Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hat. Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Eine dritte Frau sucht etwas ganz anderes. Sie alle finden denselben Mann. Es gibt vieles, was sie nicht über ihn wissen, denn er sagt ihnen nicht die Wahrheit. Aber auch er weiß nicht alles über sie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2019Trau keiner Frau, bau auf keinen Mann
Als Krimi tarnt sich dieser feinsinnige Roman über Verluste, Ängste und Gewalt nur: Dror Mishanis "Drei"
Gegen Einsamkeit, sollte man denken, hilft der beste Anwalt nicht. Wen könnte man auch verklagen? Wenn die Verzweiflung aber zu groß wird, kommt es womöglich doch auf einen Versuch an, zumal wenn der Jurist so galant auftritt wie jener äußerlich nur mittelattraktive Gil, den hier drei Frauen unabhängig voneinander unverfänglich kennenlernen: als wohltuend unprätentiösen (Quasi-)Single aus einer Online-Partnerbörse, als Sohn der eigenen Arbeitgeber, als Kaffeehausbesucher. Und in der Tat kann der leicht geheimnisvolle Advokat der Einsamkeitsproblematik auf seine Weise abhelfen, denn aus den flüchtigen Bekanntschaften entwickeln sich auf sehr natürlich anmutende Weise romantische Verhältnisse. Dass beide Seiten nicht immer ganz bei der Wahrheit bleiben, dass sich Ausreden oder Flunkereien verselbständigen, führt mitunter zu Enttäuschungen, die aber überwindbar scheinen und zu Affären wohl dazugehören. Flirten können sie jedenfalls allesamt, die Figuren dieses Autors, der zugleich an der Universität von Tel Aviv Literaturwissenschaft lehrt.
Man kennt Dror Mishani jedoch nicht grundlos als Krimiautor. Seine Bücher über den nachdenklichen Kommissar Avraham Avraham handeln von meist nicht restlos aufklärbarer, gleichwohl harter Kriminalität im Familien- oder Kollegenkreis: keine staatstragende Prosa, sondern dramatische Seelenerkundung mit routinierter Spannungsabrundung. Und auch die vorliegende, laut Mishani durch die Romane von Patricia Highsmith inspirierte Erzählung kommt nicht ohne Verbrechen aus, obschon man von einem Kriminalroman nur bei Dehnung des Begriffs sprechen kann. "Drei" wirkt vielmehr, als hätte man Daniel Glattauer, Juli Zeh und Ferdinand von Schirach gemeinsam in eine Schreibzelle gesperrt: sicher nicht die schlechteste Voraussetzung für Publikumserfolg. Und so war "Drei" in Israel denn auch ein Bestseller, die Verfilmung als Fernsehserie ist bereits auf dem Weg.
Die detektivische Dimension gewinnt im Buch erst gegen Ende die Oberhand, was durchaus geschickt gebaut ist, indem die drei partiell aufeinander Bezug nehmenden Kapitel mit jeweils eigener weiblicher Hauptfigur in einem gemeinsamen Finale kulminieren. Wirklich befriedigen kann dieser Abschluss allerdings nicht, weil sich dabei die Konstruktion und das Genrehafte zu sehr in den Vordergrund drängen, und zwar ausgerechnet auf Kosten der erzählerischen Leichtigkeit. Auch der plötzliche Tempowechsel an den stets auf eine unerwartete Wendung zulaufenden Kapitelenden wirkt leicht aufgesetzt, denn was die Erzählung so bezwingend und authentisch macht, ist gerade der gewisse Ennui, der die Nahaufnahmen der drei Protagonistinnen umflort. In einem beflissen erklärenden Epilog kippt der Roman schließlich sogar gänzlich ins hölzern Drehbuchhafte.
Und doch lohnt es sich, den überreizten Spannungsplot in Kauf zu nehmen, weil Mishani mit gutem Auge für die Dramen des Beziehungsalltags die Wünsche, Sehnsüchte und Nöte seiner Protagonisten greifbar werden lässt. Markus Lemke hat diesen so sicheren wie sensiblen Ton grandios ins Deutsche übertragen. Da ist die von ihrem Mann verlassene Lehrerin Orna, die samt Teenagersohn Eran in Tel Aviv lebt und mit einer neuen Beziehung über den Trennungsschmerz hinwegzukommen versucht. Glaubhaft wirkt sowohl die Traumatisierung als auch die psychologische Behandlung des Jungen, dessen Vater lange den Kontakt meidet. Als jener keineswegs kaltherzige Ronen schließlich doch mit seiner neuen, großen Familie aufkreuzt, um den Jungen zu sehen und in den Urlaub mitzunehmen, ist es für die Mutter wie eine Okkupation: "Diese Präsenz eroberte ihr Zuhause, besetzte es, machte sich die Wohnung zu eigen und ließ Orna den Wunsch verspüren zu verschwinden, aber wohin?"
Im Falle der lettischen Pflegerin Emilia gibt es sozusagen den Gegenblick, als diese noch einmal die Wohnung besucht, in der sie - einigermaßen glücklich - den inzwischen gestorbenen Nachum gepflegt hatte und nun von dessen Witwe herzlich empfangen wird: "Sie ging in die Küche, und Emilia blieb allein zurück und wusste nicht, wie sie Gast in einer Wohnung sein sollte, die bis vor einem Monat noch ihr Zuhause und auch ihr Arbeitsplatz gewesen war." Sowohl für Emilias bis an die Grenze des Selbstverlusts reichende Einsamkeit, die sie mit einer Wendung hin zur Spiritualität ansatzweise in den Griff bekommt, als auch für die lodernden Ängste und unterdrückten Aggressionen Ornas, die ihre Frustration bald und nicht ganz grundlos an Gil auslässt ("jetzt genoss sie es, die Oberhand zu haben"; "das weckte in ihr sowohl Selbstekel als auch den Wunsch weiterzumachen, wie um jemanden zu provozieren"), findet Mishani psychologisch treffende, nie aufdringliche Beschreibungen. Dass die dritte Protagonistin, die mehrfache Mutter Ella, die spät noch ein Studium begonnen hat, dagegen ein wenig kurz kommt, erklärt sich bald aus der Handlung.
Wie sich die derart lebensechten Figuren, allesamt Schiffbrüchige und Versehrte mittleren Alters, näherkommen, um einander vielleicht zu stützen, vielleicht zu stürzen, wie sie lange unentschieden zwischen den Positionen Täter und Opfer schwanken (auch wenn das schließlich eindeutig geklärt wird), das ist tadellose Erzählkunst. So erweist sich "Drei" als ein Buch, das auf feinsinnige Weise vom Umgang mit Verlusten handelt, von der Verantwortung gegenüber den anderen und sich selbst, von der Aufopferung, vom Eigen- und Fremdbetrug und neben all dem auch von einer Grausamkeit, die sich selbst genug ist und keiner tieferen Begründung bedarf.
OLIVER JUNGEN
Dror Mishani:
"Drei". Roman.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 330 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Krimi tarnt sich dieser feinsinnige Roman über Verluste, Ängste und Gewalt nur: Dror Mishanis "Drei"
Gegen Einsamkeit, sollte man denken, hilft der beste Anwalt nicht. Wen könnte man auch verklagen? Wenn die Verzweiflung aber zu groß wird, kommt es womöglich doch auf einen Versuch an, zumal wenn der Jurist so galant auftritt wie jener äußerlich nur mittelattraktive Gil, den hier drei Frauen unabhängig voneinander unverfänglich kennenlernen: als wohltuend unprätentiösen (Quasi-)Single aus einer Online-Partnerbörse, als Sohn der eigenen Arbeitgeber, als Kaffeehausbesucher. Und in der Tat kann der leicht geheimnisvolle Advokat der Einsamkeitsproblematik auf seine Weise abhelfen, denn aus den flüchtigen Bekanntschaften entwickeln sich auf sehr natürlich anmutende Weise romantische Verhältnisse. Dass beide Seiten nicht immer ganz bei der Wahrheit bleiben, dass sich Ausreden oder Flunkereien verselbständigen, führt mitunter zu Enttäuschungen, die aber überwindbar scheinen und zu Affären wohl dazugehören. Flirten können sie jedenfalls allesamt, die Figuren dieses Autors, der zugleich an der Universität von Tel Aviv Literaturwissenschaft lehrt.
Man kennt Dror Mishani jedoch nicht grundlos als Krimiautor. Seine Bücher über den nachdenklichen Kommissar Avraham Avraham handeln von meist nicht restlos aufklärbarer, gleichwohl harter Kriminalität im Familien- oder Kollegenkreis: keine staatstragende Prosa, sondern dramatische Seelenerkundung mit routinierter Spannungsabrundung. Und auch die vorliegende, laut Mishani durch die Romane von Patricia Highsmith inspirierte Erzählung kommt nicht ohne Verbrechen aus, obschon man von einem Kriminalroman nur bei Dehnung des Begriffs sprechen kann. "Drei" wirkt vielmehr, als hätte man Daniel Glattauer, Juli Zeh und Ferdinand von Schirach gemeinsam in eine Schreibzelle gesperrt: sicher nicht die schlechteste Voraussetzung für Publikumserfolg. Und so war "Drei" in Israel denn auch ein Bestseller, die Verfilmung als Fernsehserie ist bereits auf dem Weg.
Die detektivische Dimension gewinnt im Buch erst gegen Ende die Oberhand, was durchaus geschickt gebaut ist, indem die drei partiell aufeinander Bezug nehmenden Kapitel mit jeweils eigener weiblicher Hauptfigur in einem gemeinsamen Finale kulminieren. Wirklich befriedigen kann dieser Abschluss allerdings nicht, weil sich dabei die Konstruktion und das Genrehafte zu sehr in den Vordergrund drängen, und zwar ausgerechnet auf Kosten der erzählerischen Leichtigkeit. Auch der plötzliche Tempowechsel an den stets auf eine unerwartete Wendung zulaufenden Kapitelenden wirkt leicht aufgesetzt, denn was die Erzählung so bezwingend und authentisch macht, ist gerade der gewisse Ennui, der die Nahaufnahmen der drei Protagonistinnen umflort. In einem beflissen erklärenden Epilog kippt der Roman schließlich sogar gänzlich ins hölzern Drehbuchhafte.
Und doch lohnt es sich, den überreizten Spannungsplot in Kauf zu nehmen, weil Mishani mit gutem Auge für die Dramen des Beziehungsalltags die Wünsche, Sehnsüchte und Nöte seiner Protagonisten greifbar werden lässt. Markus Lemke hat diesen so sicheren wie sensiblen Ton grandios ins Deutsche übertragen. Da ist die von ihrem Mann verlassene Lehrerin Orna, die samt Teenagersohn Eran in Tel Aviv lebt und mit einer neuen Beziehung über den Trennungsschmerz hinwegzukommen versucht. Glaubhaft wirkt sowohl die Traumatisierung als auch die psychologische Behandlung des Jungen, dessen Vater lange den Kontakt meidet. Als jener keineswegs kaltherzige Ronen schließlich doch mit seiner neuen, großen Familie aufkreuzt, um den Jungen zu sehen und in den Urlaub mitzunehmen, ist es für die Mutter wie eine Okkupation: "Diese Präsenz eroberte ihr Zuhause, besetzte es, machte sich die Wohnung zu eigen und ließ Orna den Wunsch verspüren zu verschwinden, aber wohin?"
Im Falle der lettischen Pflegerin Emilia gibt es sozusagen den Gegenblick, als diese noch einmal die Wohnung besucht, in der sie - einigermaßen glücklich - den inzwischen gestorbenen Nachum gepflegt hatte und nun von dessen Witwe herzlich empfangen wird: "Sie ging in die Küche, und Emilia blieb allein zurück und wusste nicht, wie sie Gast in einer Wohnung sein sollte, die bis vor einem Monat noch ihr Zuhause und auch ihr Arbeitsplatz gewesen war." Sowohl für Emilias bis an die Grenze des Selbstverlusts reichende Einsamkeit, die sie mit einer Wendung hin zur Spiritualität ansatzweise in den Griff bekommt, als auch für die lodernden Ängste und unterdrückten Aggressionen Ornas, die ihre Frustration bald und nicht ganz grundlos an Gil auslässt ("jetzt genoss sie es, die Oberhand zu haben"; "das weckte in ihr sowohl Selbstekel als auch den Wunsch weiterzumachen, wie um jemanden zu provozieren"), findet Mishani psychologisch treffende, nie aufdringliche Beschreibungen. Dass die dritte Protagonistin, die mehrfache Mutter Ella, die spät noch ein Studium begonnen hat, dagegen ein wenig kurz kommt, erklärt sich bald aus der Handlung.
Wie sich die derart lebensechten Figuren, allesamt Schiffbrüchige und Versehrte mittleren Alters, näherkommen, um einander vielleicht zu stützen, vielleicht zu stürzen, wie sie lange unentschieden zwischen den Positionen Täter und Opfer schwanken (auch wenn das schließlich eindeutig geklärt wird), das ist tadellose Erzählkunst. So erweist sich "Drei" als ein Buch, das auf feinsinnige Weise vom Umgang mit Verlusten handelt, von der Verantwortung gegenüber den anderen und sich selbst, von der Aufopferung, vom Eigen- und Fremdbetrug und neben all dem auch von einer Grausamkeit, die sich selbst genug ist und keiner tieferen Begründung bedarf.
OLIVER JUNGEN
Dror Mishani:
"Drei". Roman.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 330 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Oliver Jungen ist Dror Mishanis neuer Roman nicht zwingend ein Krimi. Erst gegen Schluss des Textes zieht der Autor laut Jungen in dieser Hinsicht die Fäden an. Zuvor bietet der Text laut Rezensent spannende "dramatische Seelenerkundung" mit psychologischem Feinsinn, als hätten sich Glattauer, Zeh und von Schirach zusammengetan. Hier erkundet der Autor den Umgang seiner drei Hauptfiguren mit Verlusten, mit Verantwortung und Selbstbetrug, lebensecht und unaufdringlich, erklärt Jungen. Dass der Text in der Endphase eher abfällt, indem er das Genre bedient und die Leichtigkeit schwindet, ja im Epilog sogar "hölzern" wirkt, nimmt Jungen hin für den schönen Rest des Textes, dessen Übertragung durch Markus Lemke der Rezensent gelungen findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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