Ma Yuans Erzählungen führen zumeist in die tibetische Hauptstadt Lhasa und den Transhimalaya - von Peking aus besehen reichlich abseitig. Eine Expedition macht sich auf ins Hochland, um einen vermeintlich gesichteten Schneemenschen und einen sauriergroßen Schafsschädel zu finden. In einem maoistischen Landverschickungslager in Nordchina setzt ein Streit um eine verschwundene Armeemütze eine dramatische Kettenreaktion in Gang, oder eine Figur namens »Ma Yuan« schreckt nicht vor der Recherche in einem Lepradorf zurück. Diese uns unvertraute Literatur ist geprägt von autofiktionalen Verfahren, gesättigt mit Fiktionsbrüchen und Verfremdungseffekten, durchzogen von postmodernem Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge. Ihr eigentliches Thema wird oft das Erzählen selbst, das bei Ma Yuan ein gebrochenes, ein »beschädigtes« ist, dem es auf verschlungenen Pfaden immer wieder gelingt, Verbindungen jenseits der Kausalität herzustellen: etwa solche der Traumlogik oder der Assoziation. Wieder und wieder führt Ma Yuan dabei vor Augen, daß jede Narration auch Lüge und Täuschung ist. Das exotistische Tibet- Bild der jungen chinesischen Abenteurer, die es nach Lhasa zog, weil sie die Fremde im eigenen Land suchten, wird ebenso in Frage gestellt wie der Versuch, das Leben der einheimischen Bevölkerung literarisch zu verwerten. Ma Yuans Erzählungen zeichnen sich durch genaue Milieubeschreibungen und viel Lokalkolorit aus. Sie führen in das Künstlermilieu der achtziger Jahre und den Alltag des kulturell wie ethnisch erstaunlich diversen Lhasa. Das postrevolutionäre China sowie das besetzte Tibet erscheinen in neuem Licht, verbreitete Klischees werden so unterlaufen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Hannes Becker staunt über die erzählerische Vielfalt in Ma Yuans Texten, die nun in einer von Julia Veihelmann zusammengestellten und übersetzten Auswahl endlich auch auf Deutsch zu bewundern ist. So umfassen die Texte des 1953 in China geborenen, in den 80er Jahren dort zu Erfolg gelangten Schriftstellers einerseits "formal kühne Prosawerke" mit abrupten Abbrüchen oder Auslassungen, aber auch fein poetische Geschichten oder "popliterarisch" anmutende, leichte Erzählungen über Ausflüge an den Fluss, wie Becker fasziniert auffächert. In vielen der Texte geht es dabei um Tibet und um den kolonialen chinesischen Blick darauf - ein Aspekt, den Veihelmann in einem "kenntnisreichen" Nachwort hervorhebe und der Yuans Schreiben anschlussfähig an aktuelle Diskurse um kulturelle Aneignung macht, so der Kritiker. Spannend findet er zudem, dass die Erzähler der jeweiligen Geschichten (die oft den Namen des Autors tragen) mit Selbstlob, etwa ihrer Kochkünste oder Physis, zwar nicht sparen, bezüglich ihrer schriftstellerischen Fähigkeit dann aber überraschend kleinlaut werden. Eine durch den "lakonischen" Stil, die gute Übersetzungsarbeit und Kontextualisierungen des Autors auch einem westlichen Publikum gut zugängliche Textsammlung, lobt Becker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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