1949 entstanden aus dem Deutschen Reich zwei Republiken. Der tiefste Einschnitt in unserer Geschichte führte uns hart an eine Stunde Null. Für vier Jahrzehnte war die Teilung Deutschlands und Europas besiegelt. Der Autor schildert aus eigenen Begegnungen die führenden Persönlichkeiten. Eingehend untersucht er Kontinuitäten und neue Anfänge im politischen Personal, in der Verfassung und in den Institutionen von Staat und Gesellschaft und setzt sich mit dem Vorwurf des restaurativen Charakters auseinander.Mit 1969, dem ersten Jahr eines sozialdemokratischen Kanzlers, verbindet der Autor die Frage nach einem Neubeginn im Inneren. Die neue Ostpolitik war eine zweite tiefe Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Es ging um Entspannung zwischen Ost und West unter deutscher Anleitung. Richard von Weizsäcker gehörte zur verschwindenden Minderheit seiner Partei, der damaligen Opposition, die diesen Kurs nachhaltig unterstützte. Sein Herzensanliegen war von jeher die Aussöhnung mit Polen. 1989 kamder Kalte Krieg zu seinem Ende. Als erstes Staatsoberhaupt des geeinten Deutschland hat Richard von Weizsäcker diesen fundamentalen Neubeginn mitgestaltet. Erneut analysiert der Autor Kontinuität und neuen Anfang, Erfolge, Gefahren und Versäumnisse des Einigungsprozesses. Wo es ihm erforderlich schien, hat er Differenzen mit der damaligen Regierung unter Helmut Kohl nicht gescheut. Er bewertet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Arbeit der Institutionen unserer Verfassung, die Dominanz der politischen Parteien und die Leistungen und Fehlleistungen im Machtkampf der demokratischen Politiker. Das Ziel ist die Vollendung ganz Europas ohne das bisher alleinige Präfix »West«. So gibt er Antworten auf die dreifache Frage nach der Stunde Null und nach den Kontinuitäten in der geistigen und politischen deutschen Geschichte unserer Zeit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2002Staatsdienst geht vor Parteidienst
Der Aufklärer Richard von Weizsäcker rezensiert in historischen Skizzen und farbigen Impressionen die deutsche Nachkriegspolitik
RICHARD VON WEIZSÄCKER: Drei Mal Stunde Null? – 1949-1969- 1989. Deutschlands europäische Zukunft, Siedler, 2001, 224 Seiten, 19.95 Euro.
Er hat einst dem Amt des Bundespräsidenten intellektuellen Glanz verliehen. Das Charisma ist geblieben, seine Autorität wirkt fort. Richard von Weizsäcker genießt nach wie vor hohes Ansehen – nun als Elder Statesman und als publizierender Zeitzeuge. Seine Schriften zu den Höhen und Tiefen deutscher Staatskunst haben ihren eigenen Reiz: Sie sind Geschichte aus erster Hand. Das gilt insbesondere für sein jüngstes Buch: „Drei Mal Stunde Null? – 1949-1969-1989”.
Weizsäcker schreibt – wie nur wenige seiner Zunft – ein makelloses Deutsch. Seine Diktion erinnert an die Klarheit und Dichte, die Bismarcks, aber auch Helmut Schmidts Texte auszeichnen. Bei den drei Autoren bewahrheitet sich eine Erkenntnis Schopenhauers, der „im Stil die Physiognomie des Geistes” sah. „Dunkelheit und Undeutlichkeit des Ausdrucks”, so der Philosoph, zeugten „in neunundneunzig Fällen unter hundert” von der „Undeutlichkeit des Gedankens”. Tatsächlich ist es die Sprache, in der sich die Denker unter den Politikern von den Machern unterscheiden – die, wie etwa Helmut Kohl, über den ersten Buchstaben im Alphabet (A wie Allgemeinplatz) nur selten hinaus kommen.
Willy Brandts Credo
Den Streifzug durch die Zeitgeschichte, zu dem Weizsäcker seine Leser animiert, säumen Wegweiser. Der Autor orientiert sich an drei Daten, denen er (mehr oder weniger) symbolische Bedeutung beimisst: 1949, das Jahr, in dem die Bundesrepublik gegründet wurde, in dem aber auch ein zweiter Staat auf deutschem Boden entstand; 1969, Willy Brandts „Stunde Null” mit dem Credo: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an”; 1989, das Ende der deutschen Teilung und der Aufbruch nach Europa.
Weizsäcker bedient sich einer kunstvollen Dramaturgie. Auf nüchterne historische Skizzen folgen farbige Impressionen und eindringliche Appelle an die Einsicht aller Gutwilligen. Er würdigt Verdienste und rügt Fehlleistungen. Zur Zeitgeschichte, die er abhandelt, gehört auch sein „Parteifreund” Kohl. Mit dessen Politikverständnis verbindet ihn nur wenig. Er geht, wo er kann, auf Abstand. Wenn er ausdrücken will, was ein anständiger Mensch von diffamierenden Kampagnen (Stichwort: „Rote Socken”) halten soll, macht er deutlich, dass er mit den Urhebern nichts gemein hat. Er spricht dann distanziert von „Kohls Partei” – als wollte er sagen: Diese ist nicht die meine.
Des Altkanzlers Rolle im Parteispendenskandal ist Weizsäcker einen Absatz wert. Aber der hat es in sich. Er beurteilt die schmuddelige Affäre nicht – wie alle Welt – aus juristischer Sicht, sondern bemüht die „öffentliche Moral”. Sie verlange, sagt er vornehm, „Aufklärung der Vorkommnisse”. Dazu könne Kohl „durch die notwendigen Auskünfte” beitragen, was hilfreicher wäre, als sich „auf eine private Moral” zu berufen.
Weizsäckers Resümee ist unerbittlich. Er setzt mit spitzen Fingern Kohls „Ehrenwort” in Anführungszeichen. Und er nennt das, was der pathetische Schwur eigentlich schützt, beim Namen: „die Ehre des Mittäters”. Sein Rat an den Gestrauchelten klingt vernünftig: „Besser als jeder andere könnte er selbst dafür sorgen, dass seine Rechtsverletzung nicht politisch instrumentalisiert wird.” Kohl wird ihm was husten.
Solche Notate sind winzige Splitter, die sich bescheiden im Text verbergen, die aber gleichwohl das Ganze illuminieren. Sie besagen: Hier spricht ein Aufklärer, der nicht hinnehmen will, dass Theorie und Praxis so selten in Einklang zu bringen sind. Seine politische Philosophie führt folgerichtig zu der Forderung, dass „Staatsdienst klar und eindeutig unterscheidbar vor Parteidienst zu stellen” sei. Diese preußische Disziplin verlangt er nicht nur von anderen, sondern zu allererst von sich selbst – sie war erkennbar Richtschnur für sein eigenes Leben.
Das erklärt, warum er, wenn nötig, auch einen Menschen würdigen kann, der ihm, wie Kohl, ersichtlich fremd geblieben ist. Er erinnert an „die kraftvoll wahrgenommene Chance zur nationalen Einheit” – und merkt an: „Nur ein Tor wird es ihm neiden.” Die Chance „für entscheidende Schritte” in Richtung Europa habe „mit ihm genau und wie nach Plan den Richtigen” getroffen. „Hier lag das Herzstück seiner Leistungen als Kanzler.”
Nobler sind Kohls Verdienste selten gewürdigt worden. Das Lob zählt doppelt, weil es nicht von einem unkritischen Claqueur kommt. Die Passagen über den Altkanzler machen nur einen kleinen Teil des Buches aus, doch sie ziehen den Blick an, weil Kohl – für jeden sichtbar – den Autor (nicht zuletzt wegen seines überragenden Intellekts) mitunter als Widersacher empfunden und ihm seinen Vorsprung an Glaubwürdigkeit und Popularität missgönnt hat. Wie der Altbundespräsident mit dieser Rivalität umgeht, ist selbst ein Stück Zeitgeschichte.
Die Tatsache, dass der Autor beides ist – Beobachter und Beteiligter – macht die Spannung des Buches aus. Was der prominente Kronzeuge von den Ereignissen, von den handelnden Personen und von gelösten wie ungelösten Problemen hält, weckt zwangsläufig die Neugier der Zeitgenossen.
Zwei Beispiele: Die „Politikverdrossenheit” und „die Mauer in den Köpfen” gehören mittlerweile zu den Standardformeln der gesellschaftlichen Diagnose.Weizsäckers Verdienst ist, dass er die Ärgernisse einordnet, dass er ihnen auf den Grund geht und dass er Visionen entwickelt. Auch er registriert: „Das Vertrauen in das Parteiensystem ist bedrohlich geschrumpft.” Ihm ist keine der vielen Ursachen entgangen. Doch er richtet sein besonderes Augenmerk auf eine: „Über Gemeinwohl und Macht zu sprechen, zwingt zu einem Blick auf das Verhältnis von Politik und Moral.” „Moralisiert” werde, meint der Autor, „vor allem in Diktaturen.” Wer seine Bürger der Freiheit beraube, rechtfertige seine Staatsräson umso stärker mit sittlichen Forderungen. „Die liberale Demokratie nimmt uns Menschen so, wie wir sind. Sie kann uns nicht ändern und will uns nicht bessern, uns aber den Rahmen für ein Zusammenleben geben.” Sie verstehe sich nicht als „Kampfplatz einer Wahrheitspolitik”.
Die Tugend des Pragmatismus
Weizsäcker warnt vor dem primitiven Schema, das die Moral „als Quelle einer besseren Gesinnung” gegen die Politik als Ursache „böser Realität” in Stellung bringt. „Jedermann möge sich hüten, Politik und Moral gegeneinander auszuspielen.” Moral ohne Politik werde zur „Ideologie im luftleeren Raum”; Politik ohne Moral sei einfach schlechte Politik. Er hält es für gefährlich, wenn aus jeder politischen Entscheidung eine „Gewissensfrage” gemacht und Pragmatismus
„a priori unter moralischen Verdacht” gestellt wird. „Er ist häufiger eine Tugend als eine Sünde.”
Auch das Gemeinwohl sei „keine Wahrheitsfrage”. Weizsäcker – hier ganz Verfassungspatriot – erinnert daran, dass die „Auskunft” über das Verhältnis zur Macht im Grundgesetz zu suchen und zu finden ist. Die Verfassung, so seine Schlussfolgerung, die Puristen nicht genügen mag, beantworte alles: „Mit ihren politischen und individuellen Grundrechten, ihren Staatszielen und Ämtern regelt sie den moralischen Kern unseres Gemeinwesens.”
Was den Umgang mit den neuen Ländern anbelangt, plädiert Weizsäcker für mehr Augenmaß. Den Kommunistenfressern, die DDR und Hitlerdiktatur auf eine Stufe stellen, hält er entgegen: Beide Systeme stünden „mit ihrem Ungeist und ihren Untaten auf verschiedenen Stufen”. Denn: „Anders als die Naziherrschaft hat der SED-Staat keinen Krieg begonnen und keinen Holocaust zu verantworten.” Er wirbt um Verständnis für spezifische Entwicklungen in der früheren DDR – und erweist sich damit (im Gegensatz zu den meisten Unionschristen) als aufgeklärter Konservativer.
Wer, außer ihm, versucht zu begreifen, was in jungen Menschen vorgeht, die einst „von den Schriften des jungen Karl Marx beeindruckt” waren. In diesem Kontext zitiert er die Forderung, gegen „Verhältnisse” anzugehen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”. (Ähnliches sagt übrigens auch das Bundesverfassungsgericht.) Wir sollten, meint der Autor, einen jungen Brandenburger, der „seinen Weg zum Sozialismus auf den demokratischen Prüfstand stellen will”, nicht „postkommunistisch” nennen. „Ihn zu ermutigen, statt ihn zu verdächtigen, ist unsere Aufgabe.”
Die Widersprüche im Umgang mit der SED-Vergangenheit liegen Weizsäcker auf der Seele. Er nennt drei Beispiele: die Tatsache, dass die PDS beim HauptstadtBeschluss „das Zünglein an der Waage” gewesen sei – eine Hilfe, die alle Berlin-Befürworter in den etablierten Parteien „dankbar entgegengenommen” hätten; die „Saunafreundschaft” zwischen Kohl und Jelzin, der (nicht anders als mancher DDR-Funktionär) vorher ein führender Kommunist gewesen ist; die Erfahrungen in den Kommunen der östlichen Bundesländer, wo sich CDU- und SPD- Politiker und PDS-Vertreter wechselseitig wählten und wählen ließen.
Weizsäcker will nicht hinnehmen, dass gutwillige Ex-Kommunisten ad infinitum ausgegrenzt werden. Er verhehlt nicht seine Sympathie für die Lösung in Südafrika, wo nach dem Ende der Apartheid-Herrschaft „eine Wahrheits- und Versöhnungskommission unter dem Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Tutu eingesetzt” worden sei. Von den Zielen ist der politische Senior ersichtlich angetan: „Ohne die Suche nach der Wahrheit kann es keine Versöhnung geben. Aber Wahrheit ohne die Aussicht auf und den Willen zu Versöhnung ist unmenschlich.” Joachim Gauck zum Beispiel verlange: „Der Täter muss bei seinen Taten, bei seiner Schuld ,ankommen‘.” Tutu will gar nicht so weit gehen: „Sie vergeben, indem Sie vergeben”, sagte er einem Fragesteller.
Wessen Credo Weizsäcker zuneigt, ist unschwer auszumachen. „Politische Gegner auf frühere Fehler und Sünden unentrinnbar festzunageln und ihnen keinerlei Einsichten und Fortschritte zuzutrauen”, hält er für „kontraproduktiv”. Und den Pharisäern schreibt er ins Stammbuch: „Es ist unklug und unmenschlich, andere Menschen in das Gefängnis ihrer Vergangenheit lebenslang einzusperren.” So viel Einfühlungsvermögen – eine Rarität in der Politik – vermittelt zwar nicht gleich einen Heiligenschein, erinnert aber an eine längst vergessene Idealfigur des Adels – den Edelmann.
ROLF LAMPRECHT
Der Rezensent ist Politologe und arbeitet als Journalist in Karlsruhe
Ehrenwort in Anführungszeichen geschrieben: Richard von Weizsäcker neben Helmut Kohl 1984.
Foto:dpa/SZ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Der Aufklärer Richard von Weizsäcker rezensiert in historischen Skizzen und farbigen Impressionen die deutsche Nachkriegspolitik
RICHARD VON WEIZSÄCKER: Drei Mal Stunde Null? – 1949-1969- 1989. Deutschlands europäische Zukunft, Siedler, 2001, 224 Seiten, 19.95 Euro.
Er hat einst dem Amt des Bundespräsidenten intellektuellen Glanz verliehen. Das Charisma ist geblieben, seine Autorität wirkt fort. Richard von Weizsäcker genießt nach wie vor hohes Ansehen – nun als Elder Statesman und als publizierender Zeitzeuge. Seine Schriften zu den Höhen und Tiefen deutscher Staatskunst haben ihren eigenen Reiz: Sie sind Geschichte aus erster Hand. Das gilt insbesondere für sein jüngstes Buch: „Drei Mal Stunde Null? – 1949-1969-1989”.
Weizsäcker schreibt – wie nur wenige seiner Zunft – ein makelloses Deutsch. Seine Diktion erinnert an die Klarheit und Dichte, die Bismarcks, aber auch Helmut Schmidts Texte auszeichnen. Bei den drei Autoren bewahrheitet sich eine Erkenntnis Schopenhauers, der „im Stil die Physiognomie des Geistes” sah. „Dunkelheit und Undeutlichkeit des Ausdrucks”, so der Philosoph, zeugten „in neunundneunzig Fällen unter hundert” von der „Undeutlichkeit des Gedankens”. Tatsächlich ist es die Sprache, in der sich die Denker unter den Politikern von den Machern unterscheiden – die, wie etwa Helmut Kohl, über den ersten Buchstaben im Alphabet (A wie Allgemeinplatz) nur selten hinaus kommen.
Willy Brandts Credo
Den Streifzug durch die Zeitgeschichte, zu dem Weizsäcker seine Leser animiert, säumen Wegweiser. Der Autor orientiert sich an drei Daten, denen er (mehr oder weniger) symbolische Bedeutung beimisst: 1949, das Jahr, in dem die Bundesrepublik gegründet wurde, in dem aber auch ein zweiter Staat auf deutschem Boden entstand; 1969, Willy Brandts „Stunde Null” mit dem Credo: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an”; 1989, das Ende der deutschen Teilung und der Aufbruch nach Europa.
Weizsäcker bedient sich einer kunstvollen Dramaturgie. Auf nüchterne historische Skizzen folgen farbige Impressionen und eindringliche Appelle an die Einsicht aller Gutwilligen. Er würdigt Verdienste und rügt Fehlleistungen. Zur Zeitgeschichte, die er abhandelt, gehört auch sein „Parteifreund” Kohl. Mit dessen Politikverständnis verbindet ihn nur wenig. Er geht, wo er kann, auf Abstand. Wenn er ausdrücken will, was ein anständiger Mensch von diffamierenden Kampagnen (Stichwort: „Rote Socken”) halten soll, macht er deutlich, dass er mit den Urhebern nichts gemein hat. Er spricht dann distanziert von „Kohls Partei” – als wollte er sagen: Diese ist nicht die meine.
Des Altkanzlers Rolle im Parteispendenskandal ist Weizsäcker einen Absatz wert. Aber der hat es in sich. Er beurteilt die schmuddelige Affäre nicht – wie alle Welt – aus juristischer Sicht, sondern bemüht die „öffentliche Moral”. Sie verlange, sagt er vornehm, „Aufklärung der Vorkommnisse”. Dazu könne Kohl „durch die notwendigen Auskünfte” beitragen, was hilfreicher wäre, als sich „auf eine private Moral” zu berufen.
Weizsäckers Resümee ist unerbittlich. Er setzt mit spitzen Fingern Kohls „Ehrenwort” in Anführungszeichen. Und er nennt das, was der pathetische Schwur eigentlich schützt, beim Namen: „die Ehre des Mittäters”. Sein Rat an den Gestrauchelten klingt vernünftig: „Besser als jeder andere könnte er selbst dafür sorgen, dass seine Rechtsverletzung nicht politisch instrumentalisiert wird.” Kohl wird ihm was husten.
Solche Notate sind winzige Splitter, die sich bescheiden im Text verbergen, die aber gleichwohl das Ganze illuminieren. Sie besagen: Hier spricht ein Aufklärer, der nicht hinnehmen will, dass Theorie und Praxis so selten in Einklang zu bringen sind. Seine politische Philosophie führt folgerichtig zu der Forderung, dass „Staatsdienst klar und eindeutig unterscheidbar vor Parteidienst zu stellen” sei. Diese preußische Disziplin verlangt er nicht nur von anderen, sondern zu allererst von sich selbst – sie war erkennbar Richtschnur für sein eigenes Leben.
Das erklärt, warum er, wenn nötig, auch einen Menschen würdigen kann, der ihm, wie Kohl, ersichtlich fremd geblieben ist. Er erinnert an „die kraftvoll wahrgenommene Chance zur nationalen Einheit” – und merkt an: „Nur ein Tor wird es ihm neiden.” Die Chance „für entscheidende Schritte” in Richtung Europa habe „mit ihm genau und wie nach Plan den Richtigen” getroffen. „Hier lag das Herzstück seiner Leistungen als Kanzler.”
Nobler sind Kohls Verdienste selten gewürdigt worden. Das Lob zählt doppelt, weil es nicht von einem unkritischen Claqueur kommt. Die Passagen über den Altkanzler machen nur einen kleinen Teil des Buches aus, doch sie ziehen den Blick an, weil Kohl – für jeden sichtbar – den Autor (nicht zuletzt wegen seines überragenden Intellekts) mitunter als Widersacher empfunden und ihm seinen Vorsprung an Glaubwürdigkeit und Popularität missgönnt hat. Wie der Altbundespräsident mit dieser Rivalität umgeht, ist selbst ein Stück Zeitgeschichte.
Die Tatsache, dass der Autor beides ist – Beobachter und Beteiligter – macht die Spannung des Buches aus. Was der prominente Kronzeuge von den Ereignissen, von den handelnden Personen und von gelösten wie ungelösten Problemen hält, weckt zwangsläufig die Neugier der Zeitgenossen.
Zwei Beispiele: Die „Politikverdrossenheit” und „die Mauer in den Köpfen” gehören mittlerweile zu den Standardformeln der gesellschaftlichen Diagnose.Weizsäckers Verdienst ist, dass er die Ärgernisse einordnet, dass er ihnen auf den Grund geht und dass er Visionen entwickelt. Auch er registriert: „Das Vertrauen in das Parteiensystem ist bedrohlich geschrumpft.” Ihm ist keine der vielen Ursachen entgangen. Doch er richtet sein besonderes Augenmerk auf eine: „Über Gemeinwohl und Macht zu sprechen, zwingt zu einem Blick auf das Verhältnis von Politik und Moral.” „Moralisiert” werde, meint der Autor, „vor allem in Diktaturen.” Wer seine Bürger der Freiheit beraube, rechtfertige seine Staatsräson umso stärker mit sittlichen Forderungen. „Die liberale Demokratie nimmt uns Menschen so, wie wir sind. Sie kann uns nicht ändern und will uns nicht bessern, uns aber den Rahmen für ein Zusammenleben geben.” Sie verstehe sich nicht als „Kampfplatz einer Wahrheitspolitik”.
Die Tugend des Pragmatismus
Weizsäcker warnt vor dem primitiven Schema, das die Moral „als Quelle einer besseren Gesinnung” gegen die Politik als Ursache „böser Realität” in Stellung bringt. „Jedermann möge sich hüten, Politik und Moral gegeneinander auszuspielen.” Moral ohne Politik werde zur „Ideologie im luftleeren Raum”; Politik ohne Moral sei einfach schlechte Politik. Er hält es für gefährlich, wenn aus jeder politischen Entscheidung eine „Gewissensfrage” gemacht und Pragmatismus
„a priori unter moralischen Verdacht” gestellt wird. „Er ist häufiger eine Tugend als eine Sünde.”
Auch das Gemeinwohl sei „keine Wahrheitsfrage”. Weizsäcker – hier ganz Verfassungspatriot – erinnert daran, dass die „Auskunft” über das Verhältnis zur Macht im Grundgesetz zu suchen und zu finden ist. Die Verfassung, so seine Schlussfolgerung, die Puristen nicht genügen mag, beantworte alles: „Mit ihren politischen und individuellen Grundrechten, ihren Staatszielen und Ämtern regelt sie den moralischen Kern unseres Gemeinwesens.”
Was den Umgang mit den neuen Ländern anbelangt, plädiert Weizsäcker für mehr Augenmaß. Den Kommunistenfressern, die DDR und Hitlerdiktatur auf eine Stufe stellen, hält er entgegen: Beide Systeme stünden „mit ihrem Ungeist und ihren Untaten auf verschiedenen Stufen”. Denn: „Anders als die Naziherrschaft hat der SED-Staat keinen Krieg begonnen und keinen Holocaust zu verantworten.” Er wirbt um Verständnis für spezifische Entwicklungen in der früheren DDR – und erweist sich damit (im Gegensatz zu den meisten Unionschristen) als aufgeklärter Konservativer.
Wer, außer ihm, versucht zu begreifen, was in jungen Menschen vorgeht, die einst „von den Schriften des jungen Karl Marx beeindruckt” waren. In diesem Kontext zitiert er die Forderung, gegen „Verhältnisse” anzugehen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”. (Ähnliches sagt übrigens auch das Bundesverfassungsgericht.) Wir sollten, meint der Autor, einen jungen Brandenburger, der „seinen Weg zum Sozialismus auf den demokratischen Prüfstand stellen will”, nicht „postkommunistisch” nennen. „Ihn zu ermutigen, statt ihn zu verdächtigen, ist unsere Aufgabe.”
Die Widersprüche im Umgang mit der SED-Vergangenheit liegen Weizsäcker auf der Seele. Er nennt drei Beispiele: die Tatsache, dass die PDS beim HauptstadtBeschluss „das Zünglein an der Waage” gewesen sei – eine Hilfe, die alle Berlin-Befürworter in den etablierten Parteien „dankbar entgegengenommen” hätten; die „Saunafreundschaft” zwischen Kohl und Jelzin, der (nicht anders als mancher DDR-Funktionär) vorher ein führender Kommunist gewesen ist; die Erfahrungen in den Kommunen der östlichen Bundesländer, wo sich CDU- und SPD- Politiker und PDS-Vertreter wechselseitig wählten und wählen ließen.
Weizsäcker will nicht hinnehmen, dass gutwillige Ex-Kommunisten ad infinitum ausgegrenzt werden. Er verhehlt nicht seine Sympathie für die Lösung in Südafrika, wo nach dem Ende der Apartheid-Herrschaft „eine Wahrheits- und Versöhnungskommission unter dem Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Tutu eingesetzt” worden sei. Von den Zielen ist der politische Senior ersichtlich angetan: „Ohne die Suche nach der Wahrheit kann es keine Versöhnung geben. Aber Wahrheit ohne die Aussicht auf und den Willen zu Versöhnung ist unmenschlich.” Joachim Gauck zum Beispiel verlange: „Der Täter muss bei seinen Taten, bei seiner Schuld ,ankommen‘.” Tutu will gar nicht so weit gehen: „Sie vergeben, indem Sie vergeben”, sagte er einem Fragesteller.
Wessen Credo Weizsäcker zuneigt, ist unschwer auszumachen. „Politische Gegner auf frühere Fehler und Sünden unentrinnbar festzunageln und ihnen keinerlei Einsichten und Fortschritte zuzutrauen”, hält er für „kontraproduktiv”. Und den Pharisäern schreibt er ins Stammbuch: „Es ist unklug und unmenschlich, andere Menschen in das Gefängnis ihrer Vergangenheit lebenslang einzusperren.” So viel Einfühlungsvermögen – eine Rarität in der Politik – vermittelt zwar nicht gleich einen Heiligenschein, erinnert aber an eine längst vergessene Idealfigur des Adels – den Edelmann.
ROLF LAMPRECHT
Der Rezensent ist Politologe und arbeitet als Journalist in Karlsruhe
Ehrenwort in Anführungszeichen geschrieben: Richard von Weizsäcker neben Helmut Kohl 1984.
Foto:dpa/SZ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2001Mehr Macht dem Präsidenten?
Weizsäcker hofft auf die parteipolitisch gereinigte Bürgergesellschaft
Richard von Weizsäcker: Drei Mal Stunde Null? 1949 - 1969 - 1989. Deutschlands europäische Zukunft. Siedler Verlag, Berlin 2001. 224 Seiten, 19,95 Euro.
Drei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident veröffentlichte Richard von Weizsäcker 1997 Erinnerungen unter dem Titel "Vier Zeiten" (F.A.Z. vom 29. Mai 1998). Darin verarbeitete er die Erfahrung seines beruflichen Lebens, das ihm die Möglichkeit verschaffte, seinen unverwechselbaren Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik und des vereinigten Deutschlands zu leisten. Die Memoiren enthielten die Botschaft, nach Wegen zu suchen, um in Freiheit zu bestehen. Um die Bedingungen zur Erfüllung dieses Auftrags geht es Weizsäcker in seinem neuen Buch. Darin macht er deutlich, daß jede der drei politisch akzentuierten Fragezeichen-Nullstunden nur aus ihren jeweiligen historischen Voraussetzungen zu verstehen und daß es nur um das "Maß an Abbruch oder Kontinuität" gegangen sei.
In einleitenden Reflexionen "Der deutsche Nationalstaat bis zur Teilung" ist Weizsäckers bekanntes Diktum von 1985 variiert, daß der 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte zu einem "Tag der Befreiung" geworden sei. Das "1949"-er Kapitel vermittelt einen nüchternen Rückblick auf den Wiederbeginn des Lebens im Vierzonen-Deutschland, die Bewährung des Grundgesetzes und die Bedeutung der von Konrad Adenauer erreichten Westbindung der Bundesrepublik. Unter dem Abschnitt "1969" wird Willy Brandts provozierender "Trompetenstoß": "Mehr Demokratie wagen" als "unsinnig arrogantes Signal" bewertet und die 68er Revolution als "Jugendrevolte" eher minimalisiert, aber entmythologisiert. Gustav Heinemann erfährt als "parteipolitisch völlig unabhängiger" Bundespräsident ein ebenso hohes Lob wie die von Weizsäcker unterstützte Ostpolitik der Sozialliberalen.
In der Analyse der dritten Nullstunde, "1989", gilt die Bewunderung des Verfassers, wie ebenfalls schon in den Memoiren, den runden Tischen des DDR-Ausklangs. In dieser "Blütezeit echter direkter Demokratie" sei es um Problemlösungen, nicht aber um einen Streit um Macht und Mehrheiten gegangen. Damit ist das Stichwort gegeben, unter dem Weizsäcker seine bekannte Parteienschelte variiert. Darin einbezogen ist auch Bundeskanzler Helmut Kohl, der der Bevölkerung keinen materiellen Beitrag für die Wiedervereinigung abverlangt habe. An den Folgen dieses Fehlers litte die "menschliche Verständigung noch heute". Der Altpräsident erinnert an seinen Vorschlag von 1989 für einen Lastenausgleich, und bedauert, daß die Übernahme des Grundgesetzes auf die neuen Länder nicht durch Volksabstimmung erfolgt sei.
Zu den aus solchen Fehlern nachwirkenden Versäumnissen zählt er die "nachhaltige Verdrängung der Osteliten", und er plädiert dafür, "uns auch im Verhältnis zur Vergangenheit" zu vereinigen. Der SPD wird angelastet, daß sie sich "fast ganz" der Aufnahme von SED-Mitgliedern versperrt habe. Die Kritik geht aber noch weiter. Sie gilt der Herausbildung einer "Verhandlungsdemokratie" auf Kosten der Legislative und dem Ausufern der Parteienherrschaft, die Kohl, der einmal durchaus als europäischer Staatsmann gewürdigt wird, "zur höchsten Blüte" gebracht habe.
Der Verfasser beläßt es aber nicht bei Anklagen, sondern macht konkrete Vorschläge für die ihm vorschwebende demokratische Erneuerung. So empfiehlt er die Gewinnung parteiloser Abgeordneter, die Befristung der Amtszeit des Bundeskanzlers, der Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten, aber auch eine erhebliche Verstärkung plebiszitärer Möglichkeiten.
Aus der Erfahrung des machtlosen Bundespräsidentenamts stammt die Anregung, dessen Kompetenzen behutsam zu erweitern, so durch Mitwirkung bei der Auswahl von Bundes- und Verfassungsrichtern, vor allem aber die, das Staatsoberhaupt durch Volkswahl zu bestimmen. Das Vertrauen in eine quasi parteipolitisch gereinigte und dadurch geeinigte Bürgergesellschaft bleibt erstaunlich.
Im Schlußkapitel "Europa in der Welt von morgen" unternimmt der Verfasser einen Schnelldurchgang durch die Problematik von Globalisierung und weiterhin nachhinkender nationaler Verspätung. Schließlich verdeutlicht er europäische Identität und Finalität, wirbt um Verständnis für das gefestigte französische Kulturbewußtsein und unterstreicht die Bedeutung der von ihm schon früh postulierten guten Nachbarschaft zu Polen. Er rechnet für die Vollendung Europas "als Ganzes" mit einem Zeitraum von ungefähr 50 Jahren. Das flüssig geschriebene neue Buch ist ein weltbürgerlich grundiertes Bekenntnis für eine europäische Zukunft Deutschlands und ein Plädoyer für politische Ethik. Allzu breit hingegen, auch weniger elegant in der Tonlage, ist die harsche Kritik an der parteienstaatlichen Wirklichkeit, die bisher jedenfalls einen Präsidenten à la General von und zu verhindert hat.
RUDOLF MORSEY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weizsäcker hofft auf die parteipolitisch gereinigte Bürgergesellschaft
Richard von Weizsäcker: Drei Mal Stunde Null? 1949 - 1969 - 1989. Deutschlands europäische Zukunft. Siedler Verlag, Berlin 2001. 224 Seiten, 19,95 Euro.
Drei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident veröffentlichte Richard von Weizsäcker 1997 Erinnerungen unter dem Titel "Vier Zeiten" (F.A.Z. vom 29. Mai 1998). Darin verarbeitete er die Erfahrung seines beruflichen Lebens, das ihm die Möglichkeit verschaffte, seinen unverwechselbaren Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik und des vereinigten Deutschlands zu leisten. Die Memoiren enthielten die Botschaft, nach Wegen zu suchen, um in Freiheit zu bestehen. Um die Bedingungen zur Erfüllung dieses Auftrags geht es Weizsäcker in seinem neuen Buch. Darin macht er deutlich, daß jede der drei politisch akzentuierten Fragezeichen-Nullstunden nur aus ihren jeweiligen historischen Voraussetzungen zu verstehen und daß es nur um das "Maß an Abbruch oder Kontinuität" gegangen sei.
In einleitenden Reflexionen "Der deutsche Nationalstaat bis zur Teilung" ist Weizsäckers bekanntes Diktum von 1985 variiert, daß der 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte zu einem "Tag der Befreiung" geworden sei. Das "1949"-er Kapitel vermittelt einen nüchternen Rückblick auf den Wiederbeginn des Lebens im Vierzonen-Deutschland, die Bewährung des Grundgesetzes und die Bedeutung der von Konrad Adenauer erreichten Westbindung der Bundesrepublik. Unter dem Abschnitt "1969" wird Willy Brandts provozierender "Trompetenstoß": "Mehr Demokratie wagen" als "unsinnig arrogantes Signal" bewertet und die 68er Revolution als "Jugendrevolte" eher minimalisiert, aber entmythologisiert. Gustav Heinemann erfährt als "parteipolitisch völlig unabhängiger" Bundespräsident ein ebenso hohes Lob wie die von Weizsäcker unterstützte Ostpolitik der Sozialliberalen.
In der Analyse der dritten Nullstunde, "1989", gilt die Bewunderung des Verfassers, wie ebenfalls schon in den Memoiren, den runden Tischen des DDR-Ausklangs. In dieser "Blütezeit echter direkter Demokratie" sei es um Problemlösungen, nicht aber um einen Streit um Macht und Mehrheiten gegangen. Damit ist das Stichwort gegeben, unter dem Weizsäcker seine bekannte Parteienschelte variiert. Darin einbezogen ist auch Bundeskanzler Helmut Kohl, der der Bevölkerung keinen materiellen Beitrag für die Wiedervereinigung abverlangt habe. An den Folgen dieses Fehlers litte die "menschliche Verständigung noch heute". Der Altpräsident erinnert an seinen Vorschlag von 1989 für einen Lastenausgleich, und bedauert, daß die Übernahme des Grundgesetzes auf die neuen Länder nicht durch Volksabstimmung erfolgt sei.
Zu den aus solchen Fehlern nachwirkenden Versäumnissen zählt er die "nachhaltige Verdrängung der Osteliten", und er plädiert dafür, "uns auch im Verhältnis zur Vergangenheit" zu vereinigen. Der SPD wird angelastet, daß sie sich "fast ganz" der Aufnahme von SED-Mitgliedern versperrt habe. Die Kritik geht aber noch weiter. Sie gilt der Herausbildung einer "Verhandlungsdemokratie" auf Kosten der Legislative und dem Ausufern der Parteienherrschaft, die Kohl, der einmal durchaus als europäischer Staatsmann gewürdigt wird, "zur höchsten Blüte" gebracht habe.
Der Verfasser beläßt es aber nicht bei Anklagen, sondern macht konkrete Vorschläge für die ihm vorschwebende demokratische Erneuerung. So empfiehlt er die Gewinnung parteiloser Abgeordneter, die Befristung der Amtszeit des Bundeskanzlers, der Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten, aber auch eine erhebliche Verstärkung plebiszitärer Möglichkeiten.
Aus der Erfahrung des machtlosen Bundespräsidentenamts stammt die Anregung, dessen Kompetenzen behutsam zu erweitern, so durch Mitwirkung bei der Auswahl von Bundes- und Verfassungsrichtern, vor allem aber die, das Staatsoberhaupt durch Volkswahl zu bestimmen. Das Vertrauen in eine quasi parteipolitisch gereinigte und dadurch geeinigte Bürgergesellschaft bleibt erstaunlich.
Im Schlußkapitel "Europa in der Welt von morgen" unternimmt der Verfasser einen Schnelldurchgang durch die Problematik von Globalisierung und weiterhin nachhinkender nationaler Verspätung. Schließlich verdeutlicht er europäische Identität und Finalität, wirbt um Verständnis für das gefestigte französische Kulturbewußtsein und unterstreicht die Bedeutung der von ihm schon früh postulierten guten Nachbarschaft zu Polen. Er rechnet für die Vollendung Europas "als Ganzes" mit einem Zeitraum von ungefähr 50 Jahren. Das flüssig geschriebene neue Buch ist ein weltbürgerlich grundiertes Bekenntnis für eine europäische Zukunft Deutschlands und ein Plädoyer für politische Ethik. Allzu breit hingegen, auch weniger elegant in der Tonlage, ist die harsche Kritik an der parteienstaatlichen Wirklichkeit, die bisher jedenfalls einen Präsidenten à la General von und zu verhindert hat.
RUDOLF MORSEY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Roderich Reifenrath hat Richard von Weizsäcker ein "kluges Buch über Staat und Politik geschrieben, frei von Zwängen, faulen Kompromissen, der CDU längst entschwebt, unbehelligt von geistigen Demarkationslinien, die es in allen Parteien gibt". Der Kritiker lobt, dass die drei Zeitabschnitten prägnant und ohne Umschweife dargestellt werden. Die geschichtlichen Zusammenhänge und die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten der parlamentarischen Demokratie würden dem Leser auf "eingängige" und verständliche Art und Weise vermittelt. Die symbolisierende Einstufung "Die Stunde Null" akzeptiere Weizsäcker für die Jahre 1949 und 1989, aber nicht für das Jahr 1969, das für die demokratische Entwicklung der alten Bundesrepublik zwar entscheidend gewesen, aber von einer echten "Stunde Null" weit entfernt gewesen sei. Die Zustände der Republik innerhalb der vorgegebenen Zeiträume, werden dem Leser in einer "runden Mischung aus Bilanz und Analyse, Ausblick, Geschichte und Persönlichem" näher gebracht, so Reifenrath. Obwohl das Buch von der "Tonlage" her eindeutig ein Alterswerk sei, fehle es ihm nicht an analytischer Scharfsicht, sprachlicher Ausdruckskraft und Geistesgegenwart, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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