"Du solltest veröffentlichen. Die Leute werden glauben, du bist tot."- Die weisen Worte einer Mutter. Doch was tun, wenn gerade im Schreiben die Schwierigkeit liegt? In'Drei Tage bei meiner Mutter'erzählt François Weyergans vom Schriftsteller François Weyergraf, der es nicht schafft, sein Buch zu beenden, das seit Jahren angekündigt wird. Aus der lähmenden Blockade flüchtet der Stadtneurotiker Weyergraf in seine Erinnerung, die von Frauen beherrscht wird:"Ich wollte sie zum Essen einladen, damit sie mir ihr Leben erzählt, was mir ersparen würde, an meines zu denken."Zerstreut verliert er sich zwischen aufregenden amourösen Affären. Am prägendsten aber ist seine Bindung an die heimliche Heldin des Romans: Weyergrafs Roman ist eine Liebeserklärung an seine Mutter, zu der er am Ende endlich gelangt. Voller Charme, Humor und Hingabe erzählt'Drei Tage bei meiner Mutter'vom verzwickten Weg eines Buches. Ein Roman über das Schreiben, über Sex, Frauen und das Leben an sich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Lieber zerrissene Socken als gestopfte
Lieber leben oder lieber schreiben? François Weyergans leidet wortreich und elegant / Von Alexander Müller
Kunstvoll umständlich und dennoch vital ist dieses Doppelporträt von Mutter und Sohn. So bringt Weyergans das Kunststück fertig, in einem Roman über die Literatur voller Esprit von der Unmittelbarkeit des Lebens zu erzählen.
In Helmut Dietls Filmsatire "Rossini" erklärt Joachim Król als stammelnder, ungelenker Schriftsteller und ironisches Alter ego von Patrick Süßkind der ihn umgarnenden Martina Gedeck, er lebe nicht, er schreibe. Was aber, wenn umgekehrt das Leben einen Schriftsteller plötzlich vom Schreiben abhält? François Weyergans, 1941 in Brüssel geboren, macht diese Frage zum Thema seines in Frankreich im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans "Drei Tage bei meiner Mutter". Diese renommierte Auszeichnung ist - anders als die bedeutsamen deutschen Literaturpreise - zwar undotiert, zieht aber stets eine erhebliche Auflagensteigerung nach sich. Dabei erhielt Weyergans den Vorzug vor Michel Houellebecq. Während Houellebecqs Bestseller zeitgleich in deutscher Übersetzung erschien, mußte das deutschsprachige Publikum auf Weyergans' über vierhunderttausend Mal verkauftes Werk ein weiteres Jahr warten. Zwar sind Houellebecq und Weyergans stilistisch nicht zu vergleichen, in einer Hinsicht ähneln sie sich allerdings Beide Autoren kokettieren mit der Identifikationskraft ihrer Protagonisten, die der leichtsinnig verführte Leser rasch mit dem Ich des Autors gleichsetzt. Was Houellebecq jedoch zum kalkulierten Skandal gereicht, wird bei Weyergans zum heiteren und weitverzweigten Vexierspiel.
Denn der auch als Filmkritiker und Regisseur erfolgreiche Weyergans verewigt sich in "Trois jours chez ma mère" zunächst im Ich-Erzähler François Weyergraf, der sich nicht in der Lage sieht, seine zahlreichen Romanprojekte, darunter "Drei Tage bei meiner Mutter", fertigzustellen. In den bereits bestehenden Kapiteln dieses Buchs erzählt wiederum ein gewisser François Graffenberg in seinem Manuskript mit dem Titel "Drei Tage bei meiner Mutter" vom Schriftsteller François Weyerstein. Dieses verschachtelte, artifizielle und anspielungsreiche Konstrukt, das inhaltlich zahlreiche Parallelen zu Weyergans' Biographie aufweist, spricht nicht unbedingt für einen unterhaltsamen, leichtfüßigen Roman, auch wenn es überdies die Möglichkeit bietet, wie nebenbei die belletristische Verarbeitung "wahrer", nämlich immer noch fiktionalisierter Geschehnisse zu demonstrieren. Selbst der Topos der im Schreiben verarbeiteten Schreibblockade ist in der Literatur alles andere als neu.
Weyergans gelingt es dennoch, über diesen Kunstgriff ein schillerndes und äußerst vitales Portrait seiner selbst, und damit einhergehend seiner Mutter, zu zeichnen. Dabei will Weyergraf, der selbstmitleidige und geistreiche Erzähler, längst aufgeben: keine Verabredungen mehr, nichts notieren, nichts veröffentlichen; überdies naht der sechzigste Geburtstag. Wenigstens eines seiner zahlreichen Projekte, für die er Vorschüsse von seinen Verlegern kassiert, sollte er beenden, um der drohenden Pleite und den spitzen Bemerkungen seiner Frau Delphine zu entgehen. Doch seine Abhandlung über den Tanz, seine erotischen Bettgeschichten, angefüllt mit mehr oder minder authentischen Eskapaden, oder das Buch über Vulkane, sie alle gehen über die geniale Planungsphase nicht hinaus.
Zuerst gilt es aber, den Roman über seine Mutter zu beenden, denn erst nach dieser Publikation gedenkt er, sie, die verwitwet in der Provence lebt, tatsächlich zu besuchen. Die sarkastische Selbstdiagnose bestätigt das wahre Fiasko: ";Melancholiker' ist ein viel zu schwaches Wort, aber mit ,unerbittliches Schicksal' bin ich einverstanden. Ich selbst würde mich mit bescheideneren Ausdrücken begnügen, wie etwa ,fürchterliches Leben'." Dem finanziellen Ruin begegnet Weyergraf mit eloquenten Faxen an seine Bank, in denen er sich in "Variationen über die Verschuldung" ergeht, um den Filialleiter daran zu erinnern, daß den Wirtschaftswissenschaftlern Miller und Modigliani gemäß der Wert einer verschuldeten Firma dem einer nicht verschuldeten gleiche. Dem Kassenführer der Finanzbehörde schreibt er: "Sie und ich haben denselben Wunsch: daß meine Steuern bezahlt werden. Für Sie ist das Ihre Arbeit. Für mich ist es ein Albtraum."
Der wirkliche und doch so tröstliche Albtraum aber bleibt das Leben selbst, das einen vom Schreibtisch fortlockt: schöne Frauen - denn festgefügte Paar-Beziehungen nutzen sich ab wie "alte Teppiche" -, köstliche Weine und die Ausflüchte von Film, Literatur, Musik, Psychoanalyse und Philosophie. Mit bestechender Logik beweist eine von Weyergrafs Schöpfungen die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens: "in einem Text Martin Heideggers sucht er die Stelle, an der der Satz von Hegel kommentiert ist, wonach eine zerrissene Socke einer gestopften Socke vorzuziehen sei, und er fragt sich, ob ein angekündigter Roman nicht einem veröffentlichten Roman vorzuziehen sei".
Belesenheit wird Weyergraf zum Dilemma, was man wohl auch Weyergans, der in dreißig Jahren nur elf Bücher veröffentlicht hat, unterstellen kann. Denn die lustvolle, elegante Abschweifung, die stets über Umwege zum Ziel führt, erhebt er zur höchsten Kunst, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ähnlich stilsicher allenfalls von Wilhelm Genazino und im Kriminalroman von Wolf Haas beherrscht wird. Dies unangestrengt wirken zu lassen scheint gleichwohl viel Mühe und Arbeit zu bedeuten. Die Vielbezüglichkeit von Weyergans' Werk dient dem Autor dabei zugleich als Versteck. Je mehr Hinweise auf sein reales Leben er mit fiktiven vermischt, desto unsichtbarer wird er: "Ni vu ni connu", unbekannt und unerkannt, nannte er seine Videodokumentation über den französischen Filmemacher Robert Bresson.
Obwohl Weyergans also verklausuliert von sich selbst und diesem unfertigen Buch sprechen mag, rückt er in "Drei Tage bei meiner Mutter" jene Mutter unmerklich ins Zentrum seiner Prosa, die sich zusehends vervollständigt. Sie, die zunächst wie die Ehefrau Delphine hinter all den amourösen Affären zu verblassen scheint, wird Weyergraf in eigentümlicher Weise retten. So bringt Weyergans das Kunststück fertig, in einem Roman über die Literatur voller Esprit von der Unmittelbarkeit des Lebens zu erzählen.
François Weyergans: "Drei Tage bei meiner Mutter". Roman. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2006. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs. 167 S., geb., 18,90 [Euro].
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Lieber leben oder lieber schreiben? François Weyergans leidet wortreich und elegant / Von Alexander Müller
Kunstvoll umständlich und dennoch vital ist dieses Doppelporträt von Mutter und Sohn. So bringt Weyergans das Kunststück fertig, in einem Roman über die Literatur voller Esprit von der Unmittelbarkeit des Lebens zu erzählen.
In Helmut Dietls Filmsatire "Rossini" erklärt Joachim Król als stammelnder, ungelenker Schriftsteller und ironisches Alter ego von Patrick Süßkind der ihn umgarnenden Martina Gedeck, er lebe nicht, er schreibe. Was aber, wenn umgekehrt das Leben einen Schriftsteller plötzlich vom Schreiben abhält? François Weyergans, 1941 in Brüssel geboren, macht diese Frage zum Thema seines in Frankreich im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans "Drei Tage bei meiner Mutter". Diese renommierte Auszeichnung ist - anders als die bedeutsamen deutschen Literaturpreise - zwar undotiert, zieht aber stets eine erhebliche Auflagensteigerung nach sich. Dabei erhielt Weyergans den Vorzug vor Michel Houellebecq. Während Houellebecqs Bestseller zeitgleich in deutscher Übersetzung erschien, mußte das deutschsprachige Publikum auf Weyergans' über vierhunderttausend Mal verkauftes Werk ein weiteres Jahr warten. Zwar sind Houellebecq und Weyergans stilistisch nicht zu vergleichen, in einer Hinsicht ähneln sie sich allerdings Beide Autoren kokettieren mit der Identifikationskraft ihrer Protagonisten, die der leichtsinnig verführte Leser rasch mit dem Ich des Autors gleichsetzt. Was Houellebecq jedoch zum kalkulierten Skandal gereicht, wird bei Weyergans zum heiteren und weitverzweigten Vexierspiel.
Denn der auch als Filmkritiker und Regisseur erfolgreiche Weyergans verewigt sich in "Trois jours chez ma mère" zunächst im Ich-Erzähler François Weyergraf, der sich nicht in der Lage sieht, seine zahlreichen Romanprojekte, darunter "Drei Tage bei meiner Mutter", fertigzustellen. In den bereits bestehenden Kapiteln dieses Buchs erzählt wiederum ein gewisser François Graffenberg in seinem Manuskript mit dem Titel "Drei Tage bei meiner Mutter" vom Schriftsteller François Weyerstein. Dieses verschachtelte, artifizielle und anspielungsreiche Konstrukt, das inhaltlich zahlreiche Parallelen zu Weyergans' Biographie aufweist, spricht nicht unbedingt für einen unterhaltsamen, leichtfüßigen Roman, auch wenn es überdies die Möglichkeit bietet, wie nebenbei die belletristische Verarbeitung "wahrer", nämlich immer noch fiktionalisierter Geschehnisse zu demonstrieren. Selbst der Topos der im Schreiben verarbeiteten Schreibblockade ist in der Literatur alles andere als neu.
Weyergans gelingt es dennoch, über diesen Kunstgriff ein schillerndes und äußerst vitales Portrait seiner selbst, und damit einhergehend seiner Mutter, zu zeichnen. Dabei will Weyergraf, der selbstmitleidige und geistreiche Erzähler, längst aufgeben: keine Verabredungen mehr, nichts notieren, nichts veröffentlichen; überdies naht der sechzigste Geburtstag. Wenigstens eines seiner zahlreichen Projekte, für die er Vorschüsse von seinen Verlegern kassiert, sollte er beenden, um der drohenden Pleite und den spitzen Bemerkungen seiner Frau Delphine zu entgehen. Doch seine Abhandlung über den Tanz, seine erotischen Bettgeschichten, angefüllt mit mehr oder minder authentischen Eskapaden, oder das Buch über Vulkane, sie alle gehen über die geniale Planungsphase nicht hinaus.
Zuerst gilt es aber, den Roman über seine Mutter zu beenden, denn erst nach dieser Publikation gedenkt er, sie, die verwitwet in der Provence lebt, tatsächlich zu besuchen. Die sarkastische Selbstdiagnose bestätigt das wahre Fiasko: ";Melancholiker' ist ein viel zu schwaches Wort, aber mit ,unerbittliches Schicksal' bin ich einverstanden. Ich selbst würde mich mit bescheideneren Ausdrücken begnügen, wie etwa ,fürchterliches Leben'." Dem finanziellen Ruin begegnet Weyergraf mit eloquenten Faxen an seine Bank, in denen er sich in "Variationen über die Verschuldung" ergeht, um den Filialleiter daran zu erinnern, daß den Wirtschaftswissenschaftlern Miller und Modigliani gemäß der Wert einer verschuldeten Firma dem einer nicht verschuldeten gleiche. Dem Kassenführer der Finanzbehörde schreibt er: "Sie und ich haben denselben Wunsch: daß meine Steuern bezahlt werden. Für Sie ist das Ihre Arbeit. Für mich ist es ein Albtraum."
Der wirkliche und doch so tröstliche Albtraum aber bleibt das Leben selbst, das einen vom Schreibtisch fortlockt: schöne Frauen - denn festgefügte Paar-Beziehungen nutzen sich ab wie "alte Teppiche" -, köstliche Weine und die Ausflüchte von Film, Literatur, Musik, Psychoanalyse und Philosophie. Mit bestechender Logik beweist eine von Weyergrafs Schöpfungen die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens: "in einem Text Martin Heideggers sucht er die Stelle, an der der Satz von Hegel kommentiert ist, wonach eine zerrissene Socke einer gestopften Socke vorzuziehen sei, und er fragt sich, ob ein angekündigter Roman nicht einem veröffentlichten Roman vorzuziehen sei".
Belesenheit wird Weyergraf zum Dilemma, was man wohl auch Weyergans, der in dreißig Jahren nur elf Bücher veröffentlicht hat, unterstellen kann. Denn die lustvolle, elegante Abschweifung, die stets über Umwege zum Ziel führt, erhebt er zur höchsten Kunst, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ähnlich stilsicher allenfalls von Wilhelm Genazino und im Kriminalroman von Wolf Haas beherrscht wird. Dies unangestrengt wirken zu lassen scheint gleichwohl viel Mühe und Arbeit zu bedeuten. Die Vielbezüglichkeit von Weyergans' Werk dient dem Autor dabei zugleich als Versteck. Je mehr Hinweise auf sein reales Leben er mit fiktiven vermischt, desto unsichtbarer wird er: "Ni vu ni connu", unbekannt und unerkannt, nannte er seine Videodokumentation über den französischen Filmemacher Robert Bresson.
Obwohl Weyergans also verklausuliert von sich selbst und diesem unfertigen Buch sprechen mag, rückt er in "Drei Tage bei meiner Mutter" jene Mutter unmerklich ins Zentrum seiner Prosa, die sich zusehends vervollständigt. Sie, die zunächst wie die Ehefrau Delphine hinter all den amourösen Affären zu verblassen scheint, wird Weyergraf in eigentümlicher Weise retten. So bringt Weyergans das Kunststück fertig, in einem Roman über die Literatur voller Esprit von der Unmittelbarkeit des Lebens zu erzählen.
François Weyergans: "Drei Tage bei meiner Mutter". Roman. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2006. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs. 167 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alexander Müller muss dieses Spiegelkabinett von einem Roman schon sehr aufmerksam gelesen haben. Wie sonst könnte er uns erklären, wie Francois Weyergans' Buch einerseits elegant umständlich vom Schreiben, andererseits aber ganz konkret und vital von Mutter und Sohn handelt und daher sowohl "abschweifend" als auch "unmittelbar" erzählt. Nach Müllers Resümee des Textes zu urteilen, liegt das nicht gerade auf der Hand. Dem Buch indessen steht es gut. Die etwas altmodische Sperrigkeit, die Müller sehr wohl auffällt, fällt dagegen kaum ins Gewicht. Das die Identifikation mit dem Autor stiftende, kunstvoll konstruierte und dennoch "unangestrengt" wirkende Vexierspiel geht auf. Solch stilsichere Umständlichkeit kennt Müller sonst nur von Wilhelm Genazino und Wolf Haas.
© Perlentaucher Medien GmbH
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