ergänzt um Nacht- und Schauerstücke aus dem folgenden Jahrzehnt, in der Preziosen-Reihe „textura“ bei Beck erschienen ist.
Die Geschichte des Doktor Héraclius Gloss, der beim Trödler ein Manuskript mit dem Erfahrungsbericht einer Seelenwanderung findet und daraus allerlei kuriose Konsequenzen ableitet, bis er schließlich glaubt, den Text selbst verfasst zu haben – diese Geschichte beginnt als geistreiche Gelehrtensatire. Mit Seitenhieben sowohl gegen die Arroganz der aufgeklärten Wissenschaft als auch gegen die damals grassierenden okkultistischen Bewegungen, mit scharfem Blick für die komischen Seiten menschlichen Erkenntnisstrebens zeichnet Maupassant die Karikatur eines von Hybris befallenen Wahrheitssuchers, der sich in einen grotesken Wahn hineinsteigert.
Zu entdecken sind dabei vor allem die ironisch-humoristischen Qualitäten des jungen Maupassant, sein übermütiges Experimentieren mit Stilelementen von Voltaire, Balzac und Flauberts „Bouvard et Pecuchet“. Doch bevor er seinen Helden, wie im Vorgriff auf das eigene Schicksal, in die Irrenanstalt schickt, lässt er ihn ein schreckliches, nicht im Mindesten mehr amüsantes Tiermassaker anrichten. Hier legt sich der Schatten späterer Schreckensphantasien so unvermittelt über das satirische Spiel, dass man geradezu von einem ästhetischen Bruch sprechen kann.
Auch die Erzählungen „Wahnsinnig?“ und „Ein Wahnsinniger“ sind für Tierfreunde ungeeignet, und über ihren literarischen Rang lässt sich streiten. Der „Brief eines Wahnsinnigen“ enthält interessante Reflexionen über die Natur der Sinneswahrnehmungen und beeindruckt als Vorstudie zur berühmten Schauererzählung „Le Horla“. Am unheimlichsten aber fesselt der „schwarze“ Maupassant immer noch mit der Pariser Traumvision „Die Nacht“, die schon Adorno besonders schätzte. Gegner der aktuellen Pläne des französischen Umweltministeriums, in der Hauptstadt die nächtliche Beleuchtung von Geschäften und Büros abzuschalten, könnten diesen Text ohne Weiteres zum Pamphlet umfunktionieren.
Das gleißende Licht der Côte d’Azur, gefiltert durch Melancholie, Sarkasmus und kulturpessimistische Reflexion, liegt über der zweiten Maupassant-Entdeckung. Die Reiseerzählung „Auf See“, im Original „Sur l’eau“, nach dem Vorabdruck in der Zeitschrift Les Lettres et les Arts 1888 als Buch veröffentlicht, hat der Mare-Verlag in blaue Seide eingebunden und in eine Kassette gesteckt, wie um die Kostbarkeit des Fundstücks hervorzuheben. In der Tat versammelt dieser Text die widerstreitenden Wesenszüge und wechselnden Stimmungen, die Talente und Schwächen Maupassants wie in einer Nussschale und rückt den Autor zugleich verblüffend nahe an die Gegenwart.
Schon sein Verfahren, die Aufzeichnungen von einem neuntägigen Segeltörn entlang der französischen Mittelmeerküste mit Fragmenten seiner Feuilletons und Erzählungen zu verweben, die in den vorausgegangenen sieben Jahren in den Zeitungen Gil Blas und Le Gaulois erschienen waren, und dann das Ganze in einer Vorbemerkung als spontan entstandenes Kreuzfahrttagebuch auszugeben, ist von geradezu postmoderner Frechheit. Im Ergebnis wirkt die Mixtur aus nautischen Notizen, Landschafts- und Ortsschilderungen, Naturschwärmerei, Gesellschaftsglossen, klarsichtiger Zeitkritik und hemmungslos selbstbezogenem Lamento vollkommen organisch, solange man nicht darauf insistiert, sie einem Genre zuzuordnen, sondern sie in ihrer Eigenart als „hybrides Werk“ genießt. Julian Barnes, der in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe diese Formulierung verwendet, spielt damit auch auf Maupassants nonchalanten Umgang mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion an.
1885 hatte der Schriftsteller, zu dessen Problemen wenigstens Geldnot nicht zähl-te, ein kleines Segelschiff gekauft, das er nach seinem im selben Jahr erschienenen Roman „Bel-Ami“ taufte. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er, wie im Buch beschrieben, mit den Matrosen Bertrand und Raymond von Antibes über Cannes, Agay, Saint-Raphaël nach Saint-Tropez und wieder zurück segelte und anschließend mit dem Zug nach Monte Carlo fuhr, aber ob er seine Impressionen tatsächlich an Bord des Kutters notierte, ist ebenso wenig beglaubigt wie seine Landgänge, und so manche historische Anekdote, die dabei anfällt, lässt sich als Erfindung enttarnen.
Doch wer die Gegend kennt, erfreut sich an etlichen Déjà-vus, und wer den Niedergang der Côte d’Azur betrauert, erfährt hier vielleicht zum ersten Mal, dass die touristische Erschließung und Ausbeutung dieses gesegneten Landstrichs schon damals von Konsortien und Baugesellschaften planmäßig betrieben wurde. Der desillusionierende Blick, den heutige Reisereportagen in ihrem vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Urlaubsindustrie kaum noch riskieren, zählt ebenso zu den journalistischen Stärken Maupassants wie der polemische Furor seiner Anti-Kriegs-Suada und der ätzende Spott, mit dem er den Adels- und Literatentick einer Möchtegern-Gesellschaft seziert. Mögen seine Gemütszustände so rasch umschlagen wie das Wetter, mag seine Schwermut zuweilen ins Morbide kippen – von Wahnsinn kann hier noch keine Rede sein, und selbst die düstersten Auslassungen über die Leiden des Schriftstellers oder die Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens sind durchzogen von feinen Lichtstreifen ironischer Distanz.
Die Übersetzung von Cornelia Hasting erfasst das Schwanken, die Ambivalenz der Gedanken und Empfindungen mit so viel musikalischem Gespür, dass das Schaukeln des Schiffes auf blauen Wellen darin eingefangen zu sein scheint – eine echte Trouvaille.
Auch die „dunkle“ Seite
Maupassants ist von Ironie
und Übermut durchzogen
Das hybride Werk „Auf See“
als Tagebuch auszugeben,
ist von postmoderner Frechheit
Guy de Maupassant:
Dr. Gloss und die Seelenwanderung. Erzählungen.
Aus dem Französischen
von Melanie Walz. Verlag C.H. Beck, München 2012. 126 Seiten, 14,95 Euro.
Guy de Maupassant:
Auf See. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting. Mit einem Nachwort
von Julian Barnes.
Mare Verlag, Hamburg 2012.
207 Seiten, 24 Euro.
Der desillusionierende Blick auf die touristische Ausbeutung der Côte d’Azur zählt zu den Stärken der journalistischen Arbeiten Maupassants. Unser Bild zeigt den Quai des États-Unis in Nizza.
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