Dieser beklemmende, kammerspielartige Roman lässt niemanden unberührt: David, ein Junge aus gutem Hause, und seine Clique schwänzen wieder einmal die Schule, als ihnen ein kleines schwarzes Mädchen über den Weg läuft, das offenbar Läuse hat. Einfach so, aus einer Laune heraus, nehmen sie sie mit, um sie in der Wohnung eines der verwöhnten Jugendlichen zu entlausen. Doch dann läuft die Situation immer mehr aus dem Ruder. Der ganze Überdruss, die Arroganz und der aufgestaute Hass der Jugendlichen entlädt sich nun an diesem kleinen Mädchen - und niemand hat den Mut, das grausame Spiel zu beenden ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Blutige Köpfe
Im verstörendem Roman von Clémentine Beauvais quälen Jugendliche ein Mädchen. Sie wissen nicht, warum.
Von Elena Geus
Es juckt sie an Kopf und Körper, an ihrem Gewissen nagt, so scheint es, nichts. Drei Jungen und zwei Mädchen aus Paris beginnen ihren Tag wie so oft: lustlos, mit ein paar markigen Sprüchen und dann mit dem Entschluss, lieber bei einem der Jungen zu Hause abzuhängen, als in den Unterricht zu gehen. Schon nach den ersten Seiten ahnt man auf beklemmende Weise, dass es beim Schuleschwänzen und anderen Eskapaden gelangweilter Jugendlicher nicht bleiben, sondern Schlimmeres passieren wird.
Eine Sechsjährige wird zu ihrem zufälligen Opfer. Als sie als Letzte ihrer Klasse die Gruppe passiert, entdeckt einer der Halbwüchsigen im Haar des dunkelhäutigen Mädchens eine Laus, sie greifen sich das Kind, nehmen es mit, vorgeblich, um es von den Plagegeistern zu befreien, tatsächlich aber, um es zu quälen, zu demütigen und es büßen zu lassen. Doch büßen wofür eigentlich? Nicht nur mit dieser Frage lässt Clémentine Beauvais ihre Leser allein: schockiert, bedrückt und ratlos.
Die Fünf sind eine traurige Truppe: empathielos die einen - die gereizte Anne-Laure, der aufbrausende Gonzague und der aggressionsgeladene Florian -, fügsam und seltsam teilnahmslos die anderen, so dass nicht einmal der Rest an Anstand und Mitleid, der sich bei der leicht abwesenden Élise und bei David, dem undurchschaubaren Erzähler, regt, zu einem Ende des üblen Treibens führt.
Eine vorhersehbare Handlung, kaum entwickelte Charaktere und keine Antwort, wie es zu einer Tat wie dieser kommen konnte: Was hätte schiefgehen können, ist bei Beauvais zu einem kleinen, ebenso verstörenden wie fesselnden Meisterwerk geworden, dessen rätselhafte Kraft weit über die letzte Seite hinausreicht - in einer Sprache, die die Tristesse und die Verrohung der jungen Menschen beängstigend greifbar macht.
"Warum, warum, warum . . . es gibt kein Warum", versucht David gleich zu Beginn jede Hoffnung auf Erklärung im Keim zu ersticken. Aber entführt und peinigt man ein Kind wirklich grundlos, zufällig? Los lässt das Forschen nach dem Warum den Leser nicht mehr, obwohl es bequemer wäre, den Gründen nicht nahezukommen, denn die Geschichte in Beauvais' Roman ist nicht schreckliche Fiktion, sondern beängstigend nah an der Wirklichkeit: (Noch) ungestraft dürfen in diesem Land erwachsene Menschen Asylbewerber öffentlich als "Dreckspack" bezeichnen - wofür Pegida-Anführer Bachmann nun angeklagt wird -; immer häufiger wird das Wort "Überfremdung" vorschnell im Munde geführt, als seien, um im Bild zu bleiben, Flüchtlinge eine Ärger machende Laus im Pelz von Ordnung und Wohlstand.
Anne-Laure, Gonzague und die anderen kratzen sich, längst für ihr rassistisch motiviertes Verbrechen im Gefängnis sitzend, immer wieder die Schädel blutig, ganz ohne Lausbefall. Auch ohne diese überhöhte Parasiten-Symbolik, in der sich Beauvais am Ende etwas zu verlieren droht - die einzige kleine Schwäche des Buches - ist dem Leser klar: Es juckt sie nur. Ob es sie auch nachhaltig kratzt, was sie getan haben, das bleibt offen.
Clémentine Beauvais: "Dreckstück".
Aus dem Französischen von Annette von der Weppen. Carlsen Verlag, Hamburg 2015. 96 S., geb., 11,99 [Euro]. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im verstörendem Roman von Clémentine Beauvais quälen Jugendliche ein Mädchen. Sie wissen nicht, warum.
Von Elena Geus
Es juckt sie an Kopf und Körper, an ihrem Gewissen nagt, so scheint es, nichts. Drei Jungen und zwei Mädchen aus Paris beginnen ihren Tag wie so oft: lustlos, mit ein paar markigen Sprüchen und dann mit dem Entschluss, lieber bei einem der Jungen zu Hause abzuhängen, als in den Unterricht zu gehen. Schon nach den ersten Seiten ahnt man auf beklemmende Weise, dass es beim Schuleschwänzen und anderen Eskapaden gelangweilter Jugendlicher nicht bleiben, sondern Schlimmeres passieren wird.
Eine Sechsjährige wird zu ihrem zufälligen Opfer. Als sie als Letzte ihrer Klasse die Gruppe passiert, entdeckt einer der Halbwüchsigen im Haar des dunkelhäutigen Mädchens eine Laus, sie greifen sich das Kind, nehmen es mit, vorgeblich, um es von den Plagegeistern zu befreien, tatsächlich aber, um es zu quälen, zu demütigen und es büßen zu lassen. Doch büßen wofür eigentlich? Nicht nur mit dieser Frage lässt Clémentine Beauvais ihre Leser allein: schockiert, bedrückt und ratlos.
Die Fünf sind eine traurige Truppe: empathielos die einen - die gereizte Anne-Laure, der aufbrausende Gonzague und der aggressionsgeladene Florian -, fügsam und seltsam teilnahmslos die anderen, so dass nicht einmal der Rest an Anstand und Mitleid, der sich bei der leicht abwesenden Élise und bei David, dem undurchschaubaren Erzähler, regt, zu einem Ende des üblen Treibens führt.
Eine vorhersehbare Handlung, kaum entwickelte Charaktere und keine Antwort, wie es zu einer Tat wie dieser kommen konnte: Was hätte schiefgehen können, ist bei Beauvais zu einem kleinen, ebenso verstörenden wie fesselnden Meisterwerk geworden, dessen rätselhafte Kraft weit über die letzte Seite hinausreicht - in einer Sprache, die die Tristesse und die Verrohung der jungen Menschen beängstigend greifbar macht.
"Warum, warum, warum . . . es gibt kein Warum", versucht David gleich zu Beginn jede Hoffnung auf Erklärung im Keim zu ersticken. Aber entführt und peinigt man ein Kind wirklich grundlos, zufällig? Los lässt das Forschen nach dem Warum den Leser nicht mehr, obwohl es bequemer wäre, den Gründen nicht nahezukommen, denn die Geschichte in Beauvais' Roman ist nicht schreckliche Fiktion, sondern beängstigend nah an der Wirklichkeit: (Noch) ungestraft dürfen in diesem Land erwachsene Menschen Asylbewerber öffentlich als "Dreckspack" bezeichnen - wofür Pegida-Anführer Bachmann nun angeklagt wird -; immer häufiger wird das Wort "Überfremdung" vorschnell im Munde geführt, als seien, um im Bild zu bleiben, Flüchtlinge eine Ärger machende Laus im Pelz von Ordnung und Wohlstand.
Anne-Laure, Gonzague und die anderen kratzen sich, längst für ihr rassistisch motiviertes Verbrechen im Gefängnis sitzend, immer wieder die Schädel blutig, ganz ohne Lausbefall. Auch ohne diese überhöhte Parasiten-Symbolik, in der sich Beauvais am Ende etwas zu verlieren droht - die einzige kleine Schwäche des Buches - ist dem Leser klar: Es juckt sie nur. Ob es sie auch nachhaltig kratzt, was sie getan haben, das bleibt offen.
Clémentine Beauvais: "Dreckstück".
Aus dem Französischen von Annette von der Weppen. Carlsen Verlag, Hamburg 2015. 96 S., geb., 11,99 [Euro]. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Andrea Lüthi lobt die stille Anlage des Jugendbuches von Clémentine Beauvais über eine Jugendclique, die ein dunkelhäutiges Kindergartenmädchen misshandelt. Die Themen Gewalt, Rassismus und Gruppendynamik scheinen ihr durch den Verzicht auf Gewaltszenen und eine sachliche Sprache im Text erst richtig aufwühlend zu wirken. Nach der Lektüre, während der sich die Rezensentin die ausgesparte Gewalt ausmalt, möchte sie am liebsten mit jemandem darüber diskutieren. Ein Buch, meint sie, das lange nachhallt, auch weil sein Realitätsbezug so offensichtlich ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein eindringliches Kammerspiel über die Banalität des Grauens.", Neue Presse, 09.01.2017