1949 entstanden aus dem Deutschen Reich zwei Republiken. Der tiefste Einschnitt in unserer Geschichte führte uns hart an eine Stunde Null. Im Westen wurde die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer Staat fester Bestandteil des westlichen Bündnisses. Im Osten wurde die DDR als 'antifaschistische Antwort auf die faschistische Vergangenheit' gegründet. Sie wurde zur Diktatur unter sowjetischer Herrschaft. Für vier Jahrzehnte war die Teilung Deutschlands und Europas besiegelt. Der Autor schildert aus eigenen Begegnungen die führenden Persönlichkeiten. Eingehend untersucht er Kontinuitäten und neue Anfänge im politischen Personal, in der Verfassung und in den Institutionen von Staat und Gesellschaft und setzt sich mit dem Vorwurf des restaurativen Charakters auseinander. Mit 1969, dem ersten Jahr eines sozialdemokratischen Kanzlers, verbindet der Autor die Frage nach einem Neubeginn im Inneren - 'Wir fangen mit der Demokratie jetzt erst richtig an', hieß der heftig umstritt ene
Schlusssatz von Willy Brandts erster Regierungserklärung - und in der Außenpolitik. Die neue Ostpolitik war eine zweite tiefe Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Es ging um Entspannung zwischen Ost und West unter deutscher Anleitung. Richard von Weizsäcker gehörte zur verschwindenden Minderheit seiner Partei, der damaligen Opposition, die diesen Kurs nachhaltig unterstützte. Sein Herzensanliegen war von jeher die Aussöhnung mit Polen. 1989 kam der Kalte Krieg zu seinem Ende. Als erstes Staatsoberhaupt des geeinten Deutschland hat Richard von Weizsäcker diesen fundamentalen Neubeginn mitgestaltet. Erneut analysiert der Autor Kontinuität und neuen Anfang, Erfolge, Gefahren und Versäumnisse des Einigungsprozesses. Wo es ihm erforderlich schien, hat er Differenzen mit der damaligen Regierung unter Helmut Kohl nicht gescheut. Er bewertet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Arbeit der Institutionen unserer Verfassung, die Dominanz der politischen Parteien und die Leistungen un d Fehlleistungen im Machtkampf der demokratischen Politiker. Das Ziel ist die Vollendung ganz Europas ohne das bisher alleinige Präfix 'West'. So gibt er Antworten auf die dreifache Frage nach der Stunde Null und nach den Kontinuitäten in der geistigen und politischen deutschen Geschichte unserer Zeit.
Schlusssatz von Willy Brandts erster Regierungserklärung - und in der Außenpolitik. Die neue Ostpolitik war eine zweite tiefe Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Es ging um Entspannung zwischen Ost und West unter deutscher Anleitung. Richard von Weizsäcker gehörte zur verschwindenden Minderheit seiner Partei, der damaligen Opposition, die diesen Kurs nachhaltig unterstützte. Sein Herzensanliegen war von jeher die Aussöhnung mit Polen. 1989 kam der Kalte Krieg zu seinem Ende. Als erstes Staatsoberhaupt des geeinten Deutschland hat Richard von Weizsäcker diesen fundamentalen Neubeginn mitgestaltet. Erneut analysiert der Autor Kontinuität und neuen Anfang, Erfolge, Gefahren und Versäumnisse des Einigungsprozesses. Wo es ihm erforderlich schien, hat er Differenzen mit der damaligen Regierung unter Helmut Kohl nicht gescheut. Er bewertet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Arbeit der Institutionen unserer Verfassung, die Dominanz der politischen Parteien und die Leistungen un d Fehlleistungen im Machtkampf der demokratischen Politiker. Das Ziel ist die Vollendung ganz Europas ohne das bisher alleinige Präfix 'West'. So gibt er Antworten auf die dreifache Frage nach der Stunde Null und nach den Kontinuitäten in der geistigen und politischen deutschen Geschichte unserer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2001Mehr Macht dem Präsidenten?
Weizsäcker hofft auf die parteipolitisch gereinigte Bürgergesellschaft
Richard von Weizsäcker: Drei Mal Stunde Null? 1949 - 1969 - 1989. Deutschlands europäische Zukunft. Siedler Verlag, Berlin 2001. 224 Seiten, 19,95 Euro.
Drei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident veröffentlichte Richard von Weizsäcker 1997 Erinnerungen unter dem Titel "Vier Zeiten" (F.A.Z. vom 29. Mai 1998). Darin verarbeitete er die Erfahrung seines beruflichen Lebens, das ihm die Möglichkeit verschaffte, seinen unverwechselbaren Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik und des vereinigten Deutschlands zu leisten. Die Memoiren enthielten die Botschaft, nach Wegen zu suchen, um in Freiheit zu bestehen. Um die Bedingungen zur Erfüllung dieses Auftrags geht es Weizsäcker in seinem neuen Buch. Darin macht er deutlich, daß jede der drei politisch akzentuierten Fragezeichen-Nullstunden nur aus ihren jeweiligen historischen Voraussetzungen zu verstehen und daß es nur um das "Maß an Abbruch oder Kontinuität" gegangen sei.
In einleitenden Reflexionen "Der deutsche Nationalstaat bis zur Teilung" ist Weizsäckers bekanntes Diktum von 1985 variiert, daß der 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte zu einem "Tag der Befreiung" geworden sei. Das "1949"-er Kapitel vermittelt einen nüchternen Rückblick auf den Wiederbeginn des Lebens im Vierzonen-Deutschland, die Bewährung des Grundgesetzes und die Bedeutung der von Konrad Adenauer erreichten Westbindung der Bundesrepublik. Unter dem Abschnitt "1969" wird Willy Brandts provozierender "Trompetenstoß": "Mehr Demokratie wagen" als "unsinnig arrogantes Signal" bewertet und die 68er Revolution als "Jugendrevolte" eher minimalisiert, aber entmythologisiert. Gustav Heinemann erfährt als "parteipolitisch völlig unabhängiger" Bundespräsident ein ebenso hohes Lob wie die von Weizsäcker unterstützte Ostpolitik der Sozialliberalen.
In der Analyse der dritten Nullstunde, "1989", gilt die Bewunderung des Verfassers, wie ebenfalls schon in den Memoiren, den runden Tischen des DDR-Ausklangs. In dieser "Blütezeit echter direkter Demokratie" sei es um Problemlösungen, nicht aber um einen Streit um Macht und Mehrheiten gegangen. Damit ist das Stichwort gegeben, unter dem Weizsäcker seine bekannte Parteienschelte variiert. Darin einbezogen ist auch Bundeskanzler Helmut Kohl, der der Bevölkerung keinen materiellen Beitrag für die Wiedervereinigung abverlangt habe. An den Folgen dieses Fehlers litte die "menschliche Verständigung noch heute". Der Altpräsident erinnert an seinen Vorschlag von 1989 für einen Lastenausgleich, und bedauert, daß die Übernahme des Grundgesetzes auf die neuen Länder nicht durch Volksabstimmung erfolgt sei.
Zu den aus solchen Fehlern nachwirkenden Versäumnissen zählt er die "nachhaltige Verdrängung der Osteliten", und er plädiert dafür, "uns auch im Verhältnis zur Vergangenheit" zu vereinigen. Der SPD wird angelastet, daß sie sich "fast ganz" der Aufnahme von SED-Mitgliedern versperrt habe. Die Kritik geht aber noch weiter. Sie gilt der Herausbildung einer "Verhandlungsdemokratie" auf Kosten der Legislative und dem Ausufern der Parteienherrschaft, die Kohl, der einmal durchaus als europäischer Staatsmann gewürdigt wird, "zur höchsten Blüte" gebracht habe.
Der Verfasser beläßt es aber nicht bei Anklagen, sondern macht konkrete Vorschläge für die ihm vorschwebende demokratische Erneuerung. So empfiehlt er die Gewinnung parteiloser Abgeordneter, die Befristung der Amtszeit des Bundeskanzlers, der Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten, aber auch eine erhebliche Verstärkung plebiszitärer Möglichkeiten.
Aus der Erfahrung des machtlosen Bundespräsidentenamts stammt die Anregung, dessen Kompetenzen behutsam zu erweitern, so durch Mitwirkung bei der Auswahl von Bundes- und Verfassungsrichtern, vor allem aber die, das Staatsoberhaupt durch Volkswahl zu bestimmen. Das Vertrauen in eine quasi parteipolitisch gereinigte und dadurch geeinigte Bürgergesellschaft bleibt erstaunlich.
Im Schlußkapitel "Europa in der Welt von morgen" unternimmt der Verfasser einen Schnelldurchgang durch die Problematik von Globalisierung und weiterhin nachhinkender nationaler Verspätung. Schließlich verdeutlicht er europäische Identität und Finalität, wirbt um Verständnis für das gefestigte französische Kulturbewußtsein und unterstreicht die Bedeutung der von ihm schon früh postulierten guten Nachbarschaft zu Polen. Er rechnet für die Vollendung Europas "als Ganzes" mit einem Zeitraum von ungefähr 50 Jahren. Das flüssig geschriebene neue Buch ist ein weltbürgerlich grundiertes Bekenntnis für eine europäische Zukunft Deutschlands und ein Plädoyer für politische Ethik. Allzu breit hingegen, auch weniger elegant in der Tonlage, ist die harsche Kritik an der parteienstaatlichen Wirklichkeit, die bisher jedenfalls einen Präsidenten à la General von und zu verhindert hat.
RUDOLF MORSEY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weizsäcker hofft auf die parteipolitisch gereinigte Bürgergesellschaft
Richard von Weizsäcker: Drei Mal Stunde Null? 1949 - 1969 - 1989. Deutschlands europäische Zukunft. Siedler Verlag, Berlin 2001. 224 Seiten, 19,95 Euro.
Drei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident veröffentlichte Richard von Weizsäcker 1997 Erinnerungen unter dem Titel "Vier Zeiten" (F.A.Z. vom 29. Mai 1998). Darin verarbeitete er die Erfahrung seines beruflichen Lebens, das ihm die Möglichkeit verschaffte, seinen unverwechselbaren Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik und des vereinigten Deutschlands zu leisten. Die Memoiren enthielten die Botschaft, nach Wegen zu suchen, um in Freiheit zu bestehen. Um die Bedingungen zur Erfüllung dieses Auftrags geht es Weizsäcker in seinem neuen Buch. Darin macht er deutlich, daß jede der drei politisch akzentuierten Fragezeichen-Nullstunden nur aus ihren jeweiligen historischen Voraussetzungen zu verstehen und daß es nur um das "Maß an Abbruch oder Kontinuität" gegangen sei.
In einleitenden Reflexionen "Der deutsche Nationalstaat bis zur Teilung" ist Weizsäckers bekanntes Diktum von 1985 variiert, daß der 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte zu einem "Tag der Befreiung" geworden sei. Das "1949"-er Kapitel vermittelt einen nüchternen Rückblick auf den Wiederbeginn des Lebens im Vierzonen-Deutschland, die Bewährung des Grundgesetzes und die Bedeutung der von Konrad Adenauer erreichten Westbindung der Bundesrepublik. Unter dem Abschnitt "1969" wird Willy Brandts provozierender "Trompetenstoß": "Mehr Demokratie wagen" als "unsinnig arrogantes Signal" bewertet und die 68er Revolution als "Jugendrevolte" eher minimalisiert, aber entmythologisiert. Gustav Heinemann erfährt als "parteipolitisch völlig unabhängiger" Bundespräsident ein ebenso hohes Lob wie die von Weizsäcker unterstützte Ostpolitik der Sozialliberalen.
In der Analyse der dritten Nullstunde, "1989", gilt die Bewunderung des Verfassers, wie ebenfalls schon in den Memoiren, den runden Tischen des DDR-Ausklangs. In dieser "Blütezeit echter direkter Demokratie" sei es um Problemlösungen, nicht aber um einen Streit um Macht und Mehrheiten gegangen. Damit ist das Stichwort gegeben, unter dem Weizsäcker seine bekannte Parteienschelte variiert. Darin einbezogen ist auch Bundeskanzler Helmut Kohl, der der Bevölkerung keinen materiellen Beitrag für die Wiedervereinigung abverlangt habe. An den Folgen dieses Fehlers litte die "menschliche Verständigung noch heute". Der Altpräsident erinnert an seinen Vorschlag von 1989 für einen Lastenausgleich, und bedauert, daß die Übernahme des Grundgesetzes auf die neuen Länder nicht durch Volksabstimmung erfolgt sei.
Zu den aus solchen Fehlern nachwirkenden Versäumnissen zählt er die "nachhaltige Verdrängung der Osteliten", und er plädiert dafür, "uns auch im Verhältnis zur Vergangenheit" zu vereinigen. Der SPD wird angelastet, daß sie sich "fast ganz" der Aufnahme von SED-Mitgliedern versperrt habe. Die Kritik geht aber noch weiter. Sie gilt der Herausbildung einer "Verhandlungsdemokratie" auf Kosten der Legislative und dem Ausufern der Parteienherrschaft, die Kohl, der einmal durchaus als europäischer Staatsmann gewürdigt wird, "zur höchsten Blüte" gebracht habe.
Der Verfasser beläßt es aber nicht bei Anklagen, sondern macht konkrete Vorschläge für die ihm vorschwebende demokratische Erneuerung. So empfiehlt er die Gewinnung parteiloser Abgeordneter, die Befristung der Amtszeit des Bundeskanzlers, der Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten, aber auch eine erhebliche Verstärkung plebiszitärer Möglichkeiten.
Aus der Erfahrung des machtlosen Bundespräsidentenamts stammt die Anregung, dessen Kompetenzen behutsam zu erweitern, so durch Mitwirkung bei der Auswahl von Bundes- und Verfassungsrichtern, vor allem aber die, das Staatsoberhaupt durch Volkswahl zu bestimmen. Das Vertrauen in eine quasi parteipolitisch gereinigte und dadurch geeinigte Bürgergesellschaft bleibt erstaunlich.
Im Schlußkapitel "Europa in der Welt von morgen" unternimmt der Verfasser einen Schnelldurchgang durch die Problematik von Globalisierung und weiterhin nachhinkender nationaler Verspätung. Schließlich verdeutlicht er europäische Identität und Finalität, wirbt um Verständnis für das gefestigte französische Kulturbewußtsein und unterstreicht die Bedeutung der von ihm schon früh postulierten guten Nachbarschaft zu Polen. Er rechnet für die Vollendung Europas "als Ganzes" mit einem Zeitraum von ungefähr 50 Jahren. Das flüssig geschriebene neue Buch ist ein weltbürgerlich grundiertes Bekenntnis für eine europäische Zukunft Deutschlands und ein Plädoyer für politische Ethik. Allzu breit hingegen, auch weniger elegant in der Tonlage, ist die harsche Kritik an der parteienstaatlichen Wirklichkeit, die bisher jedenfalls einen Präsidenten à la General von und zu verhindert hat.
RUDOLF MORSEY
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