Graf Dracula ist der Fürst der Vampire, ein blutsaugendes Gebilde, das zum Synonym des grauenerregenden Aberglaubens vom Vampirismus wurde. Bram Stoker, der irische Schriftsteller, hatte diese Figur in seinem 1897 erschienenen Roman "Dracula" zum Leben erweckt, ganz in der Tradition der englischen Gothic Novel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2014Jetzt will die Walachei nach Westen
Welche Erzählung braucht Europa, um sich selbst besser zu verstehen? Ein Versuch mit Bram Stokers "Dracula"
Das Europa der zwei Geschwindigkeiten. Oder sind es drei? Bewegungen quer durch die Landschaft. Bahn, Schiff, Pferdekutsche. Tempo. Aufbruch, Panik. Zugverbindungen: München-Budapest-Klausenburg. Nachrichtenverkehr. Kommunikation. Wer ist schneller? Da lauert was. Da kommt was auf uns zu. Da gibt es böse Zeichen. Ein paar wappnen sich. Zählen eins und eins zusammen, und es kommt elf heraus. Sie halten sich immer noch für Rationalisten, aber mit Rationalismus allein kommt man jetzt nicht weiter. Sie reden Englisch. Die andere Seite tut es allerdings auch, aber mit Akzent. Sie will Immobilien kaufen, in der Ferne, City of London. Ohne Blut und Boden geht es aber nicht.
Das ist "Dracula" von Bram Stoker. Was für ein irrer Stoff. Man denkt, man kennt ihn schon seit dem Kindergarten: Graf Dracula, der untote Vampir, der Blut trinkt und gepfählt werden muss, damit er endlich sterben kann. Die Sache mit dem Knoblauch, die Angst vorm Kreuz, van Helsing, Mina. Man denkt, man kennt das alles zur Genüge, weil in den letzten Jahren der uralte Horror in so viele neue Formate verwandelt wurde, dass er darüber beinah seinen Horror verloren hat: Geschätzte achtzig Prozent der Unterhaltungsindustrie bestehen ja aktuell aus Vampirgeschichten. Man kann seit Jahren nicht den Fernseher anschalten, ohne dass einem irgendwo Vampire begegnen: keusche, bürgerliche, blöde, alles da.
Aber dann fällt einem das Buch in die Hände, mit dem es begann, und plötzlich ist alles anders. Plötzlich geht es nicht nur um Horror. Um den natürlich auch, er ist in dieser ursprünglichen Form sogar noch etwas schwerer auszuhalten. Aber es geht eben auch um lauter Dinge, die bis heute ungelöst sind. Beziehungsweise immer wieder neu gelöst werden müssen. Dinge, die Stokers Buch zwar auch nicht löst, aber dafür zeigt es sie, in einem anderen Licht, in der Dämmerung, in der Nacht.
Es geht um Geschwindigkeit zum Beispiel. Um die Flucht aus strukturschwachen Räumen. Um Bewegungen von Ost nach West und wieder zurück. Um das türkische Einflussgebiet. Um den Islam und das Christentum und die Aufklärung. Um das Abendland, um Kommunikation und darum, ob England eine Insel bleiben kann. "Dracula" ist kein Schlüsselroman, dann wäre die Lektüre sicher nicht so aufregend. Aber das Buch spannt einen ungeheuren geographischen Bogen von der englischen Küste bis ans Schwarze Meer, es erschließt einen Raum literarisch, in dem wir bis heute zu Hause sind, ohne ihn richtig zu kennen.
"Dracula" erschien im Mai 1897. Bram Stoker war zwar nicht der Erste, der über Vampire schrieb: Da gibt es zum Beispiel John William Polidoris Erzählung "Der Vampir" von 1819, die lange Lord Byron zugeschrieben wurde, weil die beiden im Regensommer 1816 in einer Villa am Genfer See mit Percy Shelley und dessen späterer Frau Mary festsaßen und sich schauerliche Geschichten erzählten; Polidori hat dann eine davon aufgeschrieben. Aber der mäßig erfolgreiche Bram Stoker war schließlich derjenige, der den Vampir überhaupt erfand, indem er in einem genialen Kunstgriff uralte siebenbürgische Legenden über Blutsauger und Untote mit der walachischen Legende Vlad Tepes verschmolz. Tepes, auch Draculea (der kleine Drache) genannt, drängte im 15. Jahrhundert das Osmanische Heer brutal zurück. Er starb früh und unvollendet, nach offenbar spektakulären Blutbädern: "Pfahlwoiwode" wurde Draculea auch genannt, weil er seine Feinde aufspießen ließ.
Bram Stoker reichte das, um daraus eine unsterbliche Figur zu formen: einen blutsaugenden Grafen, der seit Ewigkeiten mit seinen Schwestern auf einer Burg in Siebenbürgen haust, die Kinder der Umgebung schlachtet, über Wölfe und Ratten befiehlt und seinen Umzug nach London vorbereitet, um dort leichter Opfer zu finden und sein Imperium zu vergrößern. Also ruft Dracula den Immobilienanwalt Jonathan Harker von der Kanzlei Hawkins zu sich, um das Notarielle zu erledigen, den Papierkram sozusagen, und damit beginnt es, obwohl es schon Jahrhunderte dauert.
Der Literaturwissenschaftler Friedrich A. Kittler hat Stokers "Dracula" vor Jahren auf diesen Papierkram und seine technischen Geräte hin gelesen und festgestellt, dass der Roman auch eine veränderte Mediennutzung dokumentiert: Es gibt keinen Erzähler. Was erzählt wird, fügt sich aus Tagebüchern, Briefen, Notizen, Memoranden und Transkriptionen von Phonographen. Die kamen damals gerade in Mode, genau wie Schreibmaschinen, auf denen Mina Harker, die letzte Braut Draculas, leidenschaftlich gern schreibt. Sie ist auch stolz darauf, dass sie Steno kann. Aber was Mina und Jonathan, was van Helsing, Lord Godalming, Morris und der Nervenarzt Dr. Seward, was alle diese Vampirbekämpfer, die Dracula am Ende zur Strecke bringen, dann mit ihren modernen Aufzeichnungsgeräten dokumentieren, das ist von vorvorvorvorgestern: Die Geschichte eines Vampirs, für den der Kalender keine Geltung mehr hat, nur der Lauf der Sonne.
Und wie sie verläuft, das verfolgt der Roman auf seinen letzten Metern ganz genau, wenn es darum geht, den Grafen zu stellen und zu töten, sein Herz zu durchbohren, seinen Kopf abzutrennen, bevor die Sonne untergeht. Diese letzten Meter spielen aber nicht in London, sondern in Draculas Heimat, am Fuße seiner Burg in Siebenbürgen.
Siebenbürgen also. Auch die Bukowina wird in Stokers Buch erwähnt, die Karpaten sowieso, die Walachei: "Dracula" liest sich heute noch so, als leuchte der Roman in die hintersten Winkel unseres Kontinents hinein. Aber damit dokumentiert er vor allem, wie wenig sich die Wahrnehmung Europas in den gut hundert Jahren seit Erscheinen des Buchs verändert hat. Egal, von wo aus man auf dieses Europa schaut.
Denn auch der Graf auf seiner Burg in Siebenbürgen sieht es ja so. Er sieht sich selbst im Abseits, am Rande, und es zieht ihn ins Zentrum, in den Westen, nach London: weil er sich dort einen neuen Anfang erhofft, wenn man das über jemanden in seiner Lage überhaupt so sagen kann.
Und damit passiert etwas Merkwürdiges in diesem merkwürdigen, modernen, archaischen Buch: Plötzlich glaubt man nämlich, im meisterhaft geplanten Umzug Draculas aus dem tiefen Osten Europas in den äußersten Westen des Kontinents einen Fluchtweg zu erkennen, der bis heute so verläuft. Plötzlich ist Dracula ein weiterer Rumäne, der in London untertaucht. Plötzlich erkennt man in einem uralten Schauerroman ein gegenwärtiges Muster.
Graf Dracula verlässt seine Burg, weil er etwas Besseres finden will. Er findet am Ende den Tod. Aber für ihn, und nur für ihn, den Untoten, kann es etwas Besseres als den Tod gar nicht geben. Denn so wird er von seinem Schicksal erlöst, seit Jahrhunderten nicht sterben zu dürfen. Jetzt darf er es endlich. Das ist das Happy End, das Bram Stoker für seinen Dracula gefunden hat.
Grenzüberschreitungen, Verkehrswege, Räume, Pässe, Zollstationen, Papiere, immer wieder Papiere, die für Leute wie den Vampirjäger Lord Godalming (seine Verlobte war das erste englische Opfer des Grafen, er will ihn deswegen um jeden Preis erledigen) allerdings um einiges leichter zu besorgen sind als für einen Walachen wie den Grafen.
Neulich sind übrigens zwei andere romantische Jungs in einem anderen Roman den Weg des Grafen Dracula angetreten, allerdings in die umgekehrte Richtung: Sie flohen aus der Stadt in Richtung Walachei, mit einem gestohlenen Lada. Nur kamen Wolfgang Herrndorfs "Tschick" und sein Freund Maik dort nie an. Die Walachei ist also die Walachei geblieben. Der unbekannte Ort jenseits der Wälder. "Beyond this place", hieß es früher auf den Karten der großen Entdecker über unerschlossene Gebiete der Welt, "there be dragons". Jenseits von hier sind Drachen: Das war als Warnung gemeint. Und es wirkte doch wie ein Lockmittel.
Man will jedenfalls sofort nach Europa, wenn man "Dracula" gelesen hat. Denn selbst wenn man glaubt, mittendrin zu leben: Es fängt immer irgendwo ganz anders an, ein unruhiger Kontinent, immer in Bewegung.
TOBIAS RÜTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Welche Erzählung braucht Europa, um sich selbst besser zu verstehen? Ein Versuch mit Bram Stokers "Dracula"
Das Europa der zwei Geschwindigkeiten. Oder sind es drei? Bewegungen quer durch die Landschaft. Bahn, Schiff, Pferdekutsche. Tempo. Aufbruch, Panik. Zugverbindungen: München-Budapest-Klausenburg. Nachrichtenverkehr. Kommunikation. Wer ist schneller? Da lauert was. Da kommt was auf uns zu. Da gibt es böse Zeichen. Ein paar wappnen sich. Zählen eins und eins zusammen, und es kommt elf heraus. Sie halten sich immer noch für Rationalisten, aber mit Rationalismus allein kommt man jetzt nicht weiter. Sie reden Englisch. Die andere Seite tut es allerdings auch, aber mit Akzent. Sie will Immobilien kaufen, in der Ferne, City of London. Ohne Blut und Boden geht es aber nicht.
Das ist "Dracula" von Bram Stoker. Was für ein irrer Stoff. Man denkt, man kennt ihn schon seit dem Kindergarten: Graf Dracula, der untote Vampir, der Blut trinkt und gepfählt werden muss, damit er endlich sterben kann. Die Sache mit dem Knoblauch, die Angst vorm Kreuz, van Helsing, Mina. Man denkt, man kennt das alles zur Genüge, weil in den letzten Jahren der uralte Horror in so viele neue Formate verwandelt wurde, dass er darüber beinah seinen Horror verloren hat: Geschätzte achtzig Prozent der Unterhaltungsindustrie bestehen ja aktuell aus Vampirgeschichten. Man kann seit Jahren nicht den Fernseher anschalten, ohne dass einem irgendwo Vampire begegnen: keusche, bürgerliche, blöde, alles da.
Aber dann fällt einem das Buch in die Hände, mit dem es begann, und plötzlich ist alles anders. Plötzlich geht es nicht nur um Horror. Um den natürlich auch, er ist in dieser ursprünglichen Form sogar noch etwas schwerer auszuhalten. Aber es geht eben auch um lauter Dinge, die bis heute ungelöst sind. Beziehungsweise immer wieder neu gelöst werden müssen. Dinge, die Stokers Buch zwar auch nicht löst, aber dafür zeigt es sie, in einem anderen Licht, in der Dämmerung, in der Nacht.
Es geht um Geschwindigkeit zum Beispiel. Um die Flucht aus strukturschwachen Räumen. Um Bewegungen von Ost nach West und wieder zurück. Um das türkische Einflussgebiet. Um den Islam und das Christentum und die Aufklärung. Um das Abendland, um Kommunikation und darum, ob England eine Insel bleiben kann. "Dracula" ist kein Schlüsselroman, dann wäre die Lektüre sicher nicht so aufregend. Aber das Buch spannt einen ungeheuren geographischen Bogen von der englischen Küste bis ans Schwarze Meer, es erschließt einen Raum literarisch, in dem wir bis heute zu Hause sind, ohne ihn richtig zu kennen.
"Dracula" erschien im Mai 1897. Bram Stoker war zwar nicht der Erste, der über Vampire schrieb: Da gibt es zum Beispiel John William Polidoris Erzählung "Der Vampir" von 1819, die lange Lord Byron zugeschrieben wurde, weil die beiden im Regensommer 1816 in einer Villa am Genfer See mit Percy Shelley und dessen späterer Frau Mary festsaßen und sich schauerliche Geschichten erzählten; Polidori hat dann eine davon aufgeschrieben. Aber der mäßig erfolgreiche Bram Stoker war schließlich derjenige, der den Vampir überhaupt erfand, indem er in einem genialen Kunstgriff uralte siebenbürgische Legenden über Blutsauger und Untote mit der walachischen Legende Vlad Tepes verschmolz. Tepes, auch Draculea (der kleine Drache) genannt, drängte im 15. Jahrhundert das Osmanische Heer brutal zurück. Er starb früh und unvollendet, nach offenbar spektakulären Blutbädern: "Pfahlwoiwode" wurde Draculea auch genannt, weil er seine Feinde aufspießen ließ.
Bram Stoker reichte das, um daraus eine unsterbliche Figur zu formen: einen blutsaugenden Grafen, der seit Ewigkeiten mit seinen Schwestern auf einer Burg in Siebenbürgen haust, die Kinder der Umgebung schlachtet, über Wölfe und Ratten befiehlt und seinen Umzug nach London vorbereitet, um dort leichter Opfer zu finden und sein Imperium zu vergrößern. Also ruft Dracula den Immobilienanwalt Jonathan Harker von der Kanzlei Hawkins zu sich, um das Notarielle zu erledigen, den Papierkram sozusagen, und damit beginnt es, obwohl es schon Jahrhunderte dauert.
Der Literaturwissenschaftler Friedrich A. Kittler hat Stokers "Dracula" vor Jahren auf diesen Papierkram und seine technischen Geräte hin gelesen und festgestellt, dass der Roman auch eine veränderte Mediennutzung dokumentiert: Es gibt keinen Erzähler. Was erzählt wird, fügt sich aus Tagebüchern, Briefen, Notizen, Memoranden und Transkriptionen von Phonographen. Die kamen damals gerade in Mode, genau wie Schreibmaschinen, auf denen Mina Harker, die letzte Braut Draculas, leidenschaftlich gern schreibt. Sie ist auch stolz darauf, dass sie Steno kann. Aber was Mina und Jonathan, was van Helsing, Lord Godalming, Morris und der Nervenarzt Dr. Seward, was alle diese Vampirbekämpfer, die Dracula am Ende zur Strecke bringen, dann mit ihren modernen Aufzeichnungsgeräten dokumentieren, das ist von vorvorvorvorgestern: Die Geschichte eines Vampirs, für den der Kalender keine Geltung mehr hat, nur der Lauf der Sonne.
Und wie sie verläuft, das verfolgt der Roman auf seinen letzten Metern ganz genau, wenn es darum geht, den Grafen zu stellen und zu töten, sein Herz zu durchbohren, seinen Kopf abzutrennen, bevor die Sonne untergeht. Diese letzten Meter spielen aber nicht in London, sondern in Draculas Heimat, am Fuße seiner Burg in Siebenbürgen.
Siebenbürgen also. Auch die Bukowina wird in Stokers Buch erwähnt, die Karpaten sowieso, die Walachei: "Dracula" liest sich heute noch so, als leuchte der Roman in die hintersten Winkel unseres Kontinents hinein. Aber damit dokumentiert er vor allem, wie wenig sich die Wahrnehmung Europas in den gut hundert Jahren seit Erscheinen des Buchs verändert hat. Egal, von wo aus man auf dieses Europa schaut.
Denn auch der Graf auf seiner Burg in Siebenbürgen sieht es ja so. Er sieht sich selbst im Abseits, am Rande, und es zieht ihn ins Zentrum, in den Westen, nach London: weil er sich dort einen neuen Anfang erhofft, wenn man das über jemanden in seiner Lage überhaupt so sagen kann.
Und damit passiert etwas Merkwürdiges in diesem merkwürdigen, modernen, archaischen Buch: Plötzlich glaubt man nämlich, im meisterhaft geplanten Umzug Draculas aus dem tiefen Osten Europas in den äußersten Westen des Kontinents einen Fluchtweg zu erkennen, der bis heute so verläuft. Plötzlich ist Dracula ein weiterer Rumäne, der in London untertaucht. Plötzlich erkennt man in einem uralten Schauerroman ein gegenwärtiges Muster.
Graf Dracula verlässt seine Burg, weil er etwas Besseres finden will. Er findet am Ende den Tod. Aber für ihn, und nur für ihn, den Untoten, kann es etwas Besseres als den Tod gar nicht geben. Denn so wird er von seinem Schicksal erlöst, seit Jahrhunderten nicht sterben zu dürfen. Jetzt darf er es endlich. Das ist das Happy End, das Bram Stoker für seinen Dracula gefunden hat.
Grenzüberschreitungen, Verkehrswege, Räume, Pässe, Zollstationen, Papiere, immer wieder Papiere, die für Leute wie den Vampirjäger Lord Godalming (seine Verlobte war das erste englische Opfer des Grafen, er will ihn deswegen um jeden Preis erledigen) allerdings um einiges leichter zu besorgen sind als für einen Walachen wie den Grafen.
Neulich sind übrigens zwei andere romantische Jungs in einem anderen Roman den Weg des Grafen Dracula angetreten, allerdings in die umgekehrte Richtung: Sie flohen aus der Stadt in Richtung Walachei, mit einem gestohlenen Lada. Nur kamen Wolfgang Herrndorfs "Tschick" und sein Freund Maik dort nie an. Die Walachei ist also die Walachei geblieben. Der unbekannte Ort jenseits der Wälder. "Beyond this place", hieß es früher auf den Karten der großen Entdecker über unerschlossene Gebiete der Welt, "there be dragons". Jenseits von hier sind Drachen: Das war als Warnung gemeint. Und es wirkte doch wie ein Lockmittel.
Man will jedenfalls sofort nach Europa, wenn man "Dracula" gelesen hat. Denn selbst wenn man glaubt, mittendrin zu leben: Es fängt immer irgendwo ganz anders an, ein unruhiger Kontinent, immer in Bewegung.
TOBIAS RÜTHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2018DAS HÖRBUCH
Auch ich
kann lieben
Katharina Thalbach ist als
androgyner Dracula ein Ereignis
Dracula ist längst zum modernen Mythos geworden. Seit der Erscheinung von Bram Stokers Roman 1897 hat der blutsaugende Vampir aus Transsylvanien jedoch erheblich an Schrecken eingebüßt. Heute ist er vor allem ein Sexsymbol. Eine spannende Verschiebung, zischelt doch zu Romanbeginn die weibliche Gefolgschaft des Grafen diesem ihr gehässiges „Du … kennst keine Liebe!“ entgegen. Worauf sich Dracula mit den Worten „Doch, auch ich kann lieben. Ihr habt es doch selbst erfahren. Ist es nicht so?“ nur recht zaghaft zu verteidigen weiß.
In dem kurzen Gespräch mit seinen drei bleichen Grazien offenbart sich für den Leser die ganze Tragik der Figur. Derjenige, der zu dem jetzt wiederaufgelegten Hörbuch „Dracula“ von 2012 greift, wird diese jedoch gar nicht bemerken. Aus dem einfachen Grund, weil die Stelle nicht vorkommt. Es handelt sich um eine gekürzte Lesung „nach dem gleichnamigen Buch“. Dabei hat die für die Audiofassung zuständige Franziska Mende mit großer Zielsicherheit all jene Passagen herausgenommen, die den doppelten Boden des Romans ausmachen und dafür verantwortlich sind, dass der Stoff mit seinen vielfältigen Gegensätzen, wie zum Beispiel Bewusstsein versus Unbewusstes, bis heute Künstler zu immer neuer Auseinandersetzung inspiriert.
Das „Dracula“-Hörbuch indes liefert nur die bloße Story und ist, bedenkt man den Umfang der Vorlage, mit einer Laufzeit von etwas mehr als fünf Stunden auch nicht sehr lang geraten.
Zunächst lässt einen das Hörbuch durchaus aufhorchen. Das Regieteam Melanie Möller, Inga Reuters und Franziska Mende hat den Roman mit einem Ensemble von zehn Sprechern aufnehmen lassen und nicht einfach von einem einzigen Schauspieler. Das leuchtet ein, schließlich ist „Dracula“ ein Montageroman, vor allem bestehend aus den Tagebucheinträgen von Jonathan Harker, dessen Freundin und späterer Frau Mina sowie des Psychiaters Dr. Seward, ergänzt um Briefe, Zeitungsberichte, Telegramme und einen Logbucheintrag. Zusammen erzeugt dieser wilde Textsortenmix die für die schaurig-schönen Geschehnisse typische Unmittelbarkeit, der man sich schwer entziehen kann.
Und so hört man nun Jacob Weigert zu, wie er als junger Rechtsanwalt Jonathan Harker auf dem Schloss des Grafen zunehmend in Panik gerät. Oder Jürgen Uter, der als Psychiater in eher wissenschaftlich nüchternem Ton auf die Ereignisse blickt. Auch Dracula selbst, den vor allem Harker in seinem Tagebuch immer wieder direkt zu Wort kommen lässt, hat man besetzt. Natürlich! Allerdings mit einer Frau: Katharina Thalbach. Ein kluger Schachzug. So wird der Fürst der Finsternis noch weiter ins Androgyne geschoben.
Thalbach als gebrochener Vampir ist ein Ereignis, sie knarzt leise und hart, verschleppt leiernd Worte, ja ganze Sätze. Doch weil die Schauspielerin ein so wunderbarer Dracula ist, ärgert man sich über die vielen Kürzungen umso mehr. Warum lässt man sie nicht ganz und gar Dracula sein, der, gesehen auf das Romanganze, ohnehin nicht viel zu sagen hat? Hier wurde eine große Chance vertan.
Zuletzt: Das Hörbuch beruht auf der klassischen Übersetzung von Heinz Widtmann aus dem Jahr 1908. Das heißt einiges Ungelenke wie etwa das Wort „Anwaltsschreiber“ hinnehmen. Warum man nicht auf die viel bissigere Neuübersetzung von Andreas Nohl zurückgegriffen hat, die damals gerade zum 100. Todestag Stokers erschienen ist, bleibt ein Geheimnis. Nohl übersetzt den Beruf Harkers übrigens mit Kanzleiangestellter.
FLORIAN WELLE
Bram Stoker: Dracula. Gelesen von Jacob Weigert, Katharina Thalbach u.a. GoyaLit, Hamburg 2018. 1 MP3-CD, Laufzeit ca. 310 Minuten, 15 Euro.
Sie knarzt leise und hart,
verschleppt leiernd Worte,
ja ganze Sätze
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Auch ich
kann lieben
Katharina Thalbach ist als
androgyner Dracula ein Ereignis
Dracula ist längst zum modernen Mythos geworden. Seit der Erscheinung von Bram Stokers Roman 1897 hat der blutsaugende Vampir aus Transsylvanien jedoch erheblich an Schrecken eingebüßt. Heute ist er vor allem ein Sexsymbol. Eine spannende Verschiebung, zischelt doch zu Romanbeginn die weibliche Gefolgschaft des Grafen diesem ihr gehässiges „Du … kennst keine Liebe!“ entgegen. Worauf sich Dracula mit den Worten „Doch, auch ich kann lieben. Ihr habt es doch selbst erfahren. Ist es nicht so?“ nur recht zaghaft zu verteidigen weiß.
In dem kurzen Gespräch mit seinen drei bleichen Grazien offenbart sich für den Leser die ganze Tragik der Figur. Derjenige, der zu dem jetzt wiederaufgelegten Hörbuch „Dracula“ von 2012 greift, wird diese jedoch gar nicht bemerken. Aus dem einfachen Grund, weil die Stelle nicht vorkommt. Es handelt sich um eine gekürzte Lesung „nach dem gleichnamigen Buch“. Dabei hat die für die Audiofassung zuständige Franziska Mende mit großer Zielsicherheit all jene Passagen herausgenommen, die den doppelten Boden des Romans ausmachen und dafür verantwortlich sind, dass der Stoff mit seinen vielfältigen Gegensätzen, wie zum Beispiel Bewusstsein versus Unbewusstes, bis heute Künstler zu immer neuer Auseinandersetzung inspiriert.
Das „Dracula“-Hörbuch indes liefert nur die bloße Story und ist, bedenkt man den Umfang der Vorlage, mit einer Laufzeit von etwas mehr als fünf Stunden auch nicht sehr lang geraten.
Zunächst lässt einen das Hörbuch durchaus aufhorchen. Das Regieteam Melanie Möller, Inga Reuters und Franziska Mende hat den Roman mit einem Ensemble von zehn Sprechern aufnehmen lassen und nicht einfach von einem einzigen Schauspieler. Das leuchtet ein, schließlich ist „Dracula“ ein Montageroman, vor allem bestehend aus den Tagebucheinträgen von Jonathan Harker, dessen Freundin und späterer Frau Mina sowie des Psychiaters Dr. Seward, ergänzt um Briefe, Zeitungsberichte, Telegramme und einen Logbucheintrag. Zusammen erzeugt dieser wilde Textsortenmix die für die schaurig-schönen Geschehnisse typische Unmittelbarkeit, der man sich schwer entziehen kann.
Und so hört man nun Jacob Weigert zu, wie er als junger Rechtsanwalt Jonathan Harker auf dem Schloss des Grafen zunehmend in Panik gerät. Oder Jürgen Uter, der als Psychiater in eher wissenschaftlich nüchternem Ton auf die Ereignisse blickt. Auch Dracula selbst, den vor allem Harker in seinem Tagebuch immer wieder direkt zu Wort kommen lässt, hat man besetzt. Natürlich! Allerdings mit einer Frau: Katharina Thalbach. Ein kluger Schachzug. So wird der Fürst der Finsternis noch weiter ins Androgyne geschoben.
Thalbach als gebrochener Vampir ist ein Ereignis, sie knarzt leise und hart, verschleppt leiernd Worte, ja ganze Sätze. Doch weil die Schauspielerin ein so wunderbarer Dracula ist, ärgert man sich über die vielen Kürzungen umso mehr. Warum lässt man sie nicht ganz und gar Dracula sein, der, gesehen auf das Romanganze, ohnehin nicht viel zu sagen hat? Hier wurde eine große Chance vertan.
Zuletzt: Das Hörbuch beruht auf der klassischen Übersetzung von Heinz Widtmann aus dem Jahr 1908. Das heißt einiges Ungelenke wie etwa das Wort „Anwaltsschreiber“ hinnehmen. Warum man nicht auf die viel bissigere Neuübersetzung von Andreas Nohl zurückgegriffen hat, die damals gerade zum 100. Todestag Stokers erschienen ist, bleibt ein Geheimnis. Nohl übersetzt den Beruf Harkers übrigens mit Kanzleiangestellter.
FLORIAN WELLE
Bram Stoker: Dracula. Gelesen von Jacob Weigert, Katharina Thalbach u.a. GoyaLit, Hamburg 2018. 1 MP3-CD, Laufzeit ca. 310 Minuten, 15 Euro.
Sie knarzt leise und hart,
verschleppt leiernd Worte,
ja ganze Sätze
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de