Gewinner des 44. ZDF-"aspekte"-LiteraturpreisesEin ganz normales Dorf in Deutschland: in der Mitte ein Kreisel, daneben die Volksbank und im September das alljährliche Zwiebelfest. Aber nicht alle hier können sich dem Dorfgefüge anpassen - Timo, Valerie und Richard sind seit ihrer Geburt Außenseiter. Als allmählich immer mehr junge Leute im ganzen Land spurlos verschwinden und in den Familien große Lücken hinterlassen, machen sie sich auf die Suche nach den Vermissten. Das Leben der drei ist schon immer besonders gewesen, doch sie haben keine Vorstellung davon, was sie mit ihrer Suche lostreten. Ein überbordender, mutiger und schriller Roman über die deutsche Provinz und das Anderssein in einem Umfeld, in dem Anderssein nicht vorgesehen ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2022Welt auf Station
Isolation, Klaustrophobie, Ausbruch und böse Träume: In den Debüts des Frühjahrs sind Echos der Pandemie zu hören. So einfach ist es aber dann doch nicht.
Ein Haus im Wald, aus dem keine Türen nach draußen führen, aber irgendwie müssen die Menschen, die hier wohnen, doch hineingekommen sein. Ein Dorf, aus dem junge Menschen verschwinden, aber wohin gehen sie, und was hat eine sprechende Eule in Lackschuhen damit zu tun? Eine Psychiatrie am Rande der Stadt als Transit-Ort zwischen innerer und äußerer Welt, aber mit so porösen Grenzen, dass ein Pfleger sie übertritt. Und eine religiöse Minderheit in einer westfälischen Kleinstadt, deren Familien aus der Abschottung immer schon Kraft und Identität ziehen, nur was geschieht mit denen, die sich der Tradition nicht mehr beugen wollen?
Isolation, Klaustrophobie, Stillstand, Ausbruch: In den Debüts dieses Frühjahrs von Elina Penner, Annika Domainko, Tatjana von der Beek und Sven Pfizenmaier ist kein einziges Mal von Pandemie die Rede. Und doch spielen sie alle mit Leitmotiven, die man auch aus dem Lockdown kennt. Erzählen von einsamer Verzweiflung und Dissoziation, unheimlichen Träumen und Begegnungen mit Tieren, von Vorratshaltung, Drogen und Geheimverstecken, vom ewigen Drinnensein und der Sehnsucht nach dem Draußen, vom Fremdeln mit diesem Draußen, das auch gefährlich werden kann, von Regeln als Selbstzweck und Kontrolle durch Verfahren. Sie erzählen von Familien unter Druck, Zusammenbruch, Überlastung und immer wieder dann vom Ausbruch: Weg hier, raus hier, Ende, aus, es kann nicht so weitergehen, es muss anderswo weitergehen.
Diese Motive und Erfahrungen hat es natürlich auch jenseits der Pandemie schon gegeben. In der Literatur sind sie oft durchgespielt worden, "das einsame Haus" ist ein Genre für sich, geschlossene Räume und Gesellschaften und was sie Menschen antun ebenso. Der unheimliche Effekt der letzten vierundzwanzig Monate scheint aber zu sein, wie Isolation und Dissoziation unter dem Eindruck von Quarantäne, Homeschooling und Homeoffice zu etwas geworden sind, das man nicht mehr nur aus Büchern kennt, sondern aus dem eigenen Alltag.
Man liest diese vier neuen und sehr unterschiedlichen Romane mit einem anderen Bedürfnis nach erzählerischer Spiegelung einer Gegenwart, aus der man ja selbst rauswill. Und fühlt sich seltsam angezogen von der Klaustrophobie und der körperlichen und seelischen Beanspruchung, die alle vier auf ihre Weise beschreiben. Keinen einzigen Leitartikel zur Corona-Gesellschaft will man ja eigentlich noch lesen, in diesem dritten Corona-Frühjahr. Und erst recht keine programmatischen "Corona-Romane". Aber die Suche nach Antworten auf die seltsamen Erfahrungen der letzten Zeit (und auf die Tics, die man selbst entwickelt hat) hört damit ja nicht auf.
Diese Antworten findet man also in der neuen Literatur, selbst wenn sie sich diese Fragen so gar nicht gestellt hat: in einer komischen Dystopie wie Sven Pfizenmaiers "Draußen feiern die Leute". Oder in einem lähmenden Kammerspiel wie Tatjana von der Beeks "Die Welt vor den Fenstern". In einer Zerfallsstudie wie Annika Domainkos "Ungefähre Tage". Oder einer Emanzipationschronik wie Elina Penners "Nachtbeeren". Alle vier Debüts erzählen, mal mehr, wie bei Sven Pfizenmaier, mal weniger, wie bei Elina Penner, aus einer verschobenen Realität: Der herkömmliche Ablauf der Dinge ist unterbrochen, oder die Dinge laufen nicht herkömmlich ab, oder unerhörte Dinge passieren wie sonst nur in Novellen, ein Riss tut sich auf in der Wirklichkeit. Und falls Leonard Cohens berühmte Songzeilen wirklich stimmen sollten, there is a crack in everything / that's how the light gets in, dann fällt durch diesen Riss in den Dingen zwar vielleicht das Licht ins Leben, aber manchmal kriecht eben auch ganz was anderes hinein. Durch die wabernden Wände.
"Ich war es gewohnt, durch die Türen von einem Zimmer in das nächste zu treten, doch einen Weg in die Welt vor den Fenstern gab es nicht. Unser Haus lag mitten auf einer großen Wiese, an dessen Rändern der Wald stand wie eine Wand." Maia, die Erzählerin aus Tatjana von der Beeks "Die Welt vor den Fenstern", lebt mit Mutter, Cousine, Tante, Onkel und Großmutter in einem Vakuum aus abgezählten Dingen (sechs Teller, sechs Tassen), verteilten Aufgaben (Feuer machen, Milch einschenken) und ritueller Beschäftigung mit Tierkreiszeichen, Astronomie, Mythologie und Torten. Alle im Haus dürfen nur einen Gegenstand besitzen, Fehler werden hart bestraft, nicht mal in den Träumen des Mädchens gibt es eine Alternative zu dieser Enge. Und niemand darf raus.
Die Tante ist schwanger, aber offenbar nicht vom alten Onkel, der nach Schwefel aus dem Mund riecht. Maia hadert mit der Kälte der Mutter, die ihre Tochter eifersüchtig beobachtet, es gibt Zonen im Haus, die nur für Erwachsene sind, und während man Maia immer nervöser dabei zuschaut, wie wiederum sie selbst den anderen im Haus zuschaut, merkt man irgendwann, dass sich dieser Roman, der minutiös von Abläufen und Ritualen erzählt, selbst an minutiösen Ablaufbeschreibungen festhält. Was den seltsamen Effekt hat, dass man als Leser mit jeder Seite nur noch mehr nach draußen will, die Autorin aber ihren Roman immer nur tiefer nach innen treibt, ins Innere des Hauses und der Hirnwindungen des Mädchens.
Fast ist es, als sei Tatjana von der Beek, Absolventin des Hildesheimer Literaturinstituts, dieser unheimliche Plot selbst zu unheimlich, um ihm freien Lauf zu lassen: Das Haus wirkt wie ein Folterkeller, den man auf Etsy bestellen kann, mit Leinen und feinen Bleistiften und alten Schüsseln. Der Überschuss an Affekten, die sich in diesem Roman stauen, kann sich nicht entladen - vielleicht, weil die Autorin an diesem Horror eines ewigen Drinnens eher der verstörende Aspekt interessiert, dass auch das eine Heimat werden kann. Und sie den Leser, sicher gewollt, mit der Frage allein lässt, ob das hier eine Sekte ist, ein gemeingefährlicher Kult, ein Albtraum.
Ganz anders geht Annika Domainko mit dem Affektstau in ihrem Psychiatrieroman "Ungefähre Tage" um - dem man einen weniger schreibschulartigen Titel gewünscht hätte, weil am Pfleger Grün, dem man in dieser Geschichte in den Meltdown folgt, gar nichts ungefähr ist.
Grün, ein Mann in den Vierzigern mit junger Frau und neugeborener Tochter, schmeißt Pillen, die er aus dem Arzneischrank klaut. Er hat offenbar höhere akademische Ambitionen gehabt, aber projiziert seine Minderwertigkeitsgefühle jetzt lieber auf seine Schwiegereltern, die ihn angeblich für seinen "Frauenberuf" verachten. Grün hört noch immer die alten Platten von damals, trägt Doc Martens, raucht Selbstgedrehte - und manipuliert eine junge Patientin mit roten Haaren, die eines Tages "auf Station" eingewiesen wird und die er eigentlich betreuen soll. Stattdessen zieht er sie in seine eigene Krise hinein.
Die Station, auf der sich beide begegnen, verklärt Grün, ganz Bildungsbürger, zum "Temenos", eine altsprachlich aufgebauschte Ausrede für seine Manipulation, eigentlich hat er das vom Temenos aber auch nur gerade in einem Podcast gehört: "Ein abgegrenzter, aus der Umwelt herausgeschnittener Bereich, eine sakrale Insel im Profanen, die durch diese Abtrennung einer Gottheit geweiht wurde, Raum für das Nicht-Alltägliche, in sich geschlossen mit klaren Regeln und Ritualen für das Drinnen und Draußen."
Die klaren Regeln aber bricht Grün, wir haben hier "auf Station" doch alle nur Funktionen, erklärt er der Frau irgendwann, als gäbe es keinen Unterschied zwischen ihm und ihr, und dann rutscht er nach und nach in seine eigene Psychose hinein - was Domainko, promovierte Althistorikerin, in größtmöglicher Kälte inszeniert: Kurz vor dem Ende ihres Romans wechselt sie die Perspektive, lässt Grün nicht mehr selbst sprechen, als Ich, sondern lässt ihn sich selbst von außen beschreiben, längst sind da die Perspektiven aufgefaltet - und der Mann, "auf Station", gefangen in den Varianten seiner eigenen seelischen Showdowns.
Das Drama einer suspendierten Zeit und eines Ortes, außerhalb der Koordinaten, in denen eigene Regeln wirken - Sven Pfizenmaier gibt in "Draußen feiern die Leute" ziemlich genau an, wo sein Roman spielt: zwei Regionalbahnstationen von Hannover entfernt, in einer Gegenwart, die unserer ähnelt. Nur dass da eine Oma in diesem Dorf lebt, die fast hundertsiebzig Jahre alt ist. Und ein Mädchen, Valerie, das 45 Tage am Stück schläft. Und Richard, ein Freund von ihr, der alle in Trance versetzt, die nur in seine Nähe geraten, "du bist und bleibst mein Sohn", sagt seine Mutter, "aber was soll ich machen, mir fallen die Augen zu, wenn ich dich sehe".
Irgendetwas wabert in den Wänden. Häuser tun Dinge. Ein Schatten vertickt Drogen. Und der Boss dieses Schattens ist eine Eule, Rasputin, und diese Eule bietet all jenen, die verschwinden wollen, eine "ewige Fahrt" an. Wer weiß, wohin die geht. Jedenfalls kommen die, die gehen, nicht wieder, und die, die sie suchen, verschwinden auch - und wie eigensinnig im Ton Pfizenmaier diese Geschichte erzählt, wie er einfach eine kleine Welt in die größere Welt hineinstellt, die unserer ähnelt, und dort Dinge geschehen lässt, über die sich niemand mehr wundert, ist lustig und furchteinflößend und hinreißend. Eine täuschend echte, andere Gegenwart der Seltsamkeit. Die Moral der Geschichte ist: Auch wenn noch so viele ausbrechen, nicht mehr weitermachen wollen und verschwinden, auch wenn Tiere sprechen und man Bier durch die Wand einer geschlossenen Dose trinken kann: Am Ende ist doch wieder Weihnachtsmarkt, wie jedes Jahr, und der Provinzterror wütet weiter.
Nur ein paar Regionalbahnstationen von Hannover entfernt spielt auch die Geschichte, die Elina Penner in "Nachtbeeren" erzählt. Die Autorin stammt aus einer Familie der freikirchlichen Mennoniten, wurde 1987 in der Sowjetunion geboren, 1991 wanderte ihre Familie nach Ostwestfalen aus, dort wurde Elina Penner groß, dort lebt sie heute auch wieder, dort, in Minden, spielt ihr Roman über eine Gemeinschaft, die nach klar umrissenen Regeln lebt: "Was wir machen, machen wir zusammen. Wenn wir ein Land verlassen, machen wir das zusammen."
Sie sind aus der Sowjetunion, wo plattdeutsch sprechende Mennoniten seit dem 18. Jahrhundert gelebt haben, wo sie zwangsumgesiedelt und drangsaliert wurden, am Ende des 20. Jahrhunderts nach Deutschland gekommen. Sie sind also in die Heimat ausgewandert - aber wer sollte das verstehen, der nicht dazugehört? Nach außen, für die "Hiesigen", die "Kartoffeln", die deutschen Nachbarn um sie herum, bleiben die mennonitischen Familien nur die "Russlanddeutschen", deren Namen bei der Einreise eingedeutscht wurden, die in Sozialbauten leben, bis sie sich leisten können zu bauen, und dann bauen sie alle, weil keiner mehr auf zwölf Quadratmetern leben will wie anfangs, im Auffanglager.
Nelli ist eine von ihnen. Der Mann geht arbeiten, ihre Aufgabe ist das Haus, staubfrei, streifenfrei, kein Krümel: "Ich bin eine 35-jährige gläubige, fromme und bekehrte Mennonitin, und mein Mann ist weg. Vielleicht, um bei der Frau zu sein, die er liebt. Ich frage mich, ob einer meiner Brüder ihn töten würde, wenn ich nur den Mund aufkriegen und fragen würde." Der Mann, Kornelius, liegt eines Tages wirklich zerstückelt im Tiefkühlfach neben Toastbrot und Blini, dort findet ihn Jakob, sein Sohn. Nelli aber ist verschwunden, und jetzt ruft der Sohn seine Onkel, Nellis Brüder also, und was auch immer passiert ist: Untereinander klären sie, was als Nächstes passieren muss.
Und was da geschehen ist und dann passiert, erzählt Elina Penner mit Gespür für Dialoge und Verknappungen in Tagebucheinträgen der Beteiligten: ein paar Tage im Mai 2020, ein paar Tage im Mai zehn Jahre zuvor. Nelli bricht auseinander, als ihre Öma stirbt, und mit ihr der Beweis, dass Eigensinn auch in der engsten Welt möglich ist. Am Ende des Romans hat sie diesen Beweis selbst noch einmal erbracht. Aber auf dem Weg dahin musste sie die enge Welt sprengen. TOBIAS RÜTHER
Tatjana von der Beek, "Die Welt vor den Fenstern". Ecco, 256 Seiten, 20 Euro.
Annika Domainko, "Ungefähre Tage". C.H. Beck, 222 Seiten, 23 Euro.
Sven Pfizenmaier, "Draußen feiern die Leute". Kein & Aber, 336 Seiten, 24 Euro.
Elina Penner, "Nachtbeeren". Aufbau, 248 Seiten, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Isolation, Klaustrophobie, Ausbruch und böse Träume: In den Debüts des Frühjahrs sind Echos der Pandemie zu hören. So einfach ist es aber dann doch nicht.
Ein Haus im Wald, aus dem keine Türen nach draußen führen, aber irgendwie müssen die Menschen, die hier wohnen, doch hineingekommen sein. Ein Dorf, aus dem junge Menschen verschwinden, aber wohin gehen sie, und was hat eine sprechende Eule in Lackschuhen damit zu tun? Eine Psychiatrie am Rande der Stadt als Transit-Ort zwischen innerer und äußerer Welt, aber mit so porösen Grenzen, dass ein Pfleger sie übertritt. Und eine religiöse Minderheit in einer westfälischen Kleinstadt, deren Familien aus der Abschottung immer schon Kraft und Identität ziehen, nur was geschieht mit denen, die sich der Tradition nicht mehr beugen wollen?
Isolation, Klaustrophobie, Stillstand, Ausbruch: In den Debüts dieses Frühjahrs von Elina Penner, Annika Domainko, Tatjana von der Beek und Sven Pfizenmaier ist kein einziges Mal von Pandemie die Rede. Und doch spielen sie alle mit Leitmotiven, die man auch aus dem Lockdown kennt. Erzählen von einsamer Verzweiflung und Dissoziation, unheimlichen Träumen und Begegnungen mit Tieren, von Vorratshaltung, Drogen und Geheimverstecken, vom ewigen Drinnensein und der Sehnsucht nach dem Draußen, vom Fremdeln mit diesem Draußen, das auch gefährlich werden kann, von Regeln als Selbstzweck und Kontrolle durch Verfahren. Sie erzählen von Familien unter Druck, Zusammenbruch, Überlastung und immer wieder dann vom Ausbruch: Weg hier, raus hier, Ende, aus, es kann nicht so weitergehen, es muss anderswo weitergehen.
Diese Motive und Erfahrungen hat es natürlich auch jenseits der Pandemie schon gegeben. In der Literatur sind sie oft durchgespielt worden, "das einsame Haus" ist ein Genre für sich, geschlossene Räume und Gesellschaften und was sie Menschen antun ebenso. Der unheimliche Effekt der letzten vierundzwanzig Monate scheint aber zu sein, wie Isolation und Dissoziation unter dem Eindruck von Quarantäne, Homeschooling und Homeoffice zu etwas geworden sind, das man nicht mehr nur aus Büchern kennt, sondern aus dem eigenen Alltag.
Man liest diese vier neuen und sehr unterschiedlichen Romane mit einem anderen Bedürfnis nach erzählerischer Spiegelung einer Gegenwart, aus der man ja selbst rauswill. Und fühlt sich seltsam angezogen von der Klaustrophobie und der körperlichen und seelischen Beanspruchung, die alle vier auf ihre Weise beschreiben. Keinen einzigen Leitartikel zur Corona-Gesellschaft will man ja eigentlich noch lesen, in diesem dritten Corona-Frühjahr. Und erst recht keine programmatischen "Corona-Romane". Aber die Suche nach Antworten auf die seltsamen Erfahrungen der letzten Zeit (und auf die Tics, die man selbst entwickelt hat) hört damit ja nicht auf.
Diese Antworten findet man also in der neuen Literatur, selbst wenn sie sich diese Fragen so gar nicht gestellt hat: in einer komischen Dystopie wie Sven Pfizenmaiers "Draußen feiern die Leute". Oder in einem lähmenden Kammerspiel wie Tatjana von der Beeks "Die Welt vor den Fenstern". In einer Zerfallsstudie wie Annika Domainkos "Ungefähre Tage". Oder einer Emanzipationschronik wie Elina Penners "Nachtbeeren". Alle vier Debüts erzählen, mal mehr, wie bei Sven Pfizenmaier, mal weniger, wie bei Elina Penner, aus einer verschobenen Realität: Der herkömmliche Ablauf der Dinge ist unterbrochen, oder die Dinge laufen nicht herkömmlich ab, oder unerhörte Dinge passieren wie sonst nur in Novellen, ein Riss tut sich auf in der Wirklichkeit. Und falls Leonard Cohens berühmte Songzeilen wirklich stimmen sollten, there is a crack in everything / that's how the light gets in, dann fällt durch diesen Riss in den Dingen zwar vielleicht das Licht ins Leben, aber manchmal kriecht eben auch ganz was anderes hinein. Durch die wabernden Wände.
"Ich war es gewohnt, durch die Türen von einem Zimmer in das nächste zu treten, doch einen Weg in die Welt vor den Fenstern gab es nicht. Unser Haus lag mitten auf einer großen Wiese, an dessen Rändern der Wald stand wie eine Wand." Maia, die Erzählerin aus Tatjana von der Beeks "Die Welt vor den Fenstern", lebt mit Mutter, Cousine, Tante, Onkel und Großmutter in einem Vakuum aus abgezählten Dingen (sechs Teller, sechs Tassen), verteilten Aufgaben (Feuer machen, Milch einschenken) und ritueller Beschäftigung mit Tierkreiszeichen, Astronomie, Mythologie und Torten. Alle im Haus dürfen nur einen Gegenstand besitzen, Fehler werden hart bestraft, nicht mal in den Träumen des Mädchens gibt es eine Alternative zu dieser Enge. Und niemand darf raus.
Die Tante ist schwanger, aber offenbar nicht vom alten Onkel, der nach Schwefel aus dem Mund riecht. Maia hadert mit der Kälte der Mutter, die ihre Tochter eifersüchtig beobachtet, es gibt Zonen im Haus, die nur für Erwachsene sind, und während man Maia immer nervöser dabei zuschaut, wie wiederum sie selbst den anderen im Haus zuschaut, merkt man irgendwann, dass sich dieser Roman, der minutiös von Abläufen und Ritualen erzählt, selbst an minutiösen Ablaufbeschreibungen festhält. Was den seltsamen Effekt hat, dass man als Leser mit jeder Seite nur noch mehr nach draußen will, die Autorin aber ihren Roman immer nur tiefer nach innen treibt, ins Innere des Hauses und der Hirnwindungen des Mädchens.
Fast ist es, als sei Tatjana von der Beek, Absolventin des Hildesheimer Literaturinstituts, dieser unheimliche Plot selbst zu unheimlich, um ihm freien Lauf zu lassen: Das Haus wirkt wie ein Folterkeller, den man auf Etsy bestellen kann, mit Leinen und feinen Bleistiften und alten Schüsseln. Der Überschuss an Affekten, die sich in diesem Roman stauen, kann sich nicht entladen - vielleicht, weil die Autorin an diesem Horror eines ewigen Drinnens eher der verstörende Aspekt interessiert, dass auch das eine Heimat werden kann. Und sie den Leser, sicher gewollt, mit der Frage allein lässt, ob das hier eine Sekte ist, ein gemeingefährlicher Kult, ein Albtraum.
Ganz anders geht Annika Domainko mit dem Affektstau in ihrem Psychiatrieroman "Ungefähre Tage" um - dem man einen weniger schreibschulartigen Titel gewünscht hätte, weil am Pfleger Grün, dem man in dieser Geschichte in den Meltdown folgt, gar nichts ungefähr ist.
Grün, ein Mann in den Vierzigern mit junger Frau und neugeborener Tochter, schmeißt Pillen, die er aus dem Arzneischrank klaut. Er hat offenbar höhere akademische Ambitionen gehabt, aber projiziert seine Minderwertigkeitsgefühle jetzt lieber auf seine Schwiegereltern, die ihn angeblich für seinen "Frauenberuf" verachten. Grün hört noch immer die alten Platten von damals, trägt Doc Martens, raucht Selbstgedrehte - und manipuliert eine junge Patientin mit roten Haaren, die eines Tages "auf Station" eingewiesen wird und die er eigentlich betreuen soll. Stattdessen zieht er sie in seine eigene Krise hinein.
Die Station, auf der sich beide begegnen, verklärt Grün, ganz Bildungsbürger, zum "Temenos", eine altsprachlich aufgebauschte Ausrede für seine Manipulation, eigentlich hat er das vom Temenos aber auch nur gerade in einem Podcast gehört: "Ein abgegrenzter, aus der Umwelt herausgeschnittener Bereich, eine sakrale Insel im Profanen, die durch diese Abtrennung einer Gottheit geweiht wurde, Raum für das Nicht-Alltägliche, in sich geschlossen mit klaren Regeln und Ritualen für das Drinnen und Draußen."
Die klaren Regeln aber bricht Grün, wir haben hier "auf Station" doch alle nur Funktionen, erklärt er der Frau irgendwann, als gäbe es keinen Unterschied zwischen ihm und ihr, und dann rutscht er nach und nach in seine eigene Psychose hinein - was Domainko, promovierte Althistorikerin, in größtmöglicher Kälte inszeniert: Kurz vor dem Ende ihres Romans wechselt sie die Perspektive, lässt Grün nicht mehr selbst sprechen, als Ich, sondern lässt ihn sich selbst von außen beschreiben, längst sind da die Perspektiven aufgefaltet - und der Mann, "auf Station", gefangen in den Varianten seiner eigenen seelischen Showdowns.
Das Drama einer suspendierten Zeit und eines Ortes, außerhalb der Koordinaten, in denen eigene Regeln wirken - Sven Pfizenmaier gibt in "Draußen feiern die Leute" ziemlich genau an, wo sein Roman spielt: zwei Regionalbahnstationen von Hannover entfernt, in einer Gegenwart, die unserer ähnelt. Nur dass da eine Oma in diesem Dorf lebt, die fast hundertsiebzig Jahre alt ist. Und ein Mädchen, Valerie, das 45 Tage am Stück schläft. Und Richard, ein Freund von ihr, der alle in Trance versetzt, die nur in seine Nähe geraten, "du bist und bleibst mein Sohn", sagt seine Mutter, "aber was soll ich machen, mir fallen die Augen zu, wenn ich dich sehe".
Irgendetwas wabert in den Wänden. Häuser tun Dinge. Ein Schatten vertickt Drogen. Und der Boss dieses Schattens ist eine Eule, Rasputin, und diese Eule bietet all jenen, die verschwinden wollen, eine "ewige Fahrt" an. Wer weiß, wohin die geht. Jedenfalls kommen die, die gehen, nicht wieder, und die, die sie suchen, verschwinden auch - und wie eigensinnig im Ton Pfizenmaier diese Geschichte erzählt, wie er einfach eine kleine Welt in die größere Welt hineinstellt, die unserer ähnelt, und dort Dinge geschehen lässt, über die sich niemand mehr wundert, ist lustig und furchteinflößend und hinreißend. Eine täuschend echte, andere Gegenwart der Seltsamkeit. Die Moral der Geschichte ist: Auch wenn noch so viele ausbrechen, nicht mehr weitermachen wollen und verschwinden, auch wenn Tiere sprechen und man Bier durch die Wand einer geschlossenen Dose trinken kann: Am Ende ist doch wieder Weihnachtsmarkt, wie jedes Jahr, und der Provinzterror wütet weiter.
Nur ein paar Regionalbahnstationen von Hannover entfernt spielt auch die Geschichte, die Elina Penner in "Nachtbeeren" erzählt. Die Autorin stammt aus einer Familie der freikirchlichen Mennoniten, wurde 1987 in der Sowjetunion geboren, 1991 wanderte ihre Familie nach Ostwestfalen aus, dort wurde Elina Penner groß, dort lebt sie heute auch wieder, dort, in Minden, spielt ihr Roman über eine Gemeinschaft, die nach klar umrissenen Regeln lebt: "Was wir machen, machen wir zusammen. Wenn wir ein Land verlassen, machen wir das zusammen."
Sie sind aus der Sowjetunion, wo plattdeutsch sprechende Mennoniten seit dem 18. Jahrhundert gelebt haben, wo sie zwangsumgesiedelt und drangsaliert wurden, am Ende des 20. Jahrhunderts nach Deutschland gekommen. Sie sind also in die Heimat ausgewandert - aber wer sollte das verstehen, der nicht dazugehört? Nach außen, für die "Hiesigen", die "Kartoffeln", die deutschen Nachbarn um sie herum, bleiben die mennonitischen Familien nur die "Russlanddeutschen", deren Namen bei der Einreise eingedeutscht wurden, die in Sozialbauten leben, bis sie sich leisten können zu bauen, und dann bauen sie alle, weil keiner mehr auf zwölf Quadratmetern leben will wie anfangs, im Auffanglager.
Nelli ist eine von ihnen. Der Mann geht arbeiten, ihre Aufgabe ist das Haus, staubfrei, streifenfrei, kein Krümel: "Ich bin eine 35-jährige gläubige, fromme und bekehrte Mennonitin, und mein Mann ist weg. Vielleicht, um bei der Frau zu sein, die er liebt. Ich frage mich, ob einer meiner Brüder ihn töten würde, wenn ich nur den Mund aufkriegen und fragen würde." Der Mann, Kornelius, liegt eines Tages wirklich zerstückelt im Tiefkühlfach neben Toastbrot und Blini, dort findet ihn Jakob, sein Sohn. Nelli aber ist verschwunden, und jetzt ruft der Sohn seine Onkel, Nellis Brüder also, und was auch immer passiert ist: Untereinander klären sie, was als Nächstes passieren muss.
Und was da geschehen ist und dann passiert, erzählt Elina Penner mit Gespür für Dialoge und Verknappungen in Tagebucheinträgen der Beteiligten: ein paar Tage im Mai 2020, ein paar Tage im Mai zehn Jahre zuvor. Nelli bricht auseinander, als ihre Öma stirbt, und mit ihr der Beweis, dass Eigensinn auch in der engsten Welt möglich ist. Am Ende des Romans hat sie diesen Beweis selbst noch einmal erbracht. Aber auf dem Weg dahin musste sie die enge Welt sprengen. TOBIAS RÜTHER
Tatjana von der Beek, "Die Welt vor den Fenstern". Ecco, 256 Seiten, 20 Euro.
Annika Domainko, "Ungefähre Tage". C.H. Beck, 222 Seiten, 23 Euro.
Sven Pfizenmaier, "Draußen feiern die Leute". Kein & Aber, 336 Seiten, 24 Euro.
Elina Penner, "Nachtbeeren". Aufbau, 248 Seiten, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Manuela Reichart erkennt in Sven Pfizenmaiers Debütroman "Draußen feiern die Leute" keine typisch idyllische Dorferzählung. Der 1991 in Celle geborene Autor erzählt darin von drei Teenagern russlanddeutscher Eltern im provinzialen Niedersachsen, die sich alle drei in der Gesellschaft nicht wirklich zurecht finden und deshalb in den Drogenhandel einsteigen, erklärt Reichert. Die im Buch porträtierte Gesellschaft ist ihm zufolge ungewöhnlich und steht zwischen Wirklichkeit und Traum, Fantasie und hoher Kriminalität. Damit hebt sich das verspielte und mutige Debüt jedenfalls überraschend ab, schließt die Rezensentin, die in dem Bild- und Motivreichtum des Romans auch die Kinoleidenschaft des Autors erkennt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Perfekt für ein paar unterhaltsame Stunden. Die Story strotzt nur so vor überbordender Fantasie.« Esquire Magazine, 20.11.2024 Esquire Magazine 20241120