Boyles geniales Porträt des Mannes, der im prüden Amerika des Jahres 1939 die sexuelle Revolution auslöste.
»Hör mal, ich wollte dich fragen, ob du dich vielleicht mit mir verloben möchtest... Du weißt schon, für diesen Kurs.«
Es ist das Jahr 1939, und auf dem Campus der Universität Indiana ist eine Revolution ausgebrochen. Alfred Kinsey, ursprünglich Zoologe, beschäftigt sich mit dem Sexualverhalten von Männern und Frauen - und das rein empirisch. Unter dem harmlos klingenden Titel »Ehe und Familie« gibt er Aufklärungskurse, die durch die Präsentation von drastischen Dias Furore machen.
John Milk, ein junger, ehrgeiziger, aber in sexuellen Dingen völlig unbedarfter Student, lernt Kinsey persönlich kennen und wird dessen erster Mitarbeiter. Kinseys Projekt ist gewaltig: Er will so viele Personen wie möglich zu ihren sexuellen Erfahrungen, Vorlieben und Gewohnheiten befragen und gleichzeitig Angaben zu deren sozialem Hintergrund und physischer Konstitution sammeln, um der Sexualforschung eine Basis zu geben. John Milk ist von diesem Mann fasziniert und wird einer seiner treuesten Anhänger und uneingeschränktesten Verfechter. Und doch gerät er in einen Zwiespalt, denn da gibt es eine junge Frau, die er liebt und mit der er leben will ...
T. C. Boyle erzählt die Geschichte eines ebenso genialen wie fanatischen Helden, für den die sexuelle Aufklärung das höchste aller Ziele ist, und zeichnet ein Porträt der prüden, bigotten Gesellschaft des Amerika der vierziger und fünfziger Jahre.
»Hör mal, ich wollte dich fragen, ob du dich vielleicht mit mir verloben möchtest... Du weißt schon, für diesen Kurs.«
Es ist das Jahr 1939, und auf dem Campus der Universität Indiana ist eine Revolution ausgebrochen. Alfred Kinsey, ursprünglich Zoologe, beschäftigt sich mit dem Sexualverhalten von Männern und Frauen - und das rein empirisch. Unter dem harmlos klingenden Titel »Ehe und Familie« gibt er Aufklärungskurse, die durch die Präsentation von drastischen Dias Furore machen.
John Milk, ein junger, ehrgeiziger, aber in sexuellen Dingen völlig unbedarfter Student, lernt Kinsey persönlich kennen und wird dessen erster Mitarbeiter. Kinseys Projekt ist gewaltig: Er will so viele Personen wie möglich zu ihren sexuellen Erfahrungen, Vorlieben und Gewohnheiten befragen und gleichzeitig Angaben zu deren sozialem Hintergrund und physischer Konstitution sammeln, um der Sexualforschung eine Basis zu geben. John Milk ist von diesem Mann fasziniert und wird einer seiner treuesten Anhänger und uneingeschränktesten Verfechter. Und doch gerät er in einen Zwiespalt, denn da gibt es eine junge Frau, die er liebt und mit der er leben will ...
T. C. Boyle erzählt die Geschichte eines ebenso genialen wie fanatischen Helden, für den die sexuelle Aufklärung das höchste aller Ziele ist, und zeichnet ein Porträt der prüden, bigotten Gesellschaft des Amerika der vierziger und fünfziger Jahre.
Keiner schreibt so anspruchsvoll und lustig über Freaks und Utopisten, reale Persönlichkeiten (Kinsey, Kellogg, Wright) und historische Ereignisse. Günter Keil Playboy 20180117
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2005Dreihundertfünfzig Fragen, die niemanden etwas angehen
Danach ist alles erst einmal ein bißchen unscharf: "Dr. Sex", T.C. Boyles Roman über den Sexualstatistiker Alfred Kinsey und die praktischen Seiten der Theorie
Vor elf Jahren, als T. C. Boyle etwa die halbe Wegstrecke von der heißen Kultfigur in der Nachbarschaft eines Chadwick oder Gibson zum coolen Kritikerliebling auf Augenhöhe mit Paul Auster oder Don DeLillo zurückgelegt hatte, durfte ihn "Mondo 2000", die klügere, weniger technotrottelig kleinkarierte und inzwischen leider eingegangene Cousine der Zeitschrift "Wired", zu seinem Literaturverständnis und zum Umgang mit zeitgeschichtlichen Stoffen befragen. Boyle hatte glücklicherweise gerade seinen entspannten Tag und gab zu Protokoll: "Ich bin kein James Michener oder irgend so ein traditioneller historischer Romancier, der sich für die Rekonstruktion des Gewesenen interessiert. Ich möchte diese Sachen als Sprungbretter der Vorstellungskraft behandeln, als Abstoßungspunkte für die Untersuchung eines abstrakten Themas. Das ähnelt ein bißchen dem, wie sich Science-fiction-Autoren die Zukunft vorstellen. Es ist so ein Ort. Es ist halt so ein Ding."
So ein Ding ist auch "Dr. Sex", Boyles neues und über weiteste Strecken gewohnt charmantes und lebhaftes Buch. Es geht darin um das Leben und Wirken jenes Professors Kinsey (oder "Prok", wie er hier - der Spitzname ist historisch verbürgt - neckisch-vertraulich heißt), der mit seinen sexualstatistisch-soziometrischen Forschungen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren einiges bewegt hat. Je nachdem, wen man in den Vereinigten Staaten der Gegenwart dazu befragt, hat Kinsey entweder a.) in heilsamer Weise die Fassade neobiedermeierlicher Normalität in "God's Own Country" gesprengt und Praktiken aufs Lebensstil-Menü gesetzt, die bis dahin nur im Dunkeln zu sich selbst kommen durften, oder aber b.) pädophilen, homosexuellen Gottesleugnern, Leibvergiftern und Fruchtabtreibern bei ihrem Ansturm auf alles, was den Untergang des Abendlandes noch verhindern kann, nach Kräften assistiert. (Zutreffendes bitte ankreuzen, der Mann liebte Multiple-Choice-Fragebögen.)
So lang die mitunter breit farcen- und fratzenhafte Geschichte dauert, schlüpft Boyle in die Larve des hochgradig unzuverlässigen Erzählers John Milk, der wohl eher nicht nach der ermordeten Homosexuellen-Ikone Harvey Milk so heißt, sondern vielmehr die Käsigkeit, Homogenität und Pasteurisiertheit der prüden Fünfziger als Nachnamensbuckel mit sich herumschleppen soll. Milk stößt als Helfer und Apostel zur Sexologen-Urgemeinde - "Ich lernte. Von Prok. Vom Meister persönlich. Und ich zuckte nicht zusammen, ich schlug nicht die Augen nieder, mein Gesicht verriet nichts" - und muß trotz vorbildlicher Neugier und Belastbarkeit bald erleben, daß nicht nur die tabellarisch aufbereitete Horizonterweiterung, sondern auch das, "was ich mit Mac und Prok im Bett getrieben hatte", sein Leben neu formatiert, seine emotionale Bindungsfähigkeit in Gefahr bringt.
Das Ganze ist, wie bei diesem Thema nicht anders zu erwarten, vor allem ein Buch der schönen Stellen. Das sind nicht unbedingt säuische, sondern eher niedlich-peinliche wie jene, in der Boyle beschreibt, daß auch noch die Mutter des Erzählers in den Sog der Sexvermessung gerät wie in einen metabolisch-diskursiven Superstaubsauger: "Prok, nahm ich an, hatte über das Projekt gesprochen und sie wie praktisch jeden anderen davon überzeugt, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte meiner Mutter. Am folgenden Tag oder noch am selben Abend würde sie ihm zwei Stunden lang gegenübersitzen und die dreihundertfünfzig Fragen beantworten: Über ihre Masturbationsgewohnheiten, wie oft sie sich selbst bis zum Orgasmus stimulierte und mit welchen Männern sie seit dem Tod meines Vaters geschlafen hatte."
Daß "danach alles ein bißchen unscharf" wird für den armen Ödipus, kann man ihm durchaus nachfühlen. Obwohl der Leser gerne über Strecke von gut vierhundertfünfzig Seiten folgt, bleibt das Ganze letztlich - und hier bietet sich ein Wort aus der untersuchten problematischen Sphäre selbst an - unbefriedigend.
Was nämlich Boyles heitere Pointenfolge auf die lange narrative Strecke nachhaltig ausdünnt, den Erzählton mitunter geradezu brüchig und schütter macht und den Spaß am ausgebreiteten Einfallsreichtum gleichsam von innen her angreift, ist die metaphysisch-zeitkritische Grundannahme, die der Autor mit vielen ihm intellektuell unterlegenen Leuten teilt: die falsche Vorstellung, Sexualität stehe im spätabendländischen Kulturkreis vor allem unter dem Bann von Wissenschaft und Technokratie.
Diese These hat die Evidenz von Ratgeberliteratur und zu bloßer Ejakulationsstatistik verflachter Aufklärung für sich, den ganzen seichten, aber beichtfreudig-exhibitionistischen Positivismus. Diese Faktoren gibt es durchaus, aber sie sind abgeleitete. Denn im großen Remmidemmi um die Lust, das man im nachsexualrevolutionären Westen täglich angedreht bekommt, sind die klinischen und szientistischen Töne Momente einer viel größeren Dynamik, und die ist wesentlich nicht technisch oder wissenschaftlich, sondern kulturindustriell, das heißt: pornographisch und phantastisch, geleitet von Vorstellungen, nicht von Befunden. Heute wissen wahrscheinlich mehr junge Amerikaner über Entführungen von Menschen durch Außerirdische zum Zweck der zweigeschlechtlichen Erzeugung bizarrer Hybridwesen Bescheid als über die Funktionsweise der wichtigsten Verhütungsmittel.
Der große Makel, der "Dr. Sex" ebenso wie viele andere literarische Auseinandersetzungen amerikanischer Gegenwartsautoren mit derlei Themen entstellt, ist die Abstinenz der Dichtung gegenüber den einschlägigen populären Genres. Die Hipster-Literaten lassen deren Errungenschaften nur als Ornament zu: Sie lesen, wenn sie sich der Computerwelt zuwenden, vorher nicht genug Science-fiction, sie umschiffen, wenn sie einen Mord behandeln, zweihundert Jahre Kriminalliteratur, und sie schreiben, wenn sie sich wie Boyle in Werken wie "Willkommen in Wellville", "Riven Rock" oder nun eben in "Dr. Sex" mit Sex abgeben, gänzlich unbeleckt von jedem Kontakt mit zeitgenössischer Pornographie.
Nichts in diesem Buch atmet also die melancholische Weisheit von "Scarlet Diva", einer Filmsatire auf die Pornowelt der Mittzwanzigerin Asia Argento; nirgends kommt der von Kinsey vorbereitete, eben nicht einfach "befreite", sondern wie in Desinfektionsmittel gebadete, steril glamouröse American Sex so aufschlußreich vor wie in den Filmen der Firma "Vivid"; nie erreicht Boyle die unsentimental bestechende Datenfülle der nicht ohne Grund auf die Bestsellerliste der "New York Times" gelangten Autobiographie "How to . . . make love like a porn star" von Jenna Jamerson, der erfolgreichsten Pornodarstellerin aller Zeiten.
Denn Boyle interessiert sich nicht für Proben dessen, was uns trotz überwundener Nachkriegsbigotterie immer noch beschäftigt, sondern für das, was in einem kleinen Zirkel elitärer Sexkundschafter ausgekocht wird. Die Vermutung liegt nahe, daß er das tut, weil solche Vorgänge seiner Idee davon entgegenkommen, was der gleichfalls kleine Zirkel wissender, erzähltechnisch hochgerüsteter Zeitschriftsteller leisten kann. Boyle steht zu Pynchon wie sein Erzähler Milk zu Kinsey; das Thema Ferkelwelt aber ist einfach zu komplex und zu schade, um für solche obsoleten Edelfeder-Inszenierungen den billigen Hintergrund abzugeben.
T. Coraghessan Boyle: "Dr. Sex". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2005. 468 S., geb. , 24,90 [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Danach ist alles erst einmal ein bißchen unscharf: "Dr. Sex", T.C. Boyles Roman über den Sexualstatistiker Alfred Kinsey und die praktischen Seiten der Theorie
Vor elf Jahren, als T. C. Boyle etwa die halbe Wegstrecke von der heißen Kultfigur in der Nachbarschaft eines Chadwick oder Gibson zum coolen Kritikerliebling auf Augenhöhe mit Paul Auster oder Don DeLillo zurückgelegt hatte, durfte ihn "Mondo 2000", die klügere, weniger technotrottelig kleinkarierte und inzwischen leider eingegangene Cousine der Zeitschrift "Wired", zu seinem Literaturverständnis und zum Umgang mit zeitgeschichtlichen Stoffen befragen. Boyle hatte glücklicherweise gerade seinen entspannten Tag und gab zu Protokoll: "Ich bin kein James Michener oder irgend so ein traditioneller historischer Romancier, der sich für die Rekonstruktion des Gewesenen interessiert. Ich möchte diese Sachen als Sprungbretter der Vorstellungskraft behandeln, als Abstoßungspunkte für die Untersuchung eines abstrakten Themas. Das ähnelt ein bißchen dem, wie sich Science-fiction-Autoren die Zukunft vorstellen. Es ist so ein Ort. Es ist halt so ein Ding."
So ein Ding ist auch "Dr. Sex", Boyles neues und über weiteste Strecken gewohnt charmantes und lebhaftes Buch. Es geht darin um das Leben und Wirken jenes Professors Kinsey (oder "Prok", wie er hier - der Spitzname ist historisch verbürgt - neckisch-vertraulich heißt), der mit seinen sexualstatistisch-soziometrischen Forschungen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren einiges bewegt hat. Je nachdem, wen man in den Vereinigten Staaten der Gegenwart dazu befragt, hat Kinsey entweder a.) in heilsamer Weise die Fassade neobiedermeierlicher Normalität in "God's Own Country" gesprengt und Praktiken aufs Lebensstil-Menü gesetzt, die bis dahin nur im Dunkeln zu sich selbst kommen durften, oder aber b.) pädophilen, homosexuellen Gottesleugnern, Leibvergiftern und Fruchtabtreibern bei ihrem Ansturm auf alles, was den Untergang des Abendlandes noch verhindern kann, nach Kräften assistiert. (Zutreffendes bitte ankreuzen, der Mann liebte Multiple-Choice-Fragebögen.)
So lang die mitunter breit farcen- und fratzenhafte Geschichte dauert, schlüpft Boyle in die Larve des hochgradig unzuverlässigen Erzählers John Milk, der wohl eher nicht nach der ermordeten Homosexuellen-Ikone Harvey Milk so heißt, sondern vielmehr die Käsigkeit, Homogenität und Pasteurisiertheit der prüden Fünfziger als Nachnamensbuckel mit sich herumschleppen soll. Milk stößt als Helfer und Apostel zur Sexologen-Urgemeinde - "Ich lernte. Von Prok. Vom Meister persönlich. Und ich zuckte nicht zusammen, ich schlug nicht die Augen nieder, mein Gesicht verriet nichts" - und muß trotz vorbildlicher Neugier und Belastbarkeit bald erleben, daß nicht nur die tabellarisch aufbereitete Horizonterweiterung, sondern auch das, "was ich mit Mac und Prok im Bett getrieben hatte", sein Leben neu formatiert, seine emotionale Bindungsfähigkeit in Gefahr bringt.
Das Ganze ist, wie bei diesem Thema nicht anders zu erwarten, vor allem ein Buch der schönen Stellen. Das sind nicht unbedingt säuische, sondern eher niedlich-peinliche wie jene, in der Boyle beschreibt, daß auch noch die Mutter des Erzählers in den Sog der Sexvermessung gerät wie in einen metabolisch-diskursiven Superstaubsauger: "Prok, nahm ich an, hatte über das Projekt gesprochen und sie wie praktisch jeden anderen davon überzeugt, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte meiner Mutter. Am folgenden Tag oder noch am selben Abend würde sie ihm zwei Stunden lang gegenübersitzen und die dreihundertfünfzig Fragen beantworten: Über ihre Masturbationsgewohnheiten, wie oft sie sich selbst bis zum Orgasmus stimulierte und mit welchen Männern sie seit dem Tod meines Vaters geschlafen hatte."
Daß "danach alles ein bißchen unscharf" wird für den armen Ödipus, kann man ihm durchaus nachfühlen. Obwohl der Leser gerne über Strecke von gut vierhundertfünfzig Seiten folgt, bleibt das Ganze letztlich - und hier bietet sich ein Wort aus der untersuchten problematischen Sphäre selbst an - unbefriedigend.
Was nämlich Boyles heitere Pointenfolge auf die lange narrative Strecke nachhaltig ausdünnt, den Erzählton mitunter geradezu brüchig und schütter macht und den Spaß am ausgebreiteten Einfallsreichtum gleichsam von innen her angreift, ist die metaphysisch-zeitkritische Grundannahme, die der Autor mit vielen ihm intellektuell unterlegenen Leuten teilt: die falsche Vorstellung, Sexualität stehe im spätabendländischen Kulturkreis vor allem unter dem Bann von Wissenschaft und Technokratie.
Diese These hat die Evidenz von Ratgeberliteratur und zu bloßer Ejakulationsstatistik verflachter Aufklärung für sich, den ganzen seichten, aber beichtfreudig-exhibitionistischen Positivismus. Diese Faktoren gibt es durchaus, aber sie sind abgeleitete. Denn im großen Remmidemmi um die Lust, das man im nachsexualrevolutionären Westen täglich angedreht bekommt, sind die klinischen und szientistischen Töne Momente einer viel größeren Dynamik, und die ist wesentlich nicht technisch oder wissenschaftlich, sondern kulturindustriell, das heißt: pornographisch und phantastisch, geleitet von Vorstellungen, nicht von Befunden. Heute wissen wahrscheinlich mehr junge Amerikaner über Entführungen von Menschen durch Außerirdische zum Zweck der zweigeschlechtlichen Erzeugung bizarrer Hybridwesen Bescheid als über die Funktionsweise der wichtigsten Verhütungsmittel.
Der große Makel, der "Dr. Sex" ebenso wie viele andere literarische Auseinandersetzungen amerikanischer Gegenwartsautoren mit derlei Themen entstellt, ist die Abstinenz der Dichtung gegenüber den einschlägigen populären Genres. Die Hipster-Literaten lassen deren Errungenschaften nur als Ornament zu: Sie lesen, wenn sie sich der Computerwelt zuwenden, vorher nicht genug Science-fiction, sie umschiffen, wenn sie einen Mord behandeln, zweihundert Jahre Kriminalliteratur, und sie schreiben, wenn sie sich wie Boyle in Werken wie "Willkommen in Wellville", "Riven Rock" oder nun eben in "Dr. Sex" mit Sex abgeben, gänzlich unbeleckt von jedem Kontakt mit zeitgenössischer Pornographie.
Nichts in diesem Buch atmet also die melancholische Weisheit von "Scarlet Diva", einer Filmsatire auf die Pornowelt der Mittzwanzigerin Asia Argento; nirgends kommt der von Kinsey vorbereitete, eben nicht einfach "befreite", sondern wie in Desinfektionsmittel gebadete, steril glamouröse American Sex so aufschlußreich vor wie in den Filmen der Firma "Vivid"; nie erreicht Boyle die unsentimental bestechende Datenfülle der nicht ohne Grund auf die Bestsellerliste der "New York Times" gelangten Autobiographie "How to . . . make love like a porn star" von Jenna Jamerson, der erfolgreichsten Pornodarstellerin aller Zeiten.
Denn Boyle interessiert sich nicht für Proben dessen, was uns trotz überwundener Nachkriegsbigotterie immer noch beschäftigt, sondern für das, was in einem kleinen Zirkel elitärer Sexkundschafter ausgekocht wird. Die Vermutung liegt nahe, daß er das tut, weil solche Vorgänge seiner Idee davon entgegenkommen, was der gleichfalls kleine Zirkel wissender, erzähltechnisch hochgerüsteter Zeitschriftsteller leisten kann. Boyle steht zu Pynchon wie sein Erzähler Milk zu Kinsey; das Thema Ferkelwelt aber ist einfach zu komplex und zu schade, um für solche obsoleten Edelfeder-Inszenierungen den billigen Hintergrund abzugeben.
T. Coraghessan Boyle: "Dr. Sex". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2005. 468 S., geb. , 24,90 [Euro]
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In Europa werden Buch und Film über den Sexualforscher Kinsey kaum die gleiche Empörung hervorrufen wie in Amerika, ist sich Julia Encke sicher. Das eine hat aber mit dem anderen nicht viel zu tun, weiß sie auch: anders als Bill Condon in seinem Film "Kinsey" setze T.C. Boyle dem Wissenschaftler kein romantisches Denkmal. Eher portraitiere er ihn als egomanen Wissenschaftler, der vom Zweiten Weltkrieg oder der Atombombe keinerlei Notiz genommen hat. "Dr. Sex" wird aus der Warte eines (von Boyle erfundenen) Assistenten geschildert, berichtet die Rezensentin, der sich zwischen den Anforderungen seines Jobs und der ablehnenden Haltung seiner Frau zerrieben sehe. Job und Privatleben seien für John Milk nicht klar zu trennen, erläutert Encke, da Kinsey den völligen Einsatz seiner Mitarbeiter fordere, nicht nur zeitlich, sondern auch als Experimentiersubjekte. Was den Autor interessiere, sei der "bittere Beigeschmack der Befreiung", erklärt Encke, weshalb Boyle die ambivalenten Seiten dieses schonungslosen Sexaufklärers herausarbeite und dabei ein "aufregend quälendes Porträt" von Kinsey zustande gebracht habe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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