Dämonen im Kopf
In seinem aktuellen Buch beschäftigt sich Oliver Sacks, Neurologe und Schriftsteller, mit Halluzinationen. Sacks differenziert seine Darstellungen: „In der Regel sprechen wir von Fehlwahrnehmungen oder Sinnestäuschungen, wenn es einen realen Ausgangspunkt gibt – eine menschliche
Gestalt zum Beispiel -, während Halluzinationen aus dem Nichts entstehen.“ Das Buch enthält…mehrDämonen im Kopf
In seinem aktuellen Buch beschäftigt sich Oliver Sacks, Neurologe und Schriftsteller, mit Halluzinationen. Sacks differenziert seine Darstellungen: „In der Regel sprechen wir von Fehlwahrnehmungen oder Sinnestäuschungen, wenn es einen realen Ausgangspunkt gibt – eine menschliche Gestalt zum Beispiel -, während Halluzinationen aus dem Nichts entstehen.“ Das Buch enthält zahlreiche Fallgeschichten. Betroffene berichten, wie sie das Phänomen Halluzination erleben und wie es sich auswirkt.
Reizentzug kann Halluzinationen hervorrufen. In Dunkelheit und Isolation gehaltene Gefangene kennen das Phänomen, aber auch Seefahrer, Piloten oder Bergsteiger sind gefährdet, wegen visueller Monotonie Halluzinationen hervorzurufen. Ist das auch die Erklärung für die Irrlichter, die Goethe auf einer Kutschfahrt nach Leipzig wahrgenommen und in seiner Autobiographie beschrieben hat? Für Ufo-Erscheinungen oder Entführungen durch Außerirdische bieten sich hier plausible Erklärungen an. Das Phänomen ist eher im Kopf als außerhalb zu suchen.
Halluzinationen sind nicht auf Erscheinungen begrenzt, sondern können auch Gerüche oder Töne umfassen. Sacks macht deutlich, dass nicht jede halluzinierte Stimme auf Schizophrenie schließen lässt. Bei extremer Bedrohung oder Gefährdung kann es passieren, das Menschen Stimmen wahrnehmen, die keine äußere Ursache haben. Anders zu bewerten sind feindselige und zudringliche Stimmen. Auch musikalische Halluzinationen sind bekannt.
Wie schon in seinem Buch „Das innere Auge“, lässt Sacks eigene Erfahrungen einfließen. Dies gilt insbesondere für seine Experimente in den 1950er Jahren mit Cannabis, Mescalin, LSD und anderen bewusstseinsverändernden Drogen. Auf Mutterkorn geht er nicht ein, wenngleich dessen Wirkstoff Psilocibin angesprochen wird. Seine Offenheit und seine Erlebnisse tragen dazu bei, dass es sich um ein lebendiges Werk handelt und nicht um ein staubtrockenes Wissenschaftsbuch.
Sacks klärt über Migräne und Epilepsie auf, zwei Krankheiten, die leicht verwechselt werden. In beiden Fällen sind Halluzinationen möglich. Dostojewski hat seine Erlebnisse bei Anfällen in seine Bücher einfließen lassen, z.B. in „Der Idiot“. Ekstatische Anfälle können als Offenbarungen einer höheren Wirklichkeit empfunden werden. Sie können die Grundüberzeugungen betroffener Menschen nachhaltig erschüttern und zu Religiösität führen. Auch außerkörperliche Erfahrungen sind möglich.
Oliver Sacks verfügt über eine langjährige Praxis und versteht es, komplexe Krankheiten verständlich zu beschreiben. Er hat ein Faible für kuriose Erfahrungen, die er sachlich und niemals verletzend darstellt. Sein Buch trägt dazu bei, Grenzerfahrungen einzuordnen. Im letzten Kapitel deutet er an, dass visuelle und akustische Halluzinationen („Visionen“ und „Stimmen“) in der Kulturgeschichte eine Rolle gespielt haben. Das wäre ein interessantes Thema für ein weiteres Buch. Es ist schon erstaunlich, wozu das Gehirn in der Lage ist. Der Mensch bleibt rätselhaft.