Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2016Was es bedeutet, von Gerüchten leben zu müssen
Lohnende Neuausgabe: Léon Werths Bericht von der Massenflucht in den französischen Süden im Sommer des Jahres 1940
"L'exode", der Exodus, so hieß die Massenflucht in den französischen Süden im Mai und Juni 1940. Zwischen sechs und zehn Millionen Menschen, so die Schätzungen, waren damals auf Frankreichs Straßen unterwegs. Den Beginn machten Belgier, Niederländer und Luxemburger, die nach Frankreich flohen. Mit dem deutschen Angriff auf Frankreich, der die Schlachtpläne des französischen Generalstabs zu Makulatur machte, schlossen sich die Franzosen an, Soldaten wie Zivilisten. Allein drei Millionen Pariser sollen damals ihre Stadt verlassen haben.
Von den Fährnissen dieses Exodus, der Tausende das Leben kostete - die Deutschen nahmen die Trecks immer wieder unter Beschuss - und Hunderttausende Pariser in Gegenden Frankreichs verschlug, die sie kaum oder gar nicht kannten, gibt es viele Berichte. Einer von ihnen ist nun wieder aufgelegt worden, nachdem er schon 1996 einmal auf Deutsch erschienen war, vier Jahre nach der französischen Originalausgabe, mit der damals in Frankreich eine kleine Wiederentdeckung seines Autors Léon Werth einsetzte.
Léon Werth, Journalist und Romancier - auch enger Freund von Antoine de Saint-Exupéry, der ihm den "Kleinen Prinzen" widmete - verfasste seinen Bericht über die vier Wochen, die er und seine Frau brauchten, um schließlich doch noch ihr Ferienhaus im Jura zu erreichen, gleich nach seiner Ankunft dort. Im Oktober übergab er das Typoskript Saint-Exupéry, der einen amerikanischen Verleger fand und ein Vorwort für die Buchausgabe schrieb, die dann doch nicht zustande kam; es brauchte schließlich noch fünfzig Jahre und einen glücklicherweise erhalten gebliebenen Durchschlag des Typoskripts. Und weil sich auch Saint-Exupérys geplantes Vorwort vor zwei Jahren noch fand, steht es jetzt, so wie von den beiden Freunden einst geplant, der neuen deutschen Ausgabe voran.
Werth, damals bereits sechzig Jahre alt, bleibt in seinen Schilderungen der vierwöchigen Irrfahrt nahe an den Ereignissen. Seine Erinnerungen sind frisch, und es geht ihm gerade darum, sie nicht mit dem langsam sich klärenden Bild der objektiven Verhältnisse abzugleichen. Das werden erst die Aufzeichnungen tun, die er Ende Juli beginnt und bis zur Befreiung von Paris fortführt und die 1946 als stattlicher Band unter dem Titel "Deposition" erscheinen.
Was er gesehen hat und welche Reaktionen es in ihm auslöste, heißt es einmal, das wolle er auf diesen Seiten erzählen. Keine nachträgliche Rekonstruktion des militärischen Debakels Frankreichs ist anvisiert, sondern vielmehr ein Bericht, der gerade erkennen lässt, was es bedeutet, von Vermutungen und Gerüchten leben zu müssen. Werth notiert diese Gerüchte, die sich entlang der Trecks ausbreiten, sich vermischen, von den neuesten Nachrichten überholt werden, unter denen sogar zutreffende sein können. Kurz nach der Abfahrt von Paris im eigenen Bugatti ist es zum Beispiel die Nachricht, dass Stalin Deutschland den Krieg erklärt hat: Wunschdenken, das sich Ausdruck verschafft.
Werth und seine Frau verlassen Paris am Vormittag des 11. Juni. Da stehen die Deutschen etwa zwanzig Kilometer vor der Hauptstadt, und das französische Militär weiß längst, dass die Stadt nicht ernsthaft zu verteidigen ist. Aber statt den Bürgern reinen Wein einzuschenken, hatten die offiziellen Verlautbarungen und die zensierte Presse fast bis zuletzt auf markige Widerstandsparolen und Schauerberichte von den deutschen Eroberern gesetzt. Bis die Pariser am späten Abend des 10. Juni hören, dass die Regierung Paris verlässt; und erst am 12. Juni, einen Tag vor dem Einmarsch der Deutschen, wird Paris zur offenen, also kampflos dem Gegner überlassenen Stadt erklärt. Die Schlacht, die viele fürchteten, findet nicht statt.
Es ist bezeichnend, dass Werth diesen Hintergrund gar nicht notiert. Nicht einmal die Verlautbarung der abziehenden Regierung am Vortag seines eigenen Aufbruchs hält er fest. Es wäre schon zu viel der objektiven nacherzählbaren Geschichte, die ihn hier nicht interessiert. So wie er auch später nur im Vorbeigehen den Rundfunkbericht von der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 22. Juni in Compiègne erwähnen wird.
Dafür aber achtet Werth auf Szenen, Wortwechsel, das Leben der bunt zusammengewürfelten Menge, macht Beobachtungen an Leuten und an sich selbst. Die Leute, das sind zuerst die Frauen, Männer und Familien auf den Straßen, im Auto wie er, mit allen möglichen Karren, auf Fahrrädern oder zu Fuß; aber auch französische Unterkunftgeber ganz unterschiedlicher Art und schließlich die Soldaten, mit dem Fortgang der Ereignisse immer mehr die deutschen, mit denen als Siegern es sich zu arrangieren gilt.
Manchen seiner Umgebung fällt das ziemlich leicht, wie etwa der Gutsbesitzerin, die die Besatzer mit Champagner begrüßt. Der Patriot Werth konstatiert es mit Unbehagen, aber Entrüstung steht nicht auf seiner Agenda, so eindeutig sind die Verhältnisse nicht.
Er bemerkt es an sich selbst, wenn es um die Justierung der Haltung gegenüber deutschen Soldaten geht. Dabei ist er auf der einen Seite zu klug, um aus seinen Beobachtungen ihres Auftretens kurzweg Elemente einer nationalen Typologie zu machen. Aber ganz lassen kann es ein Autor wie er begreiflicherweise auch nicht, Eigenheiten des Gegners zu sondieren. Dass er die Sprache der Besatzer nicht versteht, deren Hang zu kurzen Hosen und nackten Oberkörpern er insbesondere auffällig findet, kommt ihm da sogar eher entgegen. Einmal schweifen seine Gedanken zurück nach Weimar vor 1914, wohin ihn Harry Graf Kessler eingeladen hatte, zur damals aus nächster Nähe erlebten Nietzsche-Verehrung und Bewunderung französischer Maler und Schriftsteller im kultivierten Kreis. Aber eine einfache Verbindungslinie zu ziehen von damals ins Jahr 1940, zu den deutschen Offizieren an der Loire, das vermeidet er.
Es war eine gute Idee, das ausgegrabene Vorwort von Antoine de Saint-Exupéry als Anlass für eine neue Ausgabe zu nutzen. Sie präsentiert einen Autor, der es verdient, nicht bloß als Begleitfigur seines berühmten Schriftsteller- und Fliegerfreunds wahrgenommen zu werden.
HELMUT MAYER
Léon Werth: "33 Tage". Ein Bericht. Vorwort von Antoine de Saint-Exupéry, Nachwort von Peter Stamm.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 207 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lohnende Neuausgabe: Léon Werths Bericht von der Massenflucht in den französischen Süden im Sommer des Jahres 1940
"L'exode", der Exodus, so hieß die Massenflucht in den französischen Süden im Mai und Juni 1940. Zwischen sechs und zehn Millionen Menschen, so die Schätzungen, waren damals auf Frankreichs Straßen unterwegs. Den Beginn machten Belgier, Niederländer und Luxemburger, die nach Frankreich flohen. Mit dem deutschen Angriff auf Frankreich, der die Schlachtpläne des französischen Generalstabs zu Makulatur machte, schlossen sich die Franzosen an, Soldaten wie Zivilisten. Allein drei Millionen Pariser sollen damals ihre Stadt verlassen haben.
Von den Fährnissen dieses Exodus, der Tausende das Leben kostete - die Deutschen nahmen die Trecks immer wieder unter Beschuss - und Hunderttausende Pariser in Gegenden Frankreichs verschlug, die sie kaum oder gar nicht kannten, gibt es viele Berichte. Einer von ihnen ist nun wieder aufgelegt worden, nachdem er schon 1996 einmal auf Deutsch erschienen war, vier Jahre nach der französischen Originalausgabe, mit der damals in Frankreich eine kleine Wiederentdeckung seines Autors Léon Werth einsetzte.
Léon Werth, Journalist und Romancier - auch enger Freund von Antoine de Saint-Exupéry, der ihm den "Kleinen Prinzen" widmete - verfasste seinen Bericht über die vier Wochen, die er und seine Frau brauchten, um schließlich doch noch ihr Ferienhaus im Jura zu erreichen, gleich nach seiner Ankunft dort. Im Oktober übergab er das Typoskript Saint-Exupéry, der einen amerikanischen Verleger fand und ein Vorwort für die Buchausgabe schrieb, die dann doch nicht zustande kam; es brauchte schließlich noch fünfzig Jahre und einen glücklicherweise erhalten gebliebenen Durchschlag des Typoskripts. Und weil sich auch Saint-Exupérys geplantes Vorwort vor zwei Jahren noch fand, steht es jetzt, so wie von den beiden Freunden einst geplant, der neuen deutschen Ausgabe voran.
Werth, damals bereits sechzig Jahre alt, bleibt in seinen Schilderungen der vierwöchigen Irrfahrt nahe an den Ereignissen. Seine Erinnerungen sind frisch, und es geht ihm gerade darum, sie nicht mit dem langsam sich klärenden Bild der objektiven Verhältnisse abzugleichen. Das werden erst die Aufzeichnungen tun, die er Ende Juli beginnt und bis zur Befreiung von Paris fortführt und die 1946 als stattlicher Band unter dem Titel "Deposition" erscheinen.
Was er gesehen hat und welche Reaktionen es in ihm auslöste, heißt es einmal, das wolle er auf diesen Seiten erzählen. Keine nachträgliche Rekonstruktion des militärischen Debakels Frankreichs ist anvisiert, sondern vielmehr ein Bericht, der gerade erkennen lässt, was es bedeutet, von Vermutungen und Gerüchten leben zu müssen. Werth notiert diese Gerüchte, die sich entlang der Trecks ausbreiten, sich vermischen, von den neuesten Nachrichten überholt werden, unter denen sogar zutreffende sein können. Kurz nach der Abfahrt von Paris im eigenen Bugatti ist es zum Beispiel die Nachricht, dass Stalin Deutschland den Krieg erklärt hat: Wunschdenken, das sich Ausdruck verschafft.
Werth und seine Frau verlassen Paris am Vormittag des 11. Juni. Da stehen die Deutschen etwa zwanzig Kilometer vor der Hauptstadt, und das französische Militär weiß längst, dass die Stadt nicht ernsthaft zu verteidigen ist. Aber statt den Bürgern reinen Wein einzuschenken, hatten die offiziellen Verlautbarungen und die zensierte Presse fast bis zuletzt auf markige Widerstandsparolen und Schauerberichte von den deutschen Eroberern gesetzt. Bis die Pariser am späten Abend des 10. Juni hören, dass die Regierung Paris verlässt; und erst am 12. Juni, einen Tag vor dem Einmarsch der Deutschen, wird Paris zur offenen, also kampflos dem Gegner überlassenen Stadt erklärt. Die Schlacht, die viele fürchteten, findet nicht statt.
Es ist bezeichnend, dass Werth diesen Hintergrund gar nicht notiert. Nicht einmal die Verlautbarung der abziehenden Regierung am Vortag seines eigenen Aufbruchs hält er fest. Es wäre schon zu viel der objektiven nacherzählbaren Geschichte, die ihn hier nicht interessiert. So wie er auch später nur im Vorbeigehen den Rundfunkbericht von der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 22. Juni in Compiègne erwähnen wird.
Dafür aber achtet Werth auf Szenen, Wortwechsel, das Leben der bunt zusammengewürfelten Menge, macht Beobachtungen an Leuten und an sich selbst. Die Leute, das sind zuerst die Frauen, Männer und Familien auf den Straßen, im Auto wie er, mit allen möglichen Karren, auf Fahrrädern oder zu Fuß; aber auch französische Unterkunftgeber ganz unterschiedlicher Art und schließlich die Soldaten, mit dem Fortgang der Ereignisse immer mehr die deutschen, mit denen als Siegern es sich zu arrangieren gilt.
Manchen seiner Umgebung fällt das ziemlich leicht, wie etwa der Gutsbesitzerin, die die Besatzer mit Champagner begrüßt. Der Patriot Werth konstatiert es mit Unbehagen, aber Entrüstung steht nicht auf seiner Agenda, so eindeutig sind die Verhältnisse nicht.
Er bemerkt es an sich selbst, wenn es um die Justierung der Haltung gegenüber deutschen Soldaten geht. Dabei ist er auf der einen Seite zu klug, um aus seinen Beobachtungen ihres Auftretens kurzweg Elemente einer nationalen Typologie zu machen. Aber ganz lassen kann es ein Autor wie er begreiflicherweise auch nicht, Eigenheiten des Gegners zu sondieren. Dass er die Sprache der Besatzer nicht versteht, deren Hang zu kurzen Hosen und nackten Oberkörpern er insbesondere auffällig findet, kommt ihm da sogar eher entgegen. Einmal schweifen seine Gedanken zurück nach Weimar vor 1914, wohin ihn Harry Graf Kessler eingeladen hatte, zur damals aus nächster Nähe erlebten Nietzsche-Verehrung und Bewunderung französischer Maler und Schriftsteller im kultivierten Kreis. Aber eine einfache Verbindungslinie zu ziehen von damals ins Jahr 1940, zu den deutschen Offizieren an der Loire, das vermeidet er.
Es war eine gute Idee, das ausgegrabene Vorwort von Antoine de Saint-Exupéry als Anlass für eine neue Ausgabe zu nutzen. Sie präsentiert einen Autor, der es verdient, nicht bloß als Begleitfigur seines berühmten Schriftsteller- und Fliegerfreunds wahrgenommen zu werden.
HELMUT MAYER
Léon Werth: "33 Tage". Ein Bericht. Vorwort von Antoine de Saint-Exupéry, Nachwort von Peter Stamm.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 207 S., geb., 19,99 [Euro].
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