Im Jahr 1975 ist Amir zwölf Jahre alt. Um seinem Vater seine Stärke zu beweisen, will er unbedingt bei einem Wettbewerb im Drachensteigen gewinnen. Dazu braucht er Hassans Hilfe. Hassan ist sein bester Freund. Obwohl sein Vater der Diener von Amirs Vater ist, hat die innige Freundschaft der Jungen allen Herausforderungen standgehalten. Bis zum Ende dieses erfolgreichen Wettkampfes, als Amir sie auf schreckliche Weise verrät.
Die dramatische Geschichte einer Freundschaft, eine Geschichte von Liebe und Verrat, Trennung und Wiedergutmachung vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit Afghanistans.
Lesekreisanhang als Leseprobe online verfügbar!
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Verrat und Sühne
Amir, Sohn eines wohlhabenden Paschtunen, verbindet eine enge Freundschaft mit Hassan, dem Sohn des Hausdieners. Die Jungen verbringen ihre Kindheit wie Brüder, und zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört es, Drachen steigen zu lassen. Doch eines Tages begeht Amir auf furchtbare Weise Verrat an Hassan, ihre Freundschaft zerbricht. Jahrzehnte später sieht Amir dann die Gelegenheit, seinen schlimmen Fehler wiedergutzumachen. Doch gleichzeitig zweifelt er daran, die große Schuld, die er als Kind auf sich geladen hat, so viele Jahre später sühnen zu können.
Ob man es nun als die bewegende Geschichte einer Freundschaft oder als Parabel auf Afghanistan und die Möglichkeiten eines Neubeginns liest: Literarisch ist dieses Buch ein Glücksfall. Die stilistische Eleganz, die wunderbar lebendige Sprache, die kunstvoll konstruierte Handlung - für einen Roman-Erstling ist Drachenläufer unglaublich gut erzählt. Und beinahe en passant gewährt der Autor Einblick in die Geschichte und den Alltag des Landes. Wenn der Leser Amir in das friedliche Kabul der 70er Jahre folgt, vergisst er die Bilder von russischen Panzern und Taliban-Kämpfern. Der Drachenläufer gibt Hoffnung - und zwar auf eine Weise, wie es nur die Literatur vermag. Übrigens hat man sie in den letzten Jahren wieder gesichtet: die Drachen am Himmel Afghanistans.
(Roland Große Holtforth)
Verrat und Sühne
Amir, Sohn eines wohlhabenden Paschtunen, verbindet eine enge Freundschaft mit Hassan, dem Sohn des Hausdieners. Die Jungen verbringen ihre Kindheit wie Brüder, und zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört es, Drachen steigen zu lassen. Doch eines Tages begeht Amir auf furchtbare Weise Verrat an Hassan, ihre Freundschaft zerbricht. Jahrzehnte später sieht Amir dann die Gelegenheit, seinen schlimmen Fehler wiedergutzumachen. Doch gleichzeitig zweifelt er daran, die große Schuld, die er als Kind auf sich geladen hat, so viele Jahre später sühnen zu können.
Ob man es nun als die bewegende Geschichte einer Freundschaft oder als Parabel auf Afghanistan und die Möglichkeiten eines Neubeginns liest: Literarisch ist dieses Buch ein Glücksfall. Die stilistische Eleganz, die wunderbar lebendige Sprache, die kunstvoll konstruierte Handlung - für einen Roman-Erstling ist Drachenläufer unglaublich gut erzählt. Und beinahe en passant gewährt der Autor Einblick in die Geschichte und den Alltag des Landes. Wenn der Leser Amir in das friedliche Kabul der 70er Jahre folgt, vergisst er die Bilder von russischen Panzern und Taliban-Kämpfern. Der Drachenläufer gibt Hoffnung - und zwar auf eine Weise, wie es nur die Literatur vermag. Übrigens hat man sie in den letzten Jahren wieder gesichtet: die Drachen am Himmel Afghanistans.
(Roland Große Holtforth)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2003Von Kabul bis Kalifornien
Khaled Hosseini dekliniert Schuld und Sühne auf afghanisch
Kabul, Mitte der siebziger Jahre. Noch ist die Welt heil. Nur unter der Oberfläche, in den Kinderseelen, zeichnen die ersten Risse sich ab. Hassan und Amir sind Milchbrüder, wachsen gemeinsam auf. Amir ist der behütete Sohn eines reichen Kaufmanns, Hassan der ein Jahr jüngere Sohn seines Dieners. Beide haben ihre Mutter verloren, Amir bei der Geburt, Hassans Mutter verließ Mann und Kind, kaum daß der Sohn auf der Welt war: Er hatte eine Hasenscharte.
Die beiden Kinder könnten Freunde sein, und vielfach scheint es auch so, aber der strenge Ehrenkodex der afghanischen Gesellschaft, selbst der scheinbar verwestlichten Kabuler Bourgeoisie, stellt sich ihnen entgegen. Hassan ist nicht nur der Sohn eines Dieners, der dem Sohn des Herrn jeden Morgen das Frühstück zubereiten muß, er ist nicht nur entstellt und hat einen gehbehinderten Vater, er stammt auch von den Hazara ab, einer an ihren chinesischen Augen leicht zu erkennenden, von den übrigen Afghanen verachteten ethnischen Minderheit. Und so spielt Amir zwar tagein, tagaus mit Hassan, als einen gleichberechtigten Freund kann er ihn jedoch nicht anerkennen. Um so irritierender für Amir, daß sein Vater Hassan mehr Anerkennung zuteil werden läßt als ihm.
Aus dieser Konstellation heraus entwickelt der 1965 in Kabul geborene, seit 1980 im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller Khaled Hosseini in seinem ersten Roman ein komplexes und zugleich sehr persönliches Panorama der letzten dreißig Jahre afghanischer Geschichte. Die Perspektive, die er dabei einnimmt, ist die eines Helden wider Willen: Die gesamte, im Lauf des Buchs sich steigernde Dramatik scheint ihren Ausfluß allein aus der schuldbewußten Seele Amirs zu nehmen, der die Geschichte erzählt. Einmal, im entscheidenden Augenblick, verrät er seinen treuen Begleiter und Spielkameraden. Während eines Wettbewerbs im von den Kabuler Kindern geliebten Drachenspiel, bei dem es darum geht, den gegnerischen Drachen zu kappen und zu erjagen, fällt Hassan in die Hände eines im ganzen Viertel bekannten Sadisten, der sich an ihm vergeht. Amir schaut zu, ohne einzugreifen. Ihm ist allein wichtig, daß er den Wettbewerb und damit die Anerkennung seines Vaters gewinnt. Von da an kann er die Gegenwart Hassans nicht mehr ertragen und intrigiert gegen ihn, bis dieser das Haus verlassen muß.
Von der ausgetüftelten Konstruktion des Romans ahnt man als Leser bis zu dieser Stelle noch nichts. Die Geschichte ist flüssig, aber konventionell erzählt. Sieht man von den zahlreichen, oft unnötigen persischen Einsprengseln ab, ist die Sprache auf eine altväterliche Weise bloßes Mittel zur Darstellung. Aber das kennt man von den neuen amerikanischen Romanen, und auch Hosseinis Buch, obwohl so afghanisch in der Thematik, ist in seiner Machart durch und durch amerikanisch. Die sprachlichen Erschütterungen, von denen die orientalischen Autoren künden, die noch in ihren Muttersprachen schreiben, fechten diesen Autor nicht an. Vielmehr wirkt der Roman wie aus einem creative-writing-Seminar erwachsen. Man muß allerdings zugeben, daß er dieses mit Bestnote bestanden hätte.
Mit dem Beginn des sowjetischen Einmarsches fliehen Amir und sein Vater aus Kabul und beginnen in Kalifornien ein neues Leben. Amir heiratet und wird Schriftsteller, der Vater, den er zeitlebens ebenso bewunderte wie fürchtete, stirbt. Die Vergangenheit scheint abgeschlossen, das Gewissen beruhigt, bis ein alter Freund der Familie aus Pakistan anruft und Amir in geheimnisvollen Worten andeutet: "Es gibt eine Möglichkeit, es wiedergutzumachen." Genau in dieser Mitte des Buches greift der Erzähler nun alle bislang wie leer in der Luft hängenden Fäden wieder auf und begibt sich nach Pakistan. Der sorgfältig exponierte Showdown führt Amir nicht nur in die Hölle der Taliban, er enthüllt ihm auch das ehrenrührige Familiengeheimnis, das sein Vater mit ins Grab genommen hat.
Hassan, so erfährt Amir von Rahim Khan, ist von den Taliban ermordet worden. Sein Sohn, Suhrab, fristet ein elendes Dasein in einem heruntergekommenen Kabuler Waisenhaus. Die Möglichkeit der Wiedergutmachung bestünde darin, Suhrab aus Kabul herauszuholen und ihm eine Zukunft zu geben. Als Amir das ihm zu gefährlich scheinende Ansinnen ablehnt, greift Rahim Khan zu seinem letzten Mittel und offenbart ihm ein Geheimnis, das wir nicht verraten dürfen. Amir muß jedenfalls feststellen: "Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe gerade herausgefunden, daß mein ganzes Leben eine einzige, verdammte Lüge ist!" Nun erst begibt er sich nach Kabul und befreit Suhrab aus den Händen desselben, nun den Taliban dienenden Mannes, der einst Hassan vergewaltigte.
Das Buch endet ein halbes Jahr nach dem 11. September 2001. Es liegt nahe, diese tragische Familiengeschichte als eine ausgedehnte Parabel auf die jüngste Geschichte Afghanistans zu lesen. Suhrab, von Amir und seiner Frau adoptiert, scheint das Lächeln verlernt zu haben, bis am afghanischen Neujahrstag auf einer Feier der afghanischen Exilanten die Kinder wieder die Drachen steigen lassen. Den Kindern in Afghanistan geht es nicht anders: Nachdem die Taliban das Drachenspiel verboten hatten, sieht man sie heute an jedem Feiertag wieder zu Hunderten am Kabuler Himmel.
Doch ist "Drachenläufer" auch ein großes Gleichnis über Schuld und Sühne und über die Kunst des Verzeihens, die heute in Afghanistan am dringlichsten gebraucht wird. Das Urbild dafür in der afghanisch-persischen Literatur findet Hosseini bei dem alten Dichter Firdausi, der mit seinem "Shahname" zu Beginn des elften Jahrhunderts die persische Epik begründete. Vor allem spielt der Autor auf die Geschichte von Rostem und Suhrab an, die miteinander kämpfen, bis sich der tödlich getroffene Suhrab als Rostems Sohn zu erkennen gibt. Während im alten Epos Erkenntnis und Verzeihung zu spät kommen, hat Hosseini einen großen Roman über den Willen zu einem versöhnlichen Neuanfang geschrieben.
STEFAN WEIDNER
Khaled Hosseini: "Drachenläufer". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berlin Verlag, Berlin 2003. 376 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Khaled Hosseini dekliniert Schuld und Sühne auf afghanisch
Kabul, Mitte der siebziger Jahre. Noch ist die Welt heil. Nur unter der Oberfläche, in den Kinderseelen, zeichnen die ersten Risse sich ab. Hassan und Amir sind Milchbrüder, wachsen gemeinsam auf. Amir ist der behütete Sohn eines reichen Kaufmanns, Hassan der ein Jahr jüngere Sohn seines Dieners. Beide haben ihre Mutter verloren, Amir bei der Geburt, Hassans Mutter verließ Mann und Kind, kaum daß der Sohn auf der Welt war: Er hatte eine Hasenscharte.
Die beiden Kinder könnten Freunde sein, und vielfach scheint es auch so, aber der strenge Ehrenkodex der afghanischen Gesellschaft, selbst der scheinbar verwestlichten Kabuler Bourgeoisie, stellt sich ihnen entgegen. Hassan ist nicht nur der Sohn eines Dieners, der dem Sohn des Herrn jeden Morgen das Frühstück zubereiten muß, er ist nicht nur entstellt und hat einen gehbehinderten Vater, er stammt auch von den Hazara ab, einer an ihren chinesischen Augen leicht zu erkennenden, von den übrigen Afghanen verachteten ethnischen Minderheit. Und so spielt Amir zwar tagein, tagaus mit Hassan, als einen gleichberechtigten Freund kann er ihn jedoch nicht anerkennen. Um so irritierender für Amir, daß sein Vater Hassan mehr Anerkennung zuteil werden läßt als ihm.
Aus dieser Konstellation heraus entwickelt der 1965 in Kabul geborene, seit 1980 im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller Khaled Hosseini in seinem ersten Roman ein komplexes und zugleich sehr persönliches Panorama der letzten dreißig Jahre afghanischer Geschichte. Die Perspektive, die er dabei einnimmt, ist die eines Helden wider Willen: Die gesamte, im Lauf des Buchs sich steigernde Dramatik scheint ihren Ausfluß allein aus der schuldbewußten Seele Amirs zu nehmen, der die Geschichte erzählt. Einmal, im entscheidenden Augenblick, verrät er seinen treuen Begleiter und Spielkameraden. Während eines Wettbewerbs im von den Kabuler Kindern geliebten Drachenspiel, bei dem es darum geht, den gegnerischen Drachen zu kappen und zu erjagen, fällt Hassan in die Hände eines im ganzen Viertel bekannten Sadisten, der sich an ihm vergeht. Amir schaut zu, ohne einzugreifen. Ihm ist allein wichtig, daß er den Wettbewerb und damit die Anerkennung seines Vaters gewinnt. Von da an kann er die Gegenwart Hassans nicht mehr ertragen und intrigiert gegen ihn, bis dieser das Haus verlassen muß.
Von der ausgetüftelten Konstruktion des Romans ahnt man als Leser bis zu dieser Stelle noch nichts. Die Geschichte ist flüssig, aber konventionell erzählt. Sieht man von den zahlreichen, oft unnötigen persischen Einsprengseln ab, ist die Sprache auf eine altväterliche Weise bloßes Mittel zur Darstellung. Aber das kennt man von den neuen amerikanischen Romanen, und auch Hosseinis Buch, obwohl so afghanisch in der Thematik, ist in seiner Machart durch und durch amerikanisch. Die sprachlichen Erschütterungen, von denen die orientalischen Autoren künden, die noch in ihren Muttersprachen schreiben, fechten diesen Autor nicht an. Vielmehr wirkt der Roman wie aus einem creative-writing-Seminar erwachsen. Man muß allerdings zugeben, daß er dieses mit Bestnote bestanden hätte.
Mit dem Beginn des sowjetischen Einmarsches fliehen Amir und sein Vater aus Kabul und beginnen in Kalifornien ein neues Leben. Amir heiratet und wird Schriftsteller, der Vater, den er zeitlebens ebenso bewunderte wie fürchtete, stirbt. Die Vergangenheit scheint abgeschlossen, das Gewissen beruhigt, bis ein alter Freund der Familie aus Pakistan anruft und Amir in geheimnisvollen Worten andeutet: "Es gibt eine Möglichkeit, es wiedergutzumachen." Genau in dieser Mitte des Buches greift der Erzähler nun alle bislang wie leer in der Luft hängenden Fäden wieder auf und begibt sich nach Pakistan. Der sorgfältig exponierte Showdown führt Amir nicht nur in die Hölle der Taliban, er enthüllt ihm auch das ehrenrührige Familiengeheimnis, das sein Vater mit ins Grab genommen hat.
Hassan, so erfährt Amir von Rahim Khan, ist von den Taliban ermordet worden. Sein Sohn, Suhrab, fristet ein elendes Dasein in einem heruntergekommenen Kabuler Waisenhaus. Die Möglichkeit der Wiedergutmachung bestünde darin, Suhrab aus Kabul herauszuholen und ihm eine Zukunft zu geben. Als Amir das ihm zu gefährlich scheinende Ansinnen ablehnt, greift Rahim Khan zu seinem letzten Mittel und offenbart ihm ein Geheimnis, das wir nicht verraten dürfen. Amir muß jedenfalls feststellen: "Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe gerade herausgefunden, daß mein ganzes Leben eine einzige, verdammte Lüge ist!" Nun erst begibt er sich nach Kabul und befreit Suhrab aus den Händen desselben, nun den Taliban dienenden Mannes, der einst Hassan vergewaltigte.
Das Buch endet ein halbes Jahr nach dem 11. September 2001. Es liegt nahe, diese tragische Familiengeschichte als eine ausgedehnte Parabel auf die jüngste Geschichte Afghanistans zu lesen. Suhrab, von Amir und seiner Frau adoptiert, scheint das Lächeln verlernt zu haben, bis am afghanischen Neujahrstag auf einer Feier der afghanischen Exilanten die Kinder wieder die Drachen steigen lassen. Den Kindern in Afghanistan geht es nicht anders: Nachdem die Taliban das Drachenspiel verboten hatten, sieht man sie heute an jedem Feiertag wieder zu Hunderten am Kabuler Himmel.
Doch ist "Drachenläufer" auch ein großes Gleichnis über Schuld und Sühne und über die Kunst des Verzeihens, die heute in Afghanistan am dringlichsten gebraucht wird. Das Urbild dafür in der afghanisch-persischen Literatur findet Hosseini bei dem alten Dichter Firdausi, der mit seinem "Shahname" zu Beginn des elften Jahrhunderts die persische Epik begründete. Vor allem spielt der Autor auf die Geschichte von Rostem und Suhrab an, die miteinander kämpfen, bis sich der tödlich getroffene Suhrab als Rostems Sohn zu erkennen gibt. Während im alten Epos Erkenntnis und Verzeihung zu spät kommen, hat Hosseini einen großen Roman über den Willen zu einem versöhnlichen Neuanfang geschrieben.
STEFAN WEIDNER
Khaled Hosseini: "Drachenläufer". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berlin Verlag, Berlin 2003. 376 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2021WIEDERENTDECKT WAS ES WERT IST, NOCH EINMAL AUS DEM REGAL GEZOGEN ZU WERDEN
Auf einmal ist das alles wieder wichtig. Ethnische Zugehörigkeiten, etwa Hasara oder Nicht-Hasara. Bartlänge. Pickups. Sonnenbrillen. Dabei ist Afghanistan nicht nur dieses Land, das Land der Taliban, sondern auch die Zeit davor und danach, die Granatapfelbäume, das Rosenwasser-Eis, die Dächer des Wasir-Akbar-Khan-Viertels in Kabul. Und dass die Welt den Reichtum dieses zweiten Afghanistans kennengelernt hat, ist das große Verdienst Khaled Hosseinis. Sein „Drachenläufer“ ist die Coming-of-Age-Geschichte des 12-jährigen Amir und seines Hasara-Freundes Hassan, ein Epos von Freundschaft, Verrat und Versöhnung über die Generationen hinweg. „Drachenläufer“ erschien 2003, wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Gerade erst war das Land von den Taliban befreit worden, aber was wusste die Welt schon über Afghanistan? Was weiß sie heute? Mag sein, dass die Figuren höchstens mittelfein gezeichnet sind, die Dialoge bessere Kalendersprüche und manche Szene outright Kitsch. Die Vorurteile über Afghanistan sind jedoch auch nicht subtiler. ZRI
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Fischer, Frankfurt 2019. 384 Seiten, 12 Euro.
Ahmed Rashid hat seine eigene Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Nach seiner Zeit an der Cambridge University zog es ihn Ende der 60er-Jahre in die Hügel Beluchistans, wo er zehn Jahre lang bekämpfte, was er als Unheil für seine Heimat ansah. Es waren Lehrjahre, die Rashid teuer bezahlte. Sein Widerstand gegen Pakistans Militärdiktatur zahlte sich nicht aus. So verlagerte er sich auf ein anderes Geschäft: das Schreiben. Ahmed Rashid war der unbestritten beste Kenner Afghanistans und Pakistans, ehe nach dem 11. September 2001 Hunderte neue Experten auftauchten. Rashid darf für sich in Anspruch nehmen, Lehrmeister all jener Taliban-, Afghanistan- und Paschtunen-Deuter zu sein – die Urquelle, sozusagen. Seine Bücher „Taliban“ und „Sturz ins Chaos“ sind Referenzwerke mit anhaltender Gültigkeit. Rashid selbst wurde zum gefragten Gesprächspartner in Regierungszentralen, Universitätsforen und Geheimdienstzirkeln. Die New York Times schrieb einmal, Rashid habe sich über all die Jahre als „Prophet dieser Region erwiesen, allerdings mehr vom Typ Cassandras“. ELI
Ahmed Rashid, Sturz ins Chaos. Leske, Düsseldorf 2010. 340 Seiten, 19,90 Euro.
Als die Taliban 2001 aus Kandahar flohen, hinterließen sie einen Schatz, der mehr über sie verriet, als ihnen wohl bewusst war. In den Fotostudios der Stadt, die sie erst geschlossen – Bilderverbot! –, dann wieder geöffnet hatten – Ausweise! –, hatten einige von ihnen Porträts machen lassen und nie abgeholt. Aus den Aufnahmen hat der deutsche Fotograf Thomas Dworzak den verblüffenden Bildband „Taliban“ kompiliert. Dass die Kämpfer mit Kalaschnikows posierten, war zu erwarten. Aber mit Blumenschalen? Notizblock und Bleistift? Einige ließen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kolorieren, was Vintage-Effekte wie bei Stummfilm-Stills ergab. Andere gruppierten sich vor dem Hintergrund reetgedeckter Dächer. Viele schwärzten sich mit Kajal die Augen, zauberten sich mit Make-up zarte Röte ins Gesicht. Schmiegten die Schultern aneinander, hielten Hand. Es sind träumerische Aufnahmen voller Sinnlichkeit und Männererotik. Aber es liegt auch eine Sehnsucht über diesen Bildern, und wenn man so will, Vergeblichkeit. Deren Ursachen und Folgen wiederum waren: die Taliban selbst. ZRI
Thomas Dworzak: Taliban. Fotobuch-Edition, Freiburg 2003. 128 Seiten, 24,95 Euro.
„Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen“ ist ein zutiefst berührendes Buch. Gleichzeitig ein Horrortrip durch Jahrzehnte des Krieges. Sira Shakib, deutsch-iranische Autorin und Regisseurin, beschreibt Afghanistans Tragödie am Beispiel einer Frau, Shirin-Gol, von deren Kindheit vor der Sowjet- Invasion 1979 bis zum Sturz der Taliban 2001. Shirin-Gol hat keine Chance auf menschenwürdiges Leben, wird zum Symbol für das Schicksal ihres Landes und vor allem seiner Frauen, denen die Autorin 2002 eine Stimme gab. Ihr Buch wurde weltweit zum Bestseller. Sira Shakib hat die westliche Intervention zunächst begrüßt, Nato und Bundeswehr in Fragen zu Land und Menschen beraten. Hätten sie doch besser zugehört. Das Buch liest sich heute wie ein Menetekel, was den Afghanen wohl erneut bevorsteht: „Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein.“ JKÄ
Sira Shakib, Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen. Random House eBook, 2001. 320 Seiten, 9,99 Euro.
„Der Gatigal-Gebirgsausläufer ist in Mondlicht getaucht, und in den silbrigen Schatten der Stechpalmen sieht er feindliche Kämpfer, die Josh Brennan den Berghang hinunter schleifen. Er leert sein M4-Magazin auf sie und läuft los zu seinem Freund.“ Die lakonische und doch unter die Haut gehende Reportage des US-Autors Sebastian Junger: „War. Ein Jahr im Krieg“ beschreibt Leben, Kampf und Sterben von US-Soldaten im Korengal-Tal, einem der entlegensten Außenposten der US-Armee in Afghanistan. Junger hat 2007 dort Monate verbracht, näher konnte ein Journalist dem Krieg nicht kommen. Es ist ein Mikrokosmos des Wahnsinns und extremer Gewalt, in dem sich bereits die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. Der Soldat Brennan stirbt. Bald darauf gibt die US-Armee das Korengal-Tal auf. JKÄ
Sebastian Junger: War. Ein Jahr im Krieg. Pantheon, München 2012. 336 Seiten, antiquarisch.
Zinkjungen hießen die Gefallenen in dem Afghanistankrieg, den die Sowjetunion in den Achtzigern aus heute fast vergessenen Gründen geführte hatte. Zink, weil die verschweißten Särge der sowjetischen Armee damals aus dem Metall bestanden und Jungen, weil die Soldaten oft gerade 18 Jahre alt waren. Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat nach dem Krieg mit Dutzenden Zeitzeugen gesprochen – Feldwebeln, Krankenschwestern, Pionieren, Müttern –, und ist 1986 als Journalistin nach Afghanistan gereist. Die Protokolle und ihre eigenen Erfahrungen hat sie zu kurzen, persönlichen Berichten verdichtet. Die Fakten stimmen, ihre Zusammenstellung ist neu. Liest man Alexijewitsch heute, sind es vor allem die Details, die wie aus dem Jetzt wirken: Eine Frau träumt von Flügen mit Militärmaschinen zwischen Taschkent und Kabul, Soldaten zweifeln am Sinn ihres Einsatzes, Kinder, die der Krieg versehrt hat, stehen in der Wüste am Straßenrand. Es geht nicht um akkurate Geschichtsschreibung, sondern um eine Ideengeschichte der Emotionen und Erlebnisse. FREU
Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Suhrkamp, Berlin 2016. 317 Seiten, 11 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Auf einmal ist das alles wieder wichtig. Ethnische Zugehörigkeiten, etwa Hasara oder Nicht-Hasara. Bartlänge. Pickups. Sonnenbrillen. Dabei ist Afghanistan nicht nur dieses Land, das Land der Taliban, sondern auch die Zeit davor und danach, die Granatapfelbäume, das Rosenwasser-Eis, die Dächer des Wasir-Akbar-Khan-Viertels in Kabul. Und dass die Welt den Reichtum dieses zweiten Afghanistans kennengelernt hat, ist das große Verdienst Khaled Hosseinis. Sein „Drachenläufer“ ist die Coming-of-Age-Geschichte des 12-jährigen Amir und seines Hasara-Freundes Hassan, ein Epos von Freundschaft, Verrat und Versöhnung über die Generationen hinweg. „Drachenläufer“ erschien 2003, wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Gerade erst war das Land von den Taliban befreit worden, aber was wusste die Welt schon über Afghanistan? Was weiß sie heute? Mag sein, dass die Figuren höchstens mittelfein gezeichnet sind, die Dialoge bessere Kalendersprüche und manche Szene outright Kitsch. Die Vorurteile über Afghanistan sind jedoch auch nicht subtiler. ZRI
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Fischer, Frankfurt 2019. 384 Seiten, 12 Euro.
Ahmed Rashid hat seine eigene Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Nach seiner Zeit an der Cambridge University zog es ihn Ende der 60er-Jahre in die Hügel Beluchistans, wo er zehn Jahre lang bekämpfte, was er als Unheil für seine Heimat ansah. Es waren Lehrjahre, die Rashid teuer bezahlte. Sein Widerstand gegen Pakistans Militärdiktatur zahlte sich nicht aus. So verlagerte er sich auf ein anderes Geschäft: das Schreiben. Ahmed Rashid war der unbestritten beste Kenner Afghanistans und Pakistans, ehe nach dem 11. September 2001 Hunderte neue Experten auftauchten. Rashid darf für sich in Anspruch nehmen, Lehrmeister all jener Taliban-, Afghanistan- und Paschtunen-Deuter zu sein – die Urquelle, sozusagen. Seine Bücher „Taliban“ und „Sturz ins Chaos“ sind Referenzwerke mit anhaltender Gültigkeit. Rashid selbst wurde zum gefragten Gesprächspartner in Regierungszentralen, Universitätsforen und Geheimdienstzirkeln. Die New York Times schrieb einmal, Rashid habe sich über all die Jahre als „Prophet dieser Region erwiesen, allerdings mehr vom Typ Cassandras“. ELI
Ahmed Rashid, Sturz ins Chaos. Leske, Düsseldorf 2010. 340 Seiten, 19,90 Euro.
Als die Taliban 2001 aus Kandahar flohen, hinterließen sie einen Schatz, der mehr über sie verriet, als ihnen wohl bewusst war. In den Fotostudios der Stadt, die sie erst geschlossen – Bilderverbot! –, dann wieder geöffnet hatten – Ausweise! –, hatten einige von ihnen Porträts machen lassen und nie abgeholt. Aus den Aufnahmen hat der deutsche Fotograf Thomas Dworzak den verblüffenden Bildband „Taliban“ kompiliert. Dass die Kämpfer mit Kalaschnikows posierten, war zu erwarten. Aber mit Blumenschalen? Notizblock und Bleistift? Einige ließen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kolorieren, was Vintage-Effekte wie bei Stummfilm-Stills ergab. Andere gruppierten sich vor dem Hintergrund reetgedeckter Dächer. Viele schwärzten sich mit Kajal die Augen, zauberten sich mit Make-up zarte Röte ins Gesicht. Schmiegten die Schultern aneinander, hielten Hand. Es sind träumerische Aufnahmen voller Sinnlichkeit und Männererotik. Aber es liegt auch eine Sehnsucht über diesen Bildern, und wenn man so will, Vergeblichkeit. Deren Ursachen und Folgen wiederum waren: die Taliban selbst. ZRI
Thomas Dworzak: Taliban. Fotobuch-Edition, Freiburg 2003. 128 Seiten, 24,95 Euro.
„Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen“ ist ein zutiefst berührendes Buch. Gleichzeitig ein Horrortrip durch Jahrzehnte des Krieges. Sira Shakib, deutsch-iranische Autorin und Regisseurin, beschreibt Afghanistans Tragödie am Beispiel einer Frau, Shirin-Gol, von deren Kindheit vor der Sowjet- Invasion 1979 bis zum Sturz der Taliban 2001. Shirin-Gol hat keine Chance auf menschenwürdiges Leben, wird zum Symbol für das Schicksal ihres Landes und vor allem seiner Frauen, denen die Autorin 2002 eine Stimme gab. Ihr Buch wurde weltweit zum Bestseller. Sira Shakib hat die westliche Intervention zunächst begrüßt, Nato und Bundeswehr in Fragen zu Land und Menschen beraten. Hätten sie doch besser zugehört. Das Buch liest sich heute wie ein Menetekel, was den Afghanen wohl erneut bevorsteht: „Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein.“ JKÄ
Sira Shakib, Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen. Random House eBook, 2001. 320 Seiten, 9,99 Euro.
„Der Gatigal-Gebirgsausläufer ist in Mondlicht getaucht, und in den silbrigen Schatten der Stechpalmen sieht er feindliche Kämpfer, die Josh Brennan den Berghang hinunter schleifen. Er leert sein M4-Magazin auf sie und läuft los zu seinem Freund.“ Die lakonische und doch unter die Haut gehende Reportage des US-Autors Sebastian Junger: „War. Ein Jahr im Krieg“ beschreibt Leben, Kampf und Sterben von US-Soldaten im Korengal-Tal, einem der entlegensten Außenposten der US-Armee in Afghanistan. Junger hat 2007 dort Monate verbracht, näher konnte ein Journalist dem Krieg nicht kommen. Es ist ein Mikrokosmos des Wahnsinns und extremer Gewalt, in dem sich bereits die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. Der Soldat Brennan stirbt. Bald darauf gibt die US-Armee das Korengal-Tal auf. JKÄ
Sebastian Junger: War. Ein Jahr im Krieg. Pantheon, München 2012. 336 Seiten, antiquarisch.
Zinkjungen hießen die Gefallenen in dem Afghanistankrieg, den die Sowjetunion in den Achtzigern aus heute fast vergessenen Gründen geführte hatte. Zink, weil die verschweißten Särge der sowjetischen Armee damals aus dem Metall bestanden und Jungen, weil die Soldaten oft gerade 18 Jahre alt waren. Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat nach dem Krieg mit Dutzenden Zeitzeugen gesprochen – Feldwebeln, Krankenschwestern, Pionieren, Müttern –, und ist 1986 als Journalistin nach Afghanistan gereist. Die Protokolle und ihre eigenen Erfahrungen hat sie zu kurzen, persönlichen Berichten verdichtet. Die Fakten stimmen, ihre Zusammenstellung ist neu. Liest man Alexijewitsch heute, sind es vor allem die Details, die wie aus dem Jetzt wirken: Eine Frau träumt von Flügen mit Militärmaschinen zwischen Taschkent und Kabul, Soldaten zweifeln am Sinn ihres Einsatzes, Kinder, die der Krieg versehrt hat, stehen in der Wüste am Straßenrand. Es geht nicht um akkurate Geschichtsschreibung, sondern um eine Ideengeschichte der Emotionen und Erlebnisse. FREU
Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Suhrkamp, Berlin 2016. 317 Seiten, 11 Euro.
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