Der Essay exponiert und erklärt in einer Art Berliner Dramaturgie den Stückekanon des Theatermachers Schleef - von Aischylos bis Brecht und Müller. Er ortet die Frage »Wieviel Droge braucht der Mensch?« als eine für diese Stücke bestimmende. Und er gibt mit Abschnitten der Lebensgeschichte und Gegenwartsbeobachtung des Autors den Ausführungen zu Traditionslinien des deutschen Theaters Verbindlichkeit und Aktualität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.1997Jedes Autokino ist ein Bayreuth
Einar Schleef baut sich eine Bühne und bückt sich nach jeder brauchbaren Reißzwecke · Von Christoph Bartmann
Die Bühne zu diesem Buch hat Einar Schleef selbst gebaut. Auf der Titelseite fünf eckige Wörter, in ungelenken, weißen Lettern auf schwarzem Grund: "Schleef Droge Faust Parsifal Suhrkamp". Im selben handgemalten Weißschwarz die Überschriften der 78 Kapitel. Sie haben Titel wie "Perspektive", "Gegenwelt I", "Westpaket", "Black Sabbath". Am Schluß des Textes steht in schräger Schrift eine Danksagung: "Meinen Lehrern". Darunter ein kleines weißes Kreuz. Auf der Rückseite eine Frage ohne Fragezeichen: "Wieviel Droge braucht der Mensch". Einar Schleef ist als Theatermann ein rastloser Hand- und Mundwerker. Er ist nicht geschickt, aber er läßt sich davon nicht beirren. Was er in seinem Buch an Wagner rühmt, dessen "Sturheit bei höchster Empfindlichkeit", das gilt erst recht für ihn.
"Droge Faust Parsifal" gibt erschöpfend Auskunft über die Passion des Regisseurs, Bühnenbildners, Malers und Schriftstellers Einar Schleef. Das Buch ist einerseits Arbeitsjournal und Programmschrift, zum andern die Fortführung der autobiographischen Konfession, die mit dem zweibändigen Mutter-Roman "Gertrud" begann. Konzentration und Abschweifung stehen bei Schleef in einem produktiven Verhältnis. Ob er seine kühne Theatergenealogie entwickelt oder am Beispiel seines Geburtsorts Sangerhausen die DDR-Provinz rekonstruiert: ganz selbstverständlich gelangt er auf den Schwingen der Analogie vom Leben zum Theater und zurück. "Jedes Autokino ist ein "Bayreuth'", heißt es einmal, und auch sonst ist es nie weit von Joana Maria Gorvin zu Monica Seles, von den "Römischen Elegien" zur Peep-Show.
"Take That"-Fans auf dem Gendarmenmarkt führen dem Betrachter Schleef die "antike Konstellation der Chorsprengung" vor Augen. Aber Schleef denkt nicht daran, die Klassiker mit dem Unernst der Popkultur anzustecken. Ihm begegnet umgekehrt unter Junkies im Stadtpark der heilige Ernst der Tragödie. Sein Buch hat bei allem Eiferertum eine große Leichtigkeit. Inmitten der allergeduldigsten Textprüfungen hält es komische Momente aus dem Leben eines Tragikers bereit. Etwa den, wie irgendwann Ende der siebziger Jahre Einar Schleef, krank vor Heimweh nach Ost-Berlin und mit dem Geschmack der Stadt auf der Zunge, im Wiener Burggarten eine echte Sachertorte an die Tauben verfüttert, "in mir mich agitierend, daß die Sachertorte aus der Dimitroffstraße Ost-Berlins besser schmeckte als die eines Hotels Sacher. Ich schmierte meine Finger an dem Papier ab, roch die künstlichen Aromen so stark, daß ich den braunen, sußigen Teig, ich finde kein richtiges Wort, in meinen Händen war das Matsch, ich sehe mich noch, wie ich den letzten Rest vor dem Café zertrample." Von solchen Anfällen ist es dann wieder nur ein kurzer Weg zurück auf Schleefs Bühne.
Ins Zentrum von "Droge Faust Parsifal" stellt Schleef eine Theaterthese, deren "Unstimmigkeiten" er der Sache selbst in Rechnung stellt. Sie lautet zusammengefaßt wie folgt: Im klassischen deutschen Drama begegnen sich der antike Chorgedanke und Shakespeares Individuentheater, in dem männliche Protagonisten den Chor verdrängen. Verbindendes Thema der Chorstücke ist die Droge, wobei Schleef in "Faust I" Sterbedroge, Adorationsdroge, Potenzdroge/Jugenddroge und Naturdroge unterscheidet. Die "Drogen"-Einnahmen im deutschen Drama - exemplarisch vorgeführt an den Zechern in Auerbachs Keller und an der Tafelrunde in "Parsifal" - begreift er als Variationen der "ersten, chorische(n) Drogeneinnahme unseres Kulturkreises: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut."
Der deutsche Chor ist Männersache. Im Drogenkonsum des Chores werden gesellschaftliche Koalitionen geschmiedet und "Utopien" entwickelt. So gilt es nach Schleef für Goethe ebenso wie für seine Erben, namentlich Wagner und Hauptmann. Überhaupt sei Hauptmanns Vorstellung vom Theater, meint Schleef, "bis heute bindend". Einerseits bilde zwar die antike Chortragödie noch immer die Spitze des literarischen Kanons, andererseits sei der Chor auf der Bühne in Mißkredit geraten - und mit ihm die Frau. Die "Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor" setze "in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus, da sie die Drogeneinnahme stört". Schleef will die "Geburt des Protagonisten aus der Unterwerfung der Frau" (Heiner Müller) nicht akzeptieren. Seine Idee vom Theater ist nicht nur chorisch, sondern auch mütterlich. Die Verdrängung der Frau und des Chores von der Bühne hängt für ihn "engstens mit der Vertreibung des tragischen Bewußtseins" zusammen. Weil Schleef schreiende Frauenchöre auf die Bühne zurückbringt und weil das antike Chortheater bei ihm mit "Militärmantel und nackter Haut" einhergeht, gehöre seine Arbeit, wie er schreibt, "zu den meistgehaßten im Theater".
Natürlich ist Schleefs Auffassung vom Theater einseitig. Völlig fremd ist ihm das moderne, psychologisch-individualisierende Kammerspiel. Er mißtraut dem Reden um des Redens willen und führt es, gleich in welchem Stück, als kollektive Anstrengung vor. "Droge Faust Parsifal" orientiert sich vornehmlich am Kanon der Autoren, deren Stücke Schleef inszeniert hat: Aischylos, Euripides, Goethe und Hauptmann in seiner Frankfurter Zeit von 1985 bis 1990, später am Berliner Ensemble Hochhuth und Brecht, der für ihn eine "Mischung aus Professor Unrat, Rechthaberei und Positivismus" darstellt. Doch die meisten Seiten des Buches gehören "Parsifal", einem Stoff, den Schleef bislang noch nicht inszeniert, in den er sich aber bereits jetzt verbissen hat.
Mit Akribie sucht Schleef die vier Textfassungen des "Parsifal" nach Kongruenz und Nichtkongruenz ab, experimentiert mit einem Bühnenmodell im Maßstab eins zu fünf und stellt auf vielen Seiten sämtliche Regieanweisungen für Kundry zusammen. Dabei will sein Text die Stücke gar nicht kommentieren - und verwendet wohl auch deshalb kein einziges Anführungszeichen -, sondern "er nimmt diesen Werkstoff, um die eigene Situation zu erläutern, auch mit der Absicht, das eigene Handwerkszeug vor der praktischen Auseinandersetzung mit diesem Werkstoff sorgsam zu reinigen".
Schleef ist ein Methodiker der Entrückung. Er will ganz genau wissen, wann beispielsweise der "Sound-Sog" eines Eichendorff-Gedichts einsetzt ("spätestens nach dem zweiten Wort der zweiten Zeile"). Wer daran genießend teilnehmen will, meint er, muß sich selbst in den Sog begeben. Schleef ist ein genauer Chronist seiner Mißgeschicke, die vor allem im Westen auf ihn lauern. Er, der sich nach der einen wirklich brauchbaren Reißzwecke aus Deutschland-Ost oder -West bücken würde, wenn es sie gäbe, der "aus den Aussteuerkopfkissen meiner Mutter die altersgilben Faltkanten herauszuwaschen" versucht, damit er endlich seine West-Bettwäsche wegwerfen kann, hält wie sonst keiner an Materialien - nicht an Ideologien - fest, die er von drüben kennt. Seine Arbeit ist auch eine Kampfansage an die "Entortung des heutigen Theaters", an seine "Flughafenatmosphäre" und an die Barbarei namens "Betriebsamkeit". Dagegen lautet in seinem Theater die einfache, aber entscheidende Frage: "Wie kommt das Wort aus der Schnauze?" Mit Müh und Not. Fast am Ende dieses großen Essays steht ein Selbstporträt Schleefs als Stotterer: "Der Stotternde braucht mehr Luft, wiederholt die einfache Bewegung, bis der Kiefer dem Gehirn gehorcht, bis die Zähne schmerzen, bis das Ohr das Klappgeräusch nicht mehr erträgt: Alle sind scheu vor ihm gewichen, Amfortas steht, in furchtbarer Ekstase, einsam."
Einar Schleef: "Droge Faust Parsifal". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 499 S., br., 56,- DM.
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Einar Schleef baut sich eine Bühne und bückt sich nach jeder brauchbaren Reißzwecke · Von Christoph Bartmann
Die Bühne zu diesem Buch hat Einar Schleef selbst gebaut. Auf der Titelseite fünf eckige Wörter, in ungelenken, weißen Lettern auf schwarzem Grund: "Schleef Droge Faust Parsifal Suhrkamp". Im selben handgemalten Weißschwarz die Überschriften der 78 Kapitel. Sie haben Titel wie "Perspektive", "Gegenwelt I", "Westpaket", "Black Sabbath". Am Schluß des Textes steht in schräger Schrift eine Danksagung: "Meinen Lehrern". Darunter ein kleines weißes Kreuz. Auf der Rückseite eine Frage ohne Fragezeichen: "Wieviel Droge braucht der Mensch". Einar Schleef ist als Theatermann ein rastloser Hand- und Mundwerker. Er ist nicht geschickt, aber er läßt sich davon nicht beirren. Was er in seinem Buch an Wagner rühmt, dessen "Sturheit bei höchster Empfindlichkeit", das gilt erst recht für ihn.
"Droge Faust Parsifal" gibt erschöpfend Auskunft über die Passion des Regisseurs, Bühnenbildners, Malers und Schriftstellers Einar Schleef. Das Buch ist einerseits Arbeitsjournal und Programmschrift, zum andern die Fortführung der autobiographischen Konfession, die mit dem zweibändigen Mutter-Roman "Gertrud" begann. Konzentration und Abschweifung stehen bei Schleef in einem produktiven Verhältnis. Ob er seine kühne Theatergenealogie entwickelt oder am Beispiel seines Geburtsorts Sangerhausen die DDR-Provinz rekonstruiert: ganz selbstverständlich gelangt er auf den Schwingen der Analogie vom Leben zum Theater und zurück. "Jedes Autokino ist ein "Bayreuth'", heißt es einmal, und auch sonst ist es nie weit von Joana Maria Gorvin zu Monica Seles, von den "Römischen Elegien" zur Peep-Show.
"Take That"-Fans auf dem Gendarmenmarkt führen dem Betrachter Schleef die "antike Konstellation der Chorsprengung" vor Augen. Aber Schleef denkt nicht daran, die Klassiker mit dem Unernst der Popkultur anzustecken. Ihm begegnet umgekehrt unter Junkies im Stadtpark der heilige Ernst der Tragödie. Sein Buch hat bei allem Eiferertum eine große Leichtigkeit. Inmitten der allergeduldigsten Textprüfungen hält es komische Momente aus dem Leben eines Tragikers bereit. Etwa den, wie irgendwann Ende der siebziger Jahre Einar Schleef, krank vor Heimweh nach Ost-Berlin und mit dem Geschmack der Stadt auf der Zunge, im Wiener Burggarten eine echte Sachertorte an die Tauben verfüttert, "in mir mich agitierend, daß die Sachertorte aus der Dimitroffstraße Ost-Berlins besser schmeckte als die eines Hotels Sacher. Ich schmierte meine Finger an dem Papier ab, roch die künstlichen Aromen so stark, daß ich den braunen, sußigen Teig, ich finde kein richtiges Wort, in meinen Händen war das Matsch, ich sehe mich noch, wie ich den letzten Rest vor dem Café zertrample." Von solchen Anfällen ist es dann wieder nur ein kurzer Weg zurück auf Schleefs Bühne.
Ins Zentrum von "Droge Faust Parsifal" stellt Schleef eine Theaterthese, deren "Unstimmigkeiten" er der Sache selbst in Rechnung stellt. Sie lautet zusammengefaßt wie folgt: Im klassischen deutschen Drama begegnen sich der antike Chorgedanke und Shakespeares Individuentheater, in dem männliche Protagonisten den Chor verdrängen. Verbindendes Thema der Chorstücke ist die Droge, wobei Schleef in "Faust I" Sterbedroge, Adorationsdroge, Potenzdroge/Jugenddroge und Naturdroge unterscheidet. Die "Drogen"-Einnahmen im deutschen Drama - exemplarisch vorgeführt an den Zechern in Auerbachs Keller und an der Tafelrunde in "Parsifal" - begreift er als Variationen der "ersten, chorische(n) Drogeneinnahme unseres Kulturkreises: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut."
Der deutsche Chor ist Männersache. Im Drogenkonsum des Chores werden gesellschaftliche Koalitionen geschmiedet und "Utopien" entwickelt. So gilt es nach Schleef für Goethe ebenso wie für seine Erben, namentlich Wagner und Hauptmann. Überhaupt sei Hauptmanns Vorstellung vom Theater, meint Schleef, "bis heute bindend". Einerseits bilde zwar die antike Chortragödie noch immer die Spitze des literarischen Kanons, andererseits sei der Chor auf der Bühne in Mißkredit geraten - und mit ihm die Frau. Die "Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor" setze "in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus, da sie die Drogeneinnahme stört". Schleef will die "Geburt des Protagonisten aus der Unterwerfung der Frau" (Heiner Müller) nicht akzeptieren. Seine Idee vom Theater ist nicht nur chorisch, sondern auch mütterlich. Die Verdrängung der Frau und des Chores von der Bühne hängt für ihn "engstens mit der Vertreibung des tragischen Bewußtseins" zusammen. Weil Schleef schreiende Frauenchöre auf die Bühne zurückbringt und weil das antike Chortheater bei ihm mit "Militärmantel und nackter Haut" einhergeht, gehöre seine Arbeit, wie er schreibt, "zu den meistgehaßten im Theater".
Natürlich ist Schleefs Auffassung vom Theater einseitig. Völlig fremd ist ihm das moderne, psychologisch-individualisierende Kammerspiel. Er mißtraut dem Reden um des Redens willen und führt es, gleich in welchem Stück, als kollektive Anstrengung vor. "Droge Faust Parsifal" orientiert sich vornehmlich am Kanon der Autoren, deren Stücke Schleef inszeniert hat: Aischylos, Euripides, Goethe und Hauptmann in seiner Frankfurter Zeit von 1985 bis 1990, später am Berliner Ensemble Hochhuth und Brecht, der für ihn eine "Mischung aus Professor Unrat, Rechthaberei und Positivismus" darstellt. Doch die meisten Seiten des Buches gehören "Parsifal", einem Stoff, den Schleef bislang noch nicht inszeniert, in den er sich aber bereits jetzt verbissen hat.
Mit Akribie sucht Schleef die vier Textfassungen des "Parsifal" nach Kongruenz und Nichtkongruenz ab, experimentiert mit einem Bühnenmodell im Maßstab eins zu fünf und stellt auf vielen Seiten sämtliche Regieanweisungen für Kundry zusammen. Dabei will sein Text die Stücke gar nicht kommentieren - und verwendet wohl auch deshalb kein einziges Anführungszeichen -, sondern "er nimmt diesen Werkstoff, um die eigene Situation zu erläutern, auch mit der Absicht, das eigene Handwerkszeug vor der praktischen Auseinandersetzung mit diesem Werkstoff sorgsam zu reinigen".
Schleef ist ein Methodiker der Entrückung. Er will ganz genau wissen, wann beispielsweise der "Sound-Sog" eines Eichendorff-Gedichts einsetzt ("spätestens nach dem zweiten Wort der zweiten Zeile"). Wer daran genießend teilnehmen will, meint er, muß sich selbst in den Sog begeben. Schleef ist ein genauer Chronist seiner Mißgeschicke, die vor allem im Westen auf ihn lauern. Er, der sich nach der einen wirklich brauchbaren Reißzwecke aus Deutschland-Ost oder -West bücken würde, wenn es sie gäbe, der "aus den Aussteuerkopfkissen meiner Mutter die altersgilben Faltkanten herauszuwaschen" versucht, damit er endlich seine West-Bettwäsche wegwerfen kann, hält wie sonst keiner an Materialien - nicht an Ideologien - fest, die er von drüben kennt. Seine Arbeit ist auch eine Kampfansage an die "Entortung des heutigen Theaters", an seine "Flughafenatmosphäre" und an die Barbarei namens "Betriebsamkeit". Dagegen lautet in seinem Theater die einfache, aber entscheidende Frage: "Wie kommt das Wort aus der Schnauze?" Mit Müh und Not. Fast am Ende dieses großen Essays steht ein Selbstporträt Schleefs als Stotterer: "Der Stotternde braucht mehr Luft, wiederholt die einfache Bewegung, bis der Kiefer dem Gehirn gehorcht, bis die Zähne schmerzen, bis das Ohr das Klappgeräusch nicht mehr erträgt: Alle sind scheu vor ihm gewichen, Amfortas steht, in furchtbarer Ekstase, einsam."
Einar Schleef: "Droge Faust Parsifal". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 499 S., br., 56,- DM.
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