Im Jahr 1975 ist Amir zwölf Jahre alt. Um seinem Vater seine Stärke zu beweisen, will er unbedingt bei einem Wettbewerb im Drachensteigen gewinnen. Dazu braucht er Hassans Hilfe. Hassan ist sein bester Freund. Obwohl sein Vater der Diener von Amirs Vater ist, hat die innige Freundschaft der Jungen allen Herausforderungen standgehalten. Bis zum Ende dieses erfolgreichen Wettkampfes, als Amir sie auf schreckliche Weise verrät.
Die dramatische Geschichte einer Freundschaft, eine Geschichte von Liebe und Verrat, Trennung und Wiedergutmachung vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit Afghanistans.
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Verrat und Sühne
Amir, Sohn eines wohlhabenden Paschtunen, verbindet eine enge Freundschaft mit Hassan, dem Sohn des Hausdieners. Die Jungen verbringen ihre Kindheit wie Brüder, und zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört es, Drachen steigen zu lassen. Doch eines Tages begeht Amir auf furchtbare Weise Verrat an Hassan, ihre Freundschaft zerbricht. Jahrzehnte später sieht Amir dann die Gelegenheit, seinen schlimmen Fehler wiedergutzumachen. Doch gleichzeitig zweifelt er daran, die große Schuld, die er als Kind auf sich geladen hat, so viele Jahre später sühnen zu können.
Ob man es nun als die bewegende Geschichte einer Freundschaft oder als Parabel auf Afghanistan und die Möglichkeiten eines Neubeginns liest: Literarisch ist dieses Buch ein Glücksfall. Die stilistische Eleganz, die wunderbar lebendige Sprache, die kunstvoll konstruierte Handlung - für einen Roman-Erstling ist Drachenläufer unglaublich gut erzählt. Und beinahe en passant gewährt der Autor Einblick in die Geschichte und den Alltag des Landes. Wenn der Leser Amir in das friedliche Kabul der 70er Jahre folgt, vergisst er die Bilder von russischen Panzern und Taliban-Kämpfern. Der Drachenläufer gibt Hoffnung - und zwar auf eine Weise, wie es nur die Literatur vermag. Übrigens hat man sie in den letzten Jahren wieder gesichtet: die Drachen am Himmel Afghanistans.
(Roland Große Holtforth)
Verrat und Sühne
Amir, Sohn eines wohlhabenden Paschtunen, verbindet eine enge Freundschaft mit Hassan, dem Sohn des Hausdieners. Die Jungen verbringen ihre Kindheit wie Brüder, und zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört es, Drachen steigen zu lassen. Doch eines Tages begeht Amir auf furchtbare Weise Verrat an Hassan, ihre Freundschaft zerbricht. Jahrzehnte später sieht Amir dann die Gelegenheit, seinen schlimmen Fehler wiedergutzumachen. Doch gleichzeitig zweifelt er daran, die große Schuld, die er als Kind auf sich geladen hat, so viele Jahre später sühnen zu können.
Ob man es nun als die bewegende Geschichte einer Freundschaft oder als Parabel auf Afghanistan und die Möglichkeiten eines Neubeginns liest: Literarisch ist dieses Buch ein Glücksfall. Die stilistische Eleganz, die wunderbar lebendige Sprache, die kunstvoll konstruierte Handlung - für einen Roman-Erstling ist Drachenläufer unglaublich gut erzählt. Und beinahe en passant gewährt der Autor Einblick in die Geschichte und den Alltag des Landes. Wenn der Leser Amir in das friedliche Kabul der 70er Jahre folgt, vergisst er die Bilder von russischen Panzern und Taliban-Kämpfern. Der Drachenläufer gibt Hoffnung - und zwar auf eine Weise, wie es nur die Literatur vermag. Übrigens hat man sie in den letzten Jahren wieder gesichtet: die Drachen am Himmel Afghanistans.
(Roland Große Holtforth)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2003Von Kabul bis Kalifornien
Khaled Hosseini dekliniert Schuld und Sühne auf afghanisch
Kabul, Mitte der siebziger Jahre. Noch ist die Welt heil. Nur unter der Oberfläche, in den Kinderseelen, zeichnen die ersten Risse sich ab. Hassan und Amir sind Milchbrüder, wachsen gemeinsam auf. Amir ist der behütete Sohn eines reichen Kaufmanns, Hassan der ein Jahr jüngere Sohn seines Dieners. Beide haben ihre Mutter verloren, Amir bei der Geburt, Hassans Mutter verließ Mann und Kind, kaum daß der Sohn auf der Welt war: Er hatte eine Hasenscharte.
Die beiden Kinder könnten Freunde sein, und vielfach scheint es auch so, aber der strenge Ehrenkodex der afghanischen Gesellschaft, selbst der scheinbar verwestlichten Kabuler Bourgeoisie, stellt sich ihnen entgegen. Hassan ist nicht nur der Sohn eines Dieners, der dem Sohn des Herrn jeden Morgen das Frühstück zubereiten muß, er ist nicht nur entstellt und hat einen gehbehinderten Vater, er stammt auch von den Hazara ab, einer an ihren chinesischen Augen leicht zu erkennenden, von den übrigen Afghanen verachteten ethnischen Minderheit. Und so spielt Amir zwar tagein, tagaus mit Hassan, als einen gleichberechtigten Freund kann er ihn jedoch nicht anerkennen. Um so irritierender für Amir, daß sein Vater Hassan mehr Anerkennung zuteil werden läßt als ihm.
Aus dieser Konstellation heraus entwickelt der 1965 in Kabul geborene, seit 1980 im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller Khaled Hosseini in seinem ersten Roman ein komplexes und zugleich sehr persönliches Panorama der letzten dreißig Jahre afghanischer Geschichte. Die Perspektive, die er dabei einnimmt, ist die eines Helden wider Willen: Die gesamte, im Lauf des Buchs sich steigernde Dramatik scheint ihren Ausfluß allein aus der schuldbewußten Seele Amirs zu nehmen, der die Geschichte erzählt. Einmal, im entscheidenden Augenblick, verrät er seinen treuen Begleiter und Spielkameraden. Während eines Wettbewerbs im von den Kabuler Kindern geliebten Drachenspiel, bei dem es darum geht, den gegnerischen Drachen zu kappen und zu erjagen, fällt Hassan in die Hände eines im ganzen Viertel bekannten Sadisten, der sich an ihm vergeht. Amir schaut zu, ohne einzugreifen. Ihm ist allein wichtig, daß er den Wettbewerb und damit die Anerkennung seines Vaters gewinnt. Von da an kann er die Gegenwart Hassans nicht mehr ertragen und intrigiert gegen ihn, bis dieser das Haus verlassen muß.
Von der ausgetüftelten Konstruktion des Romans ahnt man als Leser bis zu dieser Stelle noch nichts. Die Geschichte ist flüssig, aber konventionell erzählt. Sieht man von den zahlreichen, oft unnötigen persischen Einsprengseln ab, ist die Sprache auf eine altväterliche Weise bloßes Mittel zur Darstellung. Aber das kennt man von den neuen amerikanischen Romanen, und auch Hosseinis Buch, obwohl so afghanisch in der Thematik, ist in seiner Machart durch und durch amerikanisch. Die sprachlichen Erschütterungen, von denen die orientalischen Autoren künden, die noch in ihren Muttersprachen schreiben, fechten diesen Autor nicht an. Vielmehr wirkt der Roman wie aus einem creative-writing-Seminar erwachsen. Man muß allerdings zugeben, daß er dieses mit Bestnote bestanden hätte.
Mit dem Beginn des sowjetischen Einmarsches fliehen Amir und sein Vater aus Kabul und beginnen in Kalifornien ein neues Leben. Amir heiratet und wird Schriftsteller, der Vater, den er zeitlebens ebenso bewunderte wie fürchtete, stirbt. Die Vergangenheit scheint abgeschlossen, das Gewissen beruhigt, bis ein alter Freund der Familie aus Pakistan anruft und Amir in geheimnisvollen Worten andeutet: "Es gibt eine Möglichkeit, es wiedergutzumachen." Genau in dieser Mitte des Buches greift der Erzähler nun alle bislang wie leer in der Luft hängenden Fäden wieder auf und begibt sich nach Pakistan. Der sorgfältig exponierte Showdown führt Amir nicht nur in die Hölle der Taliban, er enthüllt ihm auch das ehrenrührige Familiengeheimnis, das sein Vater mit ins Grab genommen hat.
Hassan, so erfährt Amir von Rahim Khan, ist von den Taliban ermordet worden. Sein Sohn, Suhrab, fristet ein elendes Dasein in einem heruntergekommenen Kabuler Waisenhaus. Die Möglichkeit der Wiedergutmachung bestünde darin, Suhrab aus Kabul herauszuholen und ihm eine Zukunft zu geben. Als Amir das ihm zu gefährlich scheinende Ansinnen ablehnt, greift Rahim Khan zu seinem letzten Mittel und offenbart ihm ein Geheimnis, das wir nicht verraten dürfen. Amir muß jedenfalls feststellen: "Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe gerade herausgefunden, daß mein ganzes Leben eine einzige, verdammte Lüge ist!" Nun erst begibt er sich nach Kabul und befreit Suhrab aus den Händen desselben, nun den Taliban dienenden Mannes, der einst Hassan vergewaltigte.
Das Buch endet ein halbes Jahr nach dem 11. September 2001. Es liegt nahe, diese tragische Familiengeschichte als eine ausgedehnte Parabel auf die jüngste Geschichte Afghanistans zu lesen. Suhrab, von Amir und seiner Frau adoptiert, scheint das Lächeln verlernt zu haben, bis am afghanischen Neujahrstag auf einer Feier der afghanischen Exilanten die Kinder wieder die Drachen steigen lassen. Den Kindern in Afghanistan geht es nicht anders: Nachdem die Taliban das Drachenspiel verboten hatten, sieht man sie heute an jedem Feiertag wieder zu Hunderten am Kabuler Himmel.
Doch ist "Drachenläufer" auch ein großes Gleichnis über Schuld und Sühne und über die Kunst des Verzeihens, die heute in Afghanistan am dringlichsten gebraucht wird. Das Urbild dafür in der afghanisch-persischen Literatur findet Hosseini bei dem alten Dichter Firdausi, der mit seinem "Shahname" zu Beginn des elften Jahrhunderts die persische Epik begründete. Vor allem spielt der Autor auf die Geschichte von Rostem und Suhrab an, die miteinander kämpfen, bis sich der tödlich getroffene Suhrab als Rostems Sohn zu erkennen gibt. Während im alten Epos Erkenntnis und Verzeihung zu spät kommen, hat Hosseini einen großen Roman über den Willen zu einem versöhnlichen Neuanfang geschrieben.
STEFAN WEIDNER
Khaled Hosseini: "Drachenläufer". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berlin Verlag, Berlin 2003. 376 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Khaled Hosseini dekliniert Schuld und Sühne auf afghanisch
Kabul, Mitte der siebziger Jahre. Noch ist die Welt heil. Nur unter der Oberfläche, in den Kinderseelen, zeichnen die ersten Risse sich ab. Hassan und Amir sind Milchbrüder, wachsen gemeinsam auf. Amir ist der behütete Sohn eines reichen Kaufmanns, Hassan der ein Jahr jüngere Sohn seines Dieners. Beide haben ihre Mutter verloren, Amir bei der Geburt, Hassans Mutter verließ Mann und Kind, kaum daß der Sohn auf der Welt war: Er hatte eine Hasenscharte.
Die beiden Kinder könnten Freunde sein, und vielfach scheint es auch so, aber der strenge Ehrenkodex der afghanischen Gesellschaft, selbst der scheinbar verwestlichten Kabuler Bourgeoisie, stellt sich ihnen entgegen. Hassan ist nicht nur der Sohn eines Dieners, der dem Sohn des Herrn jeden Morgen das Frühstück zubereiten muß, er ist nicht nur entstellt und hat einen gehbehinderten Vater, er stammt auch von den Hazara ab, einer an ihren chinesischen Augen leicht zu erkennenden, von den übrigen Afghanen verachteten ethnischen Minderheit. Und so spielt Amir zwar tagein, tagaus mit Hassan, als einen gleichberechtigten Freund kann er ihn jedoch nicht anerkennen. Um so irritierender für Amir, daß sein Vater Hassan mehr Anerkennung zuteil werden läßt als ihm.
Aus dieser Konstellation heraus entwickelt der 1965 in Kabul geborene, seit 1980 im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller Khaled Hosseini in seinem ersten Roman ein komplexes und zugleich sehr persönliches Panorama der letzten dreißig Jahre afghanischer Geschichte. Die Perspektive, die er dabei einnimmt, ist die eines Helden wider Willen: Die gesamte, im Lauf des Buchs sich steigernde Dramatik scheint ihren Ausfluß allein aus der schuldbewußten Seele Amirs zu nehmen, der die Geschichte erzählt. Einmal, im entscheidenden Augenblick, verrät er seinen treuen Begleiter und Spielkameraden. Während eines Wettbewerbs im von den Kabuler Kindern geliebten Drachenspiel, bei dem es darum geht, den gegnerischen Drachen zu kappen und zu erjagen, fällt Hassan in die Hände eines im ganzen Viertel bekannten Sadisten, der sich an ihm vergeht. Amir schaut zu, ohne einzugreifen. Ihm ist allein wichtig, daß er den Wettbewerb und damit die Anerkennung seines Vaters gewinnt. Von da an kann er die Gegenwart Hassans nicht mehr ertragen und intrigiert gegen ihn, bis dieser das Haus verlassen muß.
Von der ausgetüftelten Konstruktion des Romans ahnt man als Leser bis zu dieser Stelle noch nichts. Die Geschichte ist flüssig, aber konventionell erzählt. Sieht man von den zahlreichen, oft unnötigen persischen Einsprengseln ab, ist die Sprache auf eine altväterliche Weise bloßes Mittel zur Darstellung. Aber das kennt man von den neuen amerikanischen Romanen, und auch Hosseinis Buch, obwohl so afghanisch in der Thematik, ist in seiner Machart durch und durch amerikanisch. Die sprachlichen Erschütterungen, von denen die orientalischen Autoren künden, die noch in ihren Muttersprachen schreiben, fechten diesen Autor nicht an. Vielmehr wirkt der Roman wie aus einem creative-writing-Seminar erwachsen. Man muß allerdings zugeben, daß er dieses mit Bestnote bestanden hätte.
Mit dem Beginn des sowjetischen Einmarsches fliehen Amir und sein Vater aus Kabul und beginnen in Kalifornien ein neues Leben. Amir heiratet und wird Schriftsteller, der Vater, den er zeitlebens ebenso bewunderte wie fürchtete, stirbt. Die Vergangenheit scheint abgeschlossen, das Gewissen beruhigt, bis ein alter Freund der Familie aus Pakistan anruft und Amir in geheimnisvollen Worten andeutet: "Es gibt eine Möglichkeit, es wiedergutzumachen." Genau in dieser Mitte des Buches greift der Erzähler nun alle bislang wie leer in der Luft hängenden Fäden wieder auf und begibt sich nach Pakistan. Der sorgfältig exponierte Showdown führt Amir nicht nur in die Hölle der Taliban, er enthüllt ihm auch das ehrenrührige Familiengeheimnis, das sein Vater mit ins Grab genommen hat.
Hassan, so erfährt Amir von Rahim Khan, ist von den Taliban ermordet worden. Sein Sohn, Suhrab, fristet ein elendes Dasein in einem heruntergekommenen Kabuler Waisenhaus. Die Möglichkeit der Wiedergutmachung bestünde darin, Suhrab aus Kabul herauszuholen und ihm eine Zukunft zu geben. Als Amir das ihm zu gefährlich scheinende Ansinnen ablehnt, greift Rahim Khan zu seinem letzten Mittel und offenbart ihm ein Geheimnis, das wir nicht verraten dürfen. Amir muß jedenfalls feststellen: "Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe gerade herausgefunden, daß mein ganzes Leben eine einzige, verdammte Lüge ist!" Nun erst begibt er sich nach Kabul und befreit Suhrab aus den Händen desselben, nun den Taliban dienenden Mannes, der einst Hassan vergewaltigte.
Das Buch endet ein halbes Jahr nach dem 11. September 2001. Es liegt nahe, diese tragische Familiengeschichte als eine ausgedehnte Parabel auf die jüngste Geschichte Afghanistans zu lesen. Suhrab, von Amir und seiner Frau adoptiert, scheint das Lächeln verlernt zu haben, bis am afghanischen Neujahrstag auf einer Feier der afghanischen Exilanten die Kinder wieder die Drachen steigen lassen. Den Kindern in Afghanistan geht es nicht anders: Nachdem die Taliban das Drachenspiel verboten hatten, sieht man sie heute an jedem Feiertag wieder zu Hunderten am Kabuler Himmel.
Doch ist "Drachenläufer" auch ein großes Gleichnis über Schuld und Sühne und über die Kunst des Verzeihens, die heute in Afghanistan am dringlichsten gebraucht wird. Das Urbild dafür in der afghanisch-persischen Literatur findet Hosseini bei dem alten Dichter Firdausi, der mit seinem "Shahname" zu Beginn des elften Jahrhunderts die persische Epik begründete. Vor allem spielt der Autor auf die Geschichte von Rostem und Suhrab an, die miteinander kämpfen, bis sich der tödlich getroffene Suhrab als Rostems Sohn zu erkennen gibt. Während im alten Epos Erkenntnis und Verzeihung zu spät kommen, hat Hosseini einen großen Roman über den Willen zu einem versöhnlichen Neuanfang geschrieben.
STEFAN WEIDNER
Khaled Hosseini: "Drachenläufer". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berlin Verlag, Berlin 2003. 376 S., geb., 22,- [Euro].
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