Amir, Sohn eines wohlhabenden Paschtunen, verbindet eine enge Freundschaft mit Hassan, dem Sohn des Hausdieners. Die Jungen verbringen ihre Kindheit wie Brüder, und zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört es, Drachen steigen zu lassen. Doch eines Tages begeht Amir auf furchtbare Weise Verrat an Hassan und ihre Freundschaft zerbricht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2021WIEDERENTDECKT WAS ES WERT IST, NOCH EINMAL AUS DEM REGAL GEZOGEN ZU WERDEN
Auf einmal ist das alles wieder wichtig. Ethnische Zugehörigkeiten, etwa Hasara oder Nicht-Hasara. Bartlänge. Pickups. Sonnenbrillen. Dabei ist Afghanistan nicht nur dieses Land, das Land der Taliban, sondern auch die Zeit davor und danach, die Granatapfelbäume, das Rosenwasser-Eis, die Dächer des Wasir-Akbar-Khan-Viertels in Kabul. Und dass die Welt den Reichtum dieses zweiten Afghanistans kennengelernt hat, ist das große Verdienst Khaled Hosseinis. Sein „Drachenläufer“ ist die Coming-of-Age-Geschichte des 12-jährigen Amir und seines Hasara-Freundes Hassan, ein Epos von Freundschaft, Verrat und Versöhnung über die Generationen hinweg. „Drachenläufer“ erschien 2003, wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Gerade erst war das Land von den Taliban befreit worden, aber was wusste die Welt schon über Afghanistan? Was weiß sie heute? Mag sein, dass die Figuren höchstens mittelfein gezeichnet sind, die Dialoge bessere Kalendersprüche und manche Szene outright Kitsch. Die Vorurteile über Afghanistan sind jedoch auch nicht subtiler. ZRI
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Fischer, Frankfurt 2019. 384 Seiten, 12 Euro.
Ahmed Rashid hat seine eigene Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Nach seiner Zeit an der Cambridge University zog es ihn Ende der 60er-Jahre in die Hügel Beluchistans, wo er zehn Jahre lang bekämpfte, was er als Unheil für seine Heimat ansah. Es waren Lehrjahre, die Rashid teuer bezahlte. Sein Widerstand gegen Pakistans Militärdiktatur zahlte sich nicht aus. So verlagerte er sich auf ein anderes Geschäft: das Schreiben. Ahmed Rashid war der unbestritten beste Kenner Afghanistans und Pakistans, ehe nach dem 11. September 2001 Hunderte neue Experten auftauchten. Rashid darf für sich in Anspruch nehmen, Lehrmeister all jener Taliban-, Afghanistan- und Paschtunen-Deuter zu sein – die Urquelle, sozusagen. Seine Bücher „Taliban“ und „Sturz ins Chaos“ sind Referenzwerke mit anhaltender Gültigkeit. Rashid selbst wurde zum gefragten Gesprächspartner in Regierungszentralen, Universitätsforen und Geheimdienstzirkeln. Die New York Times schrieb einmal, Rashid habe sich über all die Jahre als „Prophet dieser Region erwiesen, allerdings mehr vom Typ Cassandras“. ELI
Ahmed Rashid, Sturz ins Chaos. Leske, Düsseldorf 2010. 340 Seiten, 19,90 Euro.
Als die Taliban 2001 aus Kandahar flohen, hinterließen sie einen Schatz, der mehr über sie verriet, als ihnen wohl bewusst war. In den Fotostudios der Stadt, die sie erst geschlossen – Bilderverbot! –, dann wieder geöffnet hatten – Ausweise! –, hatten einige von ihnen Porträts machen lassen und nie abgeholt. Aus den Aufnahmen hat der deutsche Fotograf Thomas Dworzak den verblüffenden Bildband „Taliban“ kompiliert. Dass die Kämpfer mit Kalaschnikows posierten, war zu erwarten. Aber mit Blumenschalen? Notizblock und Bleistift? Einige ließen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kolorieren, was Vintage-Effekte wie bei Stummfilm-Stills ergab. Andere gruppierten sich vor dem Hintergrund reetgedeckter Dächer. Viele schwärzten sich mit Kajal die Augen, zauberten sich mit Make-up zarte Röte ins Gesicht. Schmiegten die Schultern aneinander, hielten Hand. Es sind träumerische Aufnahmen voller Sinnlichkeit und Männererotik. Aber es liegt auch eine Sehnsucht über diesen Bildern, und wenn man so will, Vergeblichkeit. Deren Ursachen und Folgen wiederum waren: die Taliban selbst. ZRI
Thomas Dworzak: Taliban. Fotobuch-Edition, Freiburg 2003. 128 Seiten, 24,95 Euro.
„Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen“ ist ein zutiefst berührendes Buch. Gleichzeitig ein Horrortrip durch Jahrzehnte des Krieges. Sira Shakib, deutsch-iranische Autorin und Regisseurin, beschreibt Afghanistans Tragödie am Beispiel einer Frau, Shirin-Gol, von deren Kindheit vor der Sowjet- Invasion 1979 bis zum Sturz der Taliban 2001. Shirin-Gol hat keine Chance auf menschenwürdiges Leben, wird zum Symbol für das Schicksal ihres Landes und vor allem seiner Frauen, denen die Autorin 2002 eine Stimme gab. Ihr Buch wurde weltweit zum Bestseller. Sira Shakib hat die westliche Intervention zunächst begrüßt, Nato und Bundeswehr in Fragen zu Land und Menschen beraten. Hätten sie doch besser zugehört. Das Buch liest sich heute wie ein Menetekel, was den Afghanen wohl erneut bevorsteht: „Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein.“ JKÄ
Sira Shakib, Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen. Random House eBook, 2001. 320 Seiten, 9,99 Euro.
„Der Gatigal-Gebirgsausläufer ist in Mondlicht getaucht, und in den silbrigen Schatten der Stechpalmen sieht er feindliche Kämpfer, die Josh Brennan den Berghang hinunter schleifen. Er leert sein M4-Magazin auf sie und läuft los zu seinem Freund.“ Die lakonische und doch unter die Haut gehende Reportage des US-Autors Sebastian Junger: „War. Ein Jahr im Krieg“ beschreibt Leben, Kampf und Sterben von US-Soldaten im Korengal-Tal, einem der entlegensten Außenposten der US-Armee in Afghanistan. Junger hat 2007 dort Monate verbracht, näher konnte ein Journalist dem Krieg nicht kommen. Es ist ein Mikrokosmos des Wahnsinns und extremer Gewalt, in dem sich bereits die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. Der Soldat Brennan stirbt. Bald darauf gibt die US-Armee das Korengal-Tal auf. JKÄ
Sebastian Junger: War. Ein Jahr im Krieg. Pantheon, München 2012. 336 Seiten, antiquarisch.
Zinkjungen hießen die Gefallenen in dem Afghanistankrieg, den die Sowjetunion in den Achtzigern aus heute fast vergessenen Gründen geführte hatte. Zink, weil die verschweißten Särge der sowjetischen Armee damals aus dem Metall bestanden und Jungen, weil die Soldaten oft gerade 18 Jahre alt waren. Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat nach dem Krieg mit Dutzenden Zeitzeugen gesprochen – Feldwebeln, Krankenschwestern, Pionieren, Müttern –, und ist 1986 als Journalistin nach Afghanistan gereist. Die Protokolle und ihre eigenen Erfahrungen hat sie zu kurzen, persönlichen Berichten verdichtet. Die Fakten stimmen, ihre Zusammenstellung ist neu. Liest man Alexijewitsch heute, sind es vor allem die Details, die wie aus dem Jetzt wirken: Eine Frau träumt von Flügen mit Militärmaschinen zwischen Taschkent und Kabul, Soldaten zweifeln am Sinn ihres Einsatzes, Kinder, die der Krieg versehrt hat, stehen in der Wüste am Straßenrand. Es geht nicht um akkurate Geschichtsschreibung, sondern um eine Ideengeschichte der Emotionen und Erlebnisse. FREU
Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Suhrkamp, Berlin 2016. 317 Seiten, 11 Euro.
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Auf einmal ist das alles wieder wichtig. Ethnische Zugehörigkeiten, etwa Hasara oder Nicht-Hasara. Bartlänge. Pickups. Sonnenbrillen. Dabei ist Afghanistan nicht nur dieses Land, das Land der Taliban, sondern auch die Zeit davor und danach, die Granatapfelbäume, das Rosenwasser-Eis, die Dächer des Wasir-Akbar-Khan-Viertels in Kabul. Und dass die Welt den Reichtum dieses zweiten Afghanistans kennengelernt hat, ist das große Verdienst Khaled Hosseinis. Sein „Drachenläufer“ ist die Coming-of-Age-Geschichte des 12-jährigen Amir und seines Hasara-Freundes Hassan, ein Epos von Freundschaft, Verrat und Versöhnung über die Generationen hinweg. „Drachenläufer“ erschien 2003, wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Gerade erst war das Land von den Taliban befreit worden, aber was wusste die Welt schon über Afghanistan? Was weiß sie heute? Mag sein, dass die Figuren höchstens mittelfein gezeichnet sind, die Dialoge bessere Kalendersprüche und manche Szene outright Kitsch. Die Vorurteile über Afghanistan sind jedoch auch nicht subtiler. ZRI
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Fischer, Frankfurt 2019. 384 Seiten, 12 Euro.
Ahmed Rashid hat seine eigene Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Nach seiner Zeit an der Cambridge University zog es ihn Ende der 60er-Jahre in die Hügel Beluchistans, wo er zehn Jahre lang bekämpfte, was er als Unheil für seine Heimat ansah. Es waren Lehrjahre, die Rashid teuer bezahlte. Sein Widerstand gegen Pakistans Militärdiktatur zahlte sich nicht aus. So verlagerte er sich auf ein anderes Geschäft: das Schreiben. Ahmed Rashid war der unbestritten beste Kenner Afghanistans und Pakistans, ehe nach dem 11. September 2001 Hunderte neue Experten auftauchten. Rashid darf für sich in Anspruch nehmen, Lehrmeister all jener Taliban-, Afghanistan- und Paschtunen-Deuter zu sein – die Urquelle, sozusagen. Seine Bücher „Taliban“ und „Sturz ins Chaos“ sind Referenzwerke mit anhaltender Gültigkeit. Rashid selbst wurde zum gefragten Gesprächspartner in Regierungszentralen, Universitätsforen und Geheimdienstzirkeln. Die New York Times schrieb einmal, Rashid habe sich über all die Jahre als „Prophet dieser Region erwiesen, allerdings mehr vom Typ Cassandras“. ELI
Ahmed Rashid, Sturz ins Chaos. Leske, Düsseldorf 2010. 340 Seiten, 19,90 Euro.
Als die Taliban 2001 aus Kandahar flohen, hinterließen sie einen Schatz, der mehr über sie verriet, als ihnen wohl bewusst war. In den Fotostudios der Stadt, die sie erst geschlossen – Bilderverbot! –, dann wieder geöffnet hatten – Ausweise! –, hatten einige von ihnen Porträts machen lassen und nie abgeholt. Aus den Aufnahmen hat der deutsche Fotograf Thomas Dworzak den verblüffenden Bildband „Taliban“ kompiliert. Dass die Kämpfer mit Kalaschnikows posierten, war zu erwarten. Aber mit Blumenschalen? Notizblock und Bleistift? Einige ließen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kolorieren, was Vintage-Effekte wie bei Stummfilm-Stills ergab. Andere gruppierten sich vor dem Hintergrund reetgedeckter Dächer. Viele schwärzten sich mit Kajal die Augen, zauberten sich mit Make-up zarte Röte ins Gesicht. Schmiegten die Schultern aneinander, hielten Hand. Es sind träumerische Aufnahmen voller Sinnlichkeit und Männererotik. Aber es liegt auch eine Sehnsucht über diesen Bildern, und wenn man so will, Vergeblichkeit. Deren Ursachen und Folgen wiederum waren: die Taliban selbst. ZRI
Thomas Dworzak: Taliban. Fotobuch-Edition, Freiburg 2003. 128 Seiten, 24,95 Euro.
„Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen“ ist ein zutiefst berührendes Buch. Gleichzeitig ein Horrortrip durch Jahrzehnte des Krieges. Sira Shakib, deutsch-iranische Autorin und Regisseurin, beschreibt Afghanistans Tragödie am Beispiel einer Frau, Shirin-Gol, von deren Kindheit vor der Sowjet- Invasion 1979 bis zum Sturz der Taliban 2001. Shirin-Gol hat keine Chance auf menschenwürdiges Leben, wird zum Symbol für das Schicksal ihres Landes und vor allem seiner Frauen, denen die Autorin 2002 eine Stimme gab. Ihr Buch wurde weltweit zum Bestseller. Sira Shakib hat die westliche Intervention zunächst begrüßt, Nato und Bundeswehr in Fragen zu Land und Menschen beraten. Hätten sie doch besser zugehört. Das Buch liest sich heute wie ein Menetekel, was den Afghanen wohl erneut bevorsteht: „Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein.“ JKÄ
Sira Shakib, Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen. Random House eBook, 2001. 320 Seiten, 9,99 Euro.
„Der Gatigal-Gebirgsausläufer ist in Mondlicht getaucht, und in den silbrigen Schatten der Stechpalmen sieht er feindliche Kämpfer, die Josh Brennan den Berghang hinunter schleifen. Er leert sein M4-Magazin auf sie und läuft los zu seinem Freund.“ Die lakonische und doch unter die Haut gehende Reportage des US-Autors Sebastian Junger: „War. Ein Jahr im Krieg“ beschreibt Leben, Kampf und Sterben von US-Soldaten im Korengal-Tal, einem der entlegensten Außenposten der US-Armee in Afghanistan. Junger hat 2007 dort Monate verbracht, näher konnte ein Journalist dem Krieg nicht kommen. Es ist ein Mikrokosmos des Wahnsinns und extremer Gewalt, in dem sich bereits die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. Der Soldat Brennan stirbt. Bald darauf gibt die US-Armee das Korengal-Tal auf. JKÄ
Sebastian Junger: War. Ein Jahr im Krieg. Pantheon, München 2012. 336 Seiten, antiquarisch.
Zinkjungen hießen die Gefallenen in dem Afghanistankrieg, den die Sowjetunion in den Achtzigern aus heute fast vergessenen Gründen geführte hatte. Zink, weil die verschweißten Särge der sowjetischen Armee damals aus dem Metall bestanden und Jungen, weil die Soldaten oft gerade 18 Jahre alt waren. Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat nach dem Krieg mit Dutzenden Zeitzeugen gesprochen – Feldwebeln, Krankenschwestern, Pionieren, Müttern –, und ist 1986 als Journalistin nach Afghanistan gereist. Die Protokolle und ihre eigenen Erfahrungen hat sie zu kurzen, persönlichen Berichten verdichtet. Die Fakten stimmen, ihre Zusammenstellung ist neu. Liest man Alexijewitsch heute, sind es vor allem die Details, die wie aus dem Jetzt wirken: Eine Frau träumt von Flügen mit Militärmaschinen zwischen Taschkent und Kabul, Soldaten zweifeln am Sinn ihres Einsatzes, Kinder, die der Krieg versehrt hat, stehen in der Wüste am Straßenrand. Es geht nicht um akkurate Geschichtsschreibung, sondern um eine Ideengeschichte der Emotionen und Erlebnisse. FREU
Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Suhrkamp, Berlin 2016. 317 Seiten, 11 Euro.
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