Dr. Weiss, der Protagonist in Lars Gustafssons letztem Roman, erlebt eine atemberaubende Reise durch Raum und Zeit.Mit seinem Auftrag, eine mythische Eisenkrone aufzuspüren, die als Intelligenzverstärker dient und seit dem Mittelalter verschollen ist, verlässt er die lineare Zeitstruktur und befindet sich an Orten, die sowohl in der Zukunft als auch in der Vergangenheit liegen können. So gerät er etwa in einem Hilbertraum in Gefangenschaft, von der er nicht weiß, ob sie mehrere Jahre oder nur wenige Minuten angedauert hat, oder trifft in einer wüstenähnlichen Landschaft auf Zwergenwesen, die sich in mit Propellern ausgestatteten Schiffen fortbewegen. Seine Reise führt ihn dabei auch in verschlossene Landschaften, die nur durch Schamanen geöffnet werden können.In einem zugleich leichten als auch dunklen und geheimnisvollen Ton führt Gustafsson in diesem Roman aus seinem Nachlass viele Motive und Themen seiner Autorschaft zusammen. In einem spannenden Szenario treffen Zukunft und Vergangenheit aufeinander und es eröffnen sich Räume, in denen eine Physik zutage tritt, die mit unseren herkömmlichen Vorstellungen von Welt nichts gemein hat.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2020Wir tapferen Schneider
Ein Romanfragment von Lars Gustafsson, aber ist es überhaupt ein Fragment? "Dr. Weiss' letzter Auftrag" spielt mit unseren Erwartungen.
Je tiefer es in den Winter hineinging, um so zahlreicher wurden die Phantasiegestalten, mit denen meine kleinen Kinder die Zimmer bevölkerten ...Mich beunruhigte es, wenn sie den ganzen Tag mit niemand anderem als mit ihren Phantasiegestalten redeten und keinen von uns Erwachsenen eines Blickes würdigten. Meine Frau, die klüger ist als ich, sah mich erstaunt an und sagte: - Aber das brauchen Sie doch!"
So las es sich vor fast fünfzig Jahren in "Herr Gustafsson persönlich", dem Roman, mit dem der vor vier Jahren so überraschend verstorbene schwedische Autor seinen großen Zyklus "Risse in der Mauer" eröffnete, dessen fünf Romane uns noch heute über die siebziger Jahre so viel zu erzählen haben wie kein anderes literarisches Großunternehmen jener Zeit. Ganz offensichtlich hat Gustafsson damals von seiner Frau und seinen Kindern gelernt, denn nur Kinder und sehr kluge Erwachsene wissen, dass es entschieden mehr Wirklichkeiten gibt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, und dass zur Erschließung dieser Wirklichkeiten unverzichtbar das Spiel gehört. Dieses Wissen hat er als Philosoph wie als Romancier und Lyriker vielfach umgesetzt, angefangen mit dem Spiel mit der eigenen Biographie in der bereits erwähnten Pentalogie über "Die dritte Rochade des Bernard Foy" bis zu jenem Romanfragment, das jetzt als "Dr. Weiss' letzter Auftrag" aus dem Nachlass herausgegeben worden ist.
Ist es aber wirklich ein Fragment? Lars Gustafssons Romane haben sich immer durch ihre offene Form mit stark essayistischen Anteilen ausgezeichnet. Sie waren Mosaike, die man sich als Leser - und vermutlich auch als Autor - auch in einer etwas anderen Ordnung zusammengefügt vorstellen konnte, und es waren Bücher, die man nicht las, um herauszufinden, "wie es ausgeht". Es geht nämlich nicht aus, sondern es geht immer weiter. Das Nachlassbuch beginnt gar mit "Das letzte Kapitel". Die Kurzfassung des Plots im Klappentext verspricht uns "eine atemberaubende Reise durch Raum und Zeit", was zweifellos richtig, aber auch sehr allgemein gehalten ist. Dr. Weiss, der Titelheld und Ich-Erzähler, erhält von einem nicht näher bezeichneten Ordensmeister den Auftrag, eine sagenhafte Eisenkrone aufzuspüren, die Zeugnis einer früheren Hochkultur sein könnte und als Intelligenzverstärker wirken soll. Bei der Ausführung dieses Auftrags trifft er unter anderem auf merkwürdige Zwergenwesen, die ein wenig an Tolkiens Hobbits erinnern, landet in einem Museum, in dem Dinge ausgestellt werden, die ihn an nichts ihm irgendwie Bekanntes erinnern, und auf einer Schiffswerft, die später brennen wird. Ein Schamane schließt ihm eine "verschlossene Landschaft" auf, und am Ende wird er in Lissabon einen Artikel "aus den verbotenen Büchern" lesen.
Das klingt nach Tolkien und Eco, nach Fantasy und Science-Fiction, nach der Phantasiewelt der Kinder von Herrn Gustafsson persönlich, ist aber alles andere als beliebig. Der Roman kreist um die beiden Begriffe der Wirklichkeit und der Geschichte, und zwar beides im Plural. Und er geht von einer Szene aus, die ganz zu Recht als Schlüsselszene auf der vierten Umschlagseite zitiert wird: "Fast alles, was ich sah oder dachte, ist sehr schwer, um nicht zu sagen unmöglich, in Worten wiederzugeben. Ich erinnerte mich plötzlich an die heftige Ohrfeige, die mir mein fetter, unrasierter Dorfschullehrer in der zweiten Klasse verabreichte, nachdem ich höflich gefragt hatte, warum fünf plus eins und eins plus fünf dasselbe Resultat ergeben, während fünf minus eins überhaupt nicht dasselbe macht wie eins minus fünf. Ich lernte etwas, an jenem grauen Nachmittag in dem nackten Klassenzimmer mit seinem Geruch nach nassen Wollsachen, über die ohnmächtige tiefe, rasende Wut, die die richtige Frage immer bei dem auslösen kann, der sie nicht zu beantworten vermag." Das Motiv der nassen "Wollsachen" erinnert deutlich an den gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1973 und an Lars Carlsson, einen fünfzehnjährigen Schüler in der mittelschwedischen Provinz, der ein mathematisches Genie ist, was aber außer seinem Lehrer Lars Herdin niemand begreift, der ihn vor der Stumpfheit des alltäglichen Schulbetriebs schließlich auch nicht retten kann.
Die algebraische Frage ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, dass auf der einen Grundlage (plus) Operationen möglich sind, die auf der anderen (minus) nicht funktionieren, das aber beide (hier mathematische) Wirklichkeiten durchaus existent sind. "Und plötzlich sah ich Zahlen. Nicht wie den üblichen langen Korridor, der kein Ende nehmen will, sondern wie einen Raum. Jede Zahl hatte ihren eigenen, und er war unendlich ... ich sah, wie jede Algebra ihren eigenen Raum schuf und wie die ungeheure Vielfalt des Raums begann, immer weniger der Welt zu gleichen, die ich vorgefunden hatte." Was aber nicht heißt, dass diese vorgefundene Welt "wirklicher" sei als die anderen Wirklichkeiten.
Da Dr. Weiss' Abenteuerreise in diesem Roman ihn nicht nur durch verschiedenste Räume, sondern auch durch verschiedenste Zeiten führt, lernt er früh, "nicht unaufhörlich über diese Sache mit der Zeit nachzudenken". Und kommt zu der Einsicht: "Ich weiß nicht, was ,vor' bedeutet. Genau genommen gibt es niemanden, der weiß, was vorher oder nachher bedeutet." Damit ändert sich natürlich auch der erlernte historische Blick und "gab mir das Gefühl, dass die Geschichte, die wirkliche Geschichte, ein abgrundtiefer Brunnenschacht war, der sich viel weiter erstreckte als das, was wir als Geschichte verstehen konnten". Entsprechend ruft auf der schon erwähnten Schiffswerft der Kompassbauer Achille Brocot - in der "wirklichen Geschichte" übrigens ein Uhrmacher und Amateurmathematiker aus dem neunzehnten Jahrhundert - im Gespräch mit Dr. Weiss aus: "Vergessen Sie die Historiker! Wann hat ein Historiker zum letzten Mal recht gehabt?"
Wenn die verschiedenen Räume, die Dr. Weiss zu durchqueren hat oder in denen er vorübergehend gefangen ist, die normalen Vorstellungen von oben und unten und links und rechts auflösen, so wird dieser Schwindel bei der "Verwechslung von vergangener und kommender Zeit ... umso tiefer." "Vielleicht", folgert Dr. Weiss, "ist dies die Erkenntnis, dass es keine endgültige Ordnung in der Zeit zwischen den Ereignissen gibt. Sie haben kein Gedächtnis. Möglicherweise ist es so, dass wir es sind, die sie ordnen."
Ganz sicher ist das so. Die Ereignisse selbst haben kein Gedächtnis, und wir machen uns daran, sie zu ordnen. Auch Lars Gustafsson hat das sein Leben lang getan, und zwar immer wieder neu, auf der Basis des ungeheuren Wissens, über das er verfügte, und zugleich in bescheidener Einschätzung seiner Möglichkeiten. Im hinterlassenen Roman findet er ziemlich zu Anfang das entsprechende Bild, "das Bild eines Schneiders - also des Insekts -, der souverän über eine blanke Wasserfläche gleitet, ohne zu ahnen, was sich darunter befindet. In gewisser Weise, habe ich in solchen Situationen immer gedacht, ist die ganze Angst kindisch." Der Philosoph Lars Gustafsson, so Michael Krüger treffend in seiner kurzen Nachbemerkung, "hat sich immer als einen ganz besonderen Aufklärer gesehen". Zur Aufklärung gehört, Licht ins Dunkel zu bringen, und zu ihr gehört auch, uns die Angst zu nehmen.
Das Bild des Schneiders wird kurz vor dem Ende noch einmal aufgenommen: "Wir, aber nicht nur wir, verhalten uns wie diese Insekten, Schneider, die unbekümmert auf einer dünnen, irisierenden Wasseroberfläche entlangreiten und keine Ahnung davon haben, wie abweichend, wie unwahrscheinlich ihre Existenz ist. Nicht nur unsere eigene, dieser ganze prekäre abnorme Zustand, den wir Universum nennen." Weit davon entfernt, ein Tadel zu sein, ist dieser Satz vielmehr eine ungeheure Ermutigung, unser Leben, trotz dieses "prekären abnormen Zustands", auf der irisierenden Wasseroberfläche weiterzuführen. Denn wenn es auch viele Welten gibt, wie hieß es 2009 in dem Roman "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme"? "Dies ist die einzige Welt, die wir haben." Bewegen wir uns weiter in ihr wie der Schneider auf der Wasseroberfläche, ohne Angst.
JOCHEN SCHIMMANG
Lars Gustafsson: "Dr. Weiss' letzter Auftrag". Roman.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 146 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Romanfragment von Lars Gustafsson, aber ist es überhaupt ein Fragment? "Dr. Weiss' letzter Auftrag" spielt mit unseren Erwartungen.
Je tiefer es in den Winter hineinging, um so zahlreicher wurden die Phantasiegestalten, mit denen meine kleinen Kinder die Zimmer bevölkerten ...Mich beunruhigte es, wenn sie den ganzen Tag mit niemand anderem als mit ihren Phantasiegestalten redeten und keinen von uns Erwachsenen eines Blickes würdigten. Meine Frau, die klüger ist als ich, sah mich erstaunt an und sagte: - Aber das brauchen Sie doch!"
So las es sich vor fast fünfzig Jahren in "Herr Gustafsson persönlich", dem Roman, mit dem der vor vier Jahren so überraschend verstorbene schwedische Autor seinen großen Zyklus "Risse in der Mauer" eröffnete, dessen fünf Romane uns noch heute über die siebziger Jahre so viel zu erzählen haben wie kein anderes literarisches Großunternehmen jener Zeit. Ganz offensichtlich hat Gustafsson damals von seiner Frau und seinen Kindern gelernt, denn nur Kinder und sehr kluge Erwachsene wissen, dass es entschieden mehr Wirklichkeiten gibt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, und dass zur Erschließung dieser Wirklichkeiten unverzichtbar das Spiel gehört. Dieses Wissen hat er als Philosoph wie als Romancier und Lyriker vielfach umgesetzt, angefangen mit dem Spiel mit der eigenen Biographie in der bereits erwähnten Pentalogie über "Die dritte Rochade des Bernard Foy" bis zu jenem Romanfragment, das jetzt als "Dr. Weiss' letzter Auftrag" aus dem Nachlass herausgegeben worden ist.
Ist es aber wirklich ein Fragment? Lars Gustafssons Romane haben sich immer durch ihre offene Form mit stark essayistischen Anteilen ausgezeichnet. Sie waren Mosaike, die man sich als Leser - und vermutlich auch als Autor - auch in einer etwas anderen Ordnung zusammengefügt vorstellen konnte, und es waren Bücher, die man nicht las, um herauszufinden, "wie es ausgeht". Es geht nämlich nicht aus, sondern es geht immer weiter. Das Nachlassbuch beginnt gar mit "Das letzte Kapitel". Die Kurzfassung des Plots im Klappentext verspricht uns "eine atemberaubende Reise durch Raum und Zeit", was zweifellos richtig, aber auch sehr allgemein gehalten ist. Dr. Weiss, der Titelheld und Ich-Erzähler, erhält von einem nicht näher bezeichneten Ordensmeister den Auftrag, eine sagenhafte Eisenkrone aufzuspüren, die Zeugnis einer früheren Hochkultur sein könnte und als Intelligenzverstärker wirken soll. Bei der Ausführung dieses Auftrags trifft er unter anderem auf merkwürdige Zwergenwesen, die ein wenig an Tolkiens Hobbits erinnern, landet in einem Museum, in dem Dinge ausgestellt werden, die ihn an nichts ihm irgendwie Bekanntes erinnern, und auf einer Schiffswerft, die später brennen wird. Ein Schamane schließt ihm eine "verschlossene Landschaft" auf, und am Ende wird er in Lissabon einen Artikel "aus den verbotenen Büchern" lesen.
Das klingt nach Tolkien und Eco, nach Fantasy und Science-Fiction, nach der Phantasiewelt der Kinder von Herrn Gustafsson persönlich, ist aber alles andere als beliebig. Der Roman kreist um die beiden Begriffe der Wirklichkeit und der Geschichte, und zwar beides im Plural. Und er geht von einer Szene aus, die ganz zu Recht als Schlüsselszene auf der vierten Umschlagseite zitiert wird: "Fast alles, was ich sah oder dachte, ist sehr schwer, um nicht zu sagen unmöglich, in Worten wiederzugeben. Ich erinnerte mich plötzlich an die heftige Ohrfeige, die mir mein fetter, unrasierter Dorfschullehrer in der zweiten Klasse verabreichte, nachdem ich höflich gefragt hatte, warum fünf plus eins und eins plus fünf dasselbe Resultat ergeben, während fünf minus eins überhaupt nicht dasselbe macht wie eins minus fünf. Ich lernte etwas, an jenem grauen Nachmittag in dem nackten Klassenzimmer mit seinem Geruch nach nassen Wollsachen, über die ohnmächtige tiefe, rasende Wut, die die richtige Frage immer bei dem auslösen kann, der sie nicht zu beantworten vermag." Das Motiv der nassen "Wollsachen" erinnert deutlich an den gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1973 und an Lars Carlsson, einen fünfzehnjährigen Schüler in der mittelschwedischen Provinz, der ein mathematisches Genie ist, was aber außer seinem Lehrer Lars Herdin niemand begreift, der ihn vor der Stumpfheit des alltäglichen Schulbetriebs schließlich auch nicht retten kann.
Die algebraische Frage ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, dass auf der einen Grundlage (plus) Operationen möglich sind, die auf der anderen (minus) nicht funktionieren, das aber beide (hier mathematische) Wirklichkeiten durchaus existent sind. "Und plötzlich sah ich Zahlen. Nicht wie den üblichen langen Korridor, der kein Ende nehmen will, sondern wie einen Raum. Jede Zahl hatte ihren eigenen, und er war unendlich ... ich sah, wie jede Algebra ihren eigenen Raum schuf und wie die ungeheure Vielfalt des Raums begann, immer weniger der Welt zu gleichen, die ich vorgefunden hatte." Was aber nicht heißt, dass diese vorgefundene Welt "wirklicher" sei als die anderen Wirklichkeiten.
Da Dr. Weiss' Abenteuerreise in diesem Roman ihn nicht nur durch verschiedenste Räume, sondern auch durch verschiedenste Zeiten führt, lernt er früh, "nicht unaufhörlich über diese Sache mit der Zeit nachzudenken". Und kommt zu der Einsicht: "Ich weiß nicht, was ,vor' bedeutet. Genau genommen gibt es niemanden, der weiß, was vorher oder nachher bedeutet." Damit ändert sich natürlich auch der erlernte historische Blick und "gab mir das Gefühl, dass die Geschichte, die wirkliche Geschichte, ein abgrundtiefer Brunnenschacht war, der sich viel weiter erstreckte als das, was wir als Geschichte verstehen konnten". Entsprechend ruft auf der schon erwähnten Schiffswerft der Kompassbauer Achille Brocot - in der "wirklichen Geschichte" übrigens ein Uhrmacher und Amateurmathematiker aus dem neunzehnten Jahrhundert - im Gespräch mit Dr. Weiss aus: "Vergessen Sie die Historiker! Wann hat ein Historiker zum letzten Mal recht gehabt?"
Wenn die verschiedenen Räume, die Dr. Weiss zu durchqueren hat oder in denen er vorübergehend gefangen ist, die normalen Vorstellungen von oben und unten und links und rechts auflösen, so wird dieser Schwindel bei der "Verwechslung von vergangener und kommender Zeit ... umso tiefer." "Vielleicht", folgert Dr. Weiss, "ist dies die Erkenntnis, dass es keine endgültige Ordnung in der Zeit zwischen den Ereignissen gibt. Sie haben kein Gedächtnis. Möglicherweise ist es so, dass wir es sind, die sie ordnen."
Ganz sicher ist das so. Die Ereignisse selbst haben kein Gedächtnis, und wir machen uns daran, sie zu ordnen. Auch Lars Gustafsson hat das sein Leben lang getan, und zwar immer wieder neu, auf der Basis des ungeheuren Wissens, über das er verfügte, und zugleich in bescheidener Einschätzung seiner Möglichkeiten. Im hinterlassenen Roman findet er ziemlich zu Anfang das entsprechende Bild, "das Bild eines Schneiders - also des Insekts -, der souverän über eine blanke Wasserfläche gleitet, ohne zu ahnen, was sich darunter befindet. In gewisser Weise, habe ich in solchen Situationen immer gedacht, ist die ganze Angst kindisch." Der Philosoph Lars Gustafsson, so Michael Krüger treffend in seiner kurzen Nachbemerkung, "hat sich immer als einen ganz besonderen Aufklärer gesehen". Zur Aufklärung gehört, Licht ins Dunkel zu bringen, und zu ihr gehört auch, uns die Angst zu nehmen.
Das Bild des Schneiders wird kurz vor dem Ende noch einmal aufgenommen: "Wir, aber nicht nur wir, verhalten uns wie diese Insekten, Schneider, die unbekümmert auf einer dünnen, irisierenden Wasseroberfläche entlangreiten und keine Ahnung davon haben, wie abweichend, wie unwahrscheinlich ihre Existenz ist. Nicht nur unsere eigene, dieser ganze prekäre abnorme Zustand, den wir Universum nennen." Weit davon entfernt, ein Tadel zu sein, ist dieser Satz vielmehr eine ungeheure Ermutigung, unser Leben, trotz dieses "prekären abnormen Zustands", auf der irisierenden Wasseroberfläche weiterzuführen. Denn wenn es auch viele Welten gibt, wie hieß es 2009 in dem Roman "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme"? "Dies ist die einzige Welt, die wir haben." Bewegen wir uns weiter in ihr wie der Schneider auf der Wasseroberfläche, ohne Angst.
JOCHEN SCHIMMANG
Lars Gustafsson: "Dr. Weiss' letzter Auftrag". Roman.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 146 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Franz Haas vermisst ein wenig die "eloquente Ironie" und das "raffinierte Erzählen" von Lars Gustafsson in diesem aus dem Nachlass erscheinenden Roman. Etwas schwer verständlich nimmt der Autor hier noch einmal seine Lebensthemen Philosophie, Musik und Mathematik auf, meint Haas, kreiert schöne Sinnbilder und Allegorien. Gustafssons eher "dürre" Sprache in diesem Spätwerk lässt Haas allerdings fast verhungern. Der Rezensent sehnt sich nach früheren Werken, wie "Die Sache mit dem Hund" oder "Frau Sorgedahls schöne weisse Arme".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»(eine) abenteuerliche und atemberaubende Geschichte, deren kurvenreicher Verlauf dem Erzähler Gustafsson sichtlich Vergnügen bereitet hat« (Jörg Magenau, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 12.02.2020) »Auch wer im Fantasy-Genre nicht heimisch ist, lässt sich vom listigen Parlando des Meisters gern verführen.« (Manfred Papst, NZZ Bücher am Sonntag, 23.02.2020) »Nicht nur elegant, sondern furios bewegt sich Gustafsson selbst zwischen den Zeiten« (Judith v. Sternburg, Frankfurter Rundschau, 21.03.2020) »Ist (der Roman) aber wirklich ein Fragment? Lars Gustafssons Romane haben sich immer durch ihre offene Form mit stark essayistischen Anteilen ausgezeichnet.« (Jochen Schimmang, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.04.2020) »ein intelligentes Lesevergnügen, ein Gedankenlabyrinth zwischen Traum und Wirklichkeit« (Carola Wiemers, Deutschlandfunk Büchermarkt, 05.05.2020) »Wenn nun sein hinterlassener Roman (...) unvollendet geblieben ist, dann ist er es sozusagen auf eine kongeniale Weise, ein klaffend offenes Kunstwerk!« (Hermann Wallmann, WDR Mosaik, 13.03.2020) »ein spannendes, aus Mythos und Science-Fiction schöpfendes skurriles Puzzle seiner vielfältigen Themen und Motive« (Erika Deiss, Mannheimer Morgen, 14.02.2020) »Lars Gustafsson spielt mit uns. Wer mitspielen will, hat sein Vergnügen.« (Rainer Glas, lesenswert, 23.06.2020) »(ein) furioser Roman« (Thomas Plaul, Lesart 2/2020)