Sobald man sie mit ihrem vollen Namen Annette von Droste-Hülshoff nennt, gerät man in Widerspruch zu (frühen) Leseerfahrungen, die sich auf die (Schul-)Lektüre der Judenbuche beziehen. Das dort geschilderte raue Wilderer- und Dorfmilieu, die einfühlsame Psychologie des hochstaplerischen Friedrich Mergel, der das Zeug zum Verbrecher hat, überrascht doch zumindest aus der Feder eines »Freifräuleins«, das im biedermeierlichen Luxus von Burgen, Landhäusern und Schlössern lebte. Kaum naheliegend, dass die Zeitgenossin Heinrich Heines, als unverheiratete Frau, (Ton-)Dichterin und Mäzenatin ohnehin der Schrulligkeit verdächtigt, soziale Schichten jenseits der feudalen Obrigkeit erforschte und menschliche Dramen in der verarmten Landbevölkerung aufspürte. Gesellschaftliche Grenzen waren Sache der »Stockwestfälin« aus dem Münsterland nicht, ebenso wenig wie konfessionelle, landessprachliche oder nationale. Als eine der ersten Frauen erhob sie berufsliterarischen Anspruch, auch wenn die schreibende Männerwelt ihre Arbeiten ignorierte. Mit ihrer Prosa wechselt der literarische Ton zum dokumentarischen Realismus, wie ihn damals nur Büchner, Hebbel oder der gleichaltrige Gotthelf anschlugen. Moderne Töne auch in der Lyrik, wo sie fotografisch »ganz Auge« ist. Stark genug, »unsre blasierte Zeit mit dem Rücken anzusehn«, war sie sich ihres Nachruhms sicher: »Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden.«