Zwei Deutschlands und zwei Jungen, fast zeitgleich geboren, nur nicht im selben Staat. David Wagner wächst im Westen auf, unweit der Bundeshauptstadt Bonn, Jochen Schmidt im Osten: in Berlin, Hauptstadt der DDR. Sie spielen im Garten oder auf Baustellen und warten darauf, dass endlich das Fernsehprogramm beginnt. Sie fahren Rad, klauen ihren Geschwistern Süßigkeiten und streiten sich mit ihnen auf der Rückbank des Familien¬autos. Sie träumen von der Fußballnationalmannschaft, üben wieder nicht Klavier und hören in der Schule, «drüben» sei die Welt schlechter.
Zwei der besten deutschen Schriftsteller ihrer Generation erzählen, was die eigene Kindheit links oder rechts der innerdeutschen Grenze ausgemacht hat. Alles war politisch, aber was weiß ein Kind davon?
Zwei der besten deutschen Schriftsteller ihrer Generation erzählen, was die eigene Kindheit links oder rechts der innerdeutschen Grenze ausgemacht hat. Alles war politisch, aber was weiß ein Kind davon?
Das Buch ist so gut und besonders, weil es dem vereinnahmenden «Wir» in Büchern wie Jana Hensels «Zonenkinder» (Ost) oder Florian Illies' «Generation Golf» (West) ganz unbefangen ein «Ich» entgegensetzt. Neues Deutschland
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jochen Schmidts Anteil an dem nun gemeinsam mit David Wagner geschriebenen Band "Drüben und drüben" über zwei Kindheiten in Ost und West hat Rezensent Florian Kessler offenbar besser gefallen. Das mag zum einen an dem vom Kritiker attestierten "Pointentemperament" liegen, zum anderen aber auch daran, dass die Erinnerungen Schmidts an seine Kindheit im Osten mit all den improvisierten Gerätschaften irgendwie idyllischer und vergnüglicher wirkt. Wagners lakonisch-essayistisch geschilderte Westkindheit in besten Verhältnissen in Andernach liest sich hingegen "überraschungsfrei", meint der Rezensent, der allerdings durchaus erfreut feststellt, dass es beiden Autoren gelingt, durch die reine Beschränkung auf die Beschreibung von Alltagsritualen aus der Flut von Ost-/West-Literatur herauszuragen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2014Wir wollten sein kein einig Volk von Brüdern
Was die Kindheit um 1980 in Ost- und Westdeutschland auszeichnete, haben David Wagner und Jochen Schmidt anhand der eigenen Biographien ergründet.
Jeder, der in den siebziger und achtziger Jahren in Westdeutschland aufgewachsen ist, weiß, dass der Kalte Krieg einen im Grunde ziemlich kaltließ. Die wirklich bedeutsamen weltanschaulichen Grenzlinien verliefen zwischen Nutella und Nusspli, zwischen Geha und Pelikano, zwischen Eduscho und Tchibo. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann es weidlich nachlesen, denn der Buchmarkt ist nicht gerade unterversorgt mit autobiographisch inspirierten nostalgischen "Period Pieces", die sich den Jahrzehnten der Helmuts und Erichs widmen. Ein Autor wie Gerhard Henschel betreibt gar eine ganze Erinnerungsfabrik, deren Fließband niemals stillsteht.
Dass sich die Generation 40 plus so gern zurückerinnert ("Ich habe diese Kindheit immer dabei, aus ihr komme ich nicht heraus", schreibt auch David Wagner im vorliegenden Buch), mag daran liegen, dass sie in ihrer Jugend am glücklichsten war: Man genoss die Ruhe vor dem Sturm. Und der Sturm wurde fürchterlich, wie wir heute wissen: Neoliberalismus, politischer Übermut und Machtergreifung der Elektronik fegten die seligen Zeiten des gemütlichen Atomraketen-Patts gnadenlos hinfort.
Kindheit gab es freilich auch in Ostdeutschland, und auch davon haben in den letzten Jahren reihenweise Bücher berichtet, in der Regel aber Romane, die zugleich die Systemfrage stellten. Daher ist das Doppelporträt einer deutschen Kindheit im Kalten Krieg, das David Wagner (West) und Jochen Schmidt (Ost) nun vorgelegt haben, doch eine kleine Kostbarkeit, denn es verzichtet auf jeden Plot. Im direkten Bezug aufeinander werden dieselben Kindheitsräume durchmessen: "Kinderzimmer", "Schule", "Bei anderen", "Spielplätze" oder "Im Auto".
Um aromareiches Erzählen handelt es sich auch bei diesem narrativen Fotoalben-Vergleich, denn er versammelt all die heiligen Begrifflichkeiten unserer Jugend von "Hüftumschwung" über "Fruit of the Loom"-Poloshirts bis zu "Fritt" und "Weltspartag". Aber es handelt sich eben nicht um aromatisiertes Erzählen: Die Erinnerung ist sich diesmal selbst genug. Der Geschmack von Fritt, das ist die Handlung. Wagner und Schmidt, zwei Meister der Alltagsbeobachtung und versierte Stilisten, haben einen Signalverstärker ans Großhirn angeschlossen, der es erlaubt zu bestaunen, wie kurios und gutmütig einem die Welt einmal vorkam, und zwar hüben wie drüben.
Darin besteht der Haupteffekt bei der Lektüre dieses kurzweiligen Buches: Verwunderung darüber, wie ähnlich die beiden Kindheiten verlaufen sind. Bei vielen Einzelszenen und Sentenzen ("Der Autoraum produzierte das Familiengefühl") weiß man im Nachhinein kaum mehr, ob man sie in den einen oder den anderen Erinnerungen gelesen hat, im Zweifel in beiden. Das ist durchaus in seiner ganzen Symbolik zu verstehen: Die Grenze verschwimmt. So groß die Wohlstandsunterschiede zwischen den Familien Wagner und Schmidt nämlich waren - die Wagners in Andernach am Rhein gehörten eher zur gehobenen Mittelschicht, die Schmidts in Ost-Berlin waren ohne wertvolle Beziehungen zu wichtigen Funktionären -, so deutlich die daraus resultierenden Unterschiede in Sachen Lebensqualität gewesen sein mögen, so wenig fiel das in kindlicher Perspektive ins Gewicht. Man spielte hüben wie drüben Cowboy und Indianer, ließ die Eisenbahn am liebsten entgleisen oder wunderte sich über die Knöpfe auf der Rückseite des Fernsehers.
Dass es jeweils ein Drüben gab, war beiden Kindern bewusst, denn dieses Bewusstsein wurde gefördert: im Westen mit Klassenfahrten inklusive Zonen-Besuch und im Osten durch unverhohlene Freude über Pakete aus dem Westen. Dennoch war der junge Jochen sicher: "Wir hatten ja die wichtigsten Teile von Deutschland bekommen, bei uns war die Kultur: Museumsinsel, Weimar, der Zwinger, Ritter Kahlbutz und der Kreidefelsen. Drüben waren die Nazis untergekommen, und es gab Arbeitslose."
Das mit den Nazis sah der junge David nicht viel anders, aber für die Gegenseite, für die "Eingesperrten", brachte er noch weniger Interesse auf als umgekehrt: "Ostdeutschland war mir egal - bis auf den Umstand, dass ich hin und wieder ein schlechtes Gewissen hatte, auf der Seite zu wohnen, der es objektiv viel besser ging." Stasi, RAF oder Nato-Doppelbeschluss mögen die zeitgeschichtlichen Fernsehfilme dominieren, doch wirklich hineingegriffen ins Leben der Jugendlichen hat die Politik allenfalls am Rande: Der junge David Wagner bastelte sich seinen Anti-Strauß-Button selbst, konnte aber nicht antworten, als er drei Argumente für seine Position vorbringen sollte.
Lakonisch erzählt sind beide Partien in diesem - ein etwas überflüssiger gestalterischer Gag - Wende-Buch. Dabei ist Schmidts Blick etwas freundlicher und von lustigen Phobien begleitet (die Balkonbrüstung könnte abreißen und die Untermieter köpfen), der von Wagner mitunter kühl, wenn er das in Zerstörungslust umschlagende Fremdheitsgefühl beschwört, das ihn beim Blick auf die Werte "unseres nivellierten Mittelklasseparadieses" beschlich. Aber war das schlechte Gewissen angesichts des unverdienten Wohlstands - man hatte doch einen Krieg verloren - wirklich der tiefere Grund dafür, sich mit Eifer ans Vernichten des eigenen nachwachsenden Spielzeugs zu machen oder bewusst das Zähneputzen zu verweigern und den eigenen Körper zu ramponieren?
Im Osten verwandelten Jugendliche schließlich auch die Schulen zu Staub: "Mit großer Geduld wurde überall am Gebäude gekratzt, geschabt, geschraubt, gerüttelt, gestochert, gebohrt, gepult, bis man einen Weg gefunden hatte, das Material zu besiegen." Trotz dieses fröhlichen Antimaterialismus waren in der DDR Westgegenstände höchst gefragt und dank der BRD-Verwandtschaft auch in kleinem Maße vorhanden. Man begegnete ihnen mit weit größerer Ehrfurcht und Bewunderung als drüben im Wohlstandsparadies. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum man nach diesem Buch (und unter Absehung von allen Kenntnissen um die politische Situation) wohl ein bisschen lieber im Osten aufgewachsen wäre: Da ging es im Alltag offenbar weniger verkrampft und autoaggressiv zu und war das Leben einfach abenteuerlicher, zumindest für Jungs.
OLIVER JUNGEN
David Wagner, Jochen Schmidt: "Drüben und drüben". Zwei deutsche Kindheiten.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 336 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was die Kindheit um 1980 in Ost- und Westdeutschland auszeichnete, haben David Wagner und Jochen Schmidt anhand der eigenen Biographien ergründet.
Jeder, der in den siebziger und achtziger Jahren in Westdeutschland aufgewachsen ist, weiß, dass der Kalte Krieg einen im Grunde ziemlich kaltließ. Die wirklich bedeutsamen weltanschaulichen Grenzlinien verliefen zwischen Nutella und Nusspli, zwischen Geha und Pelikano, zwischen Eduscho und Tchibo. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann es weidlich nachlesen, denn der Buchmarkt ist nicht gerade unterversorgt mit autobiographisch inspirierten nostalgischen "Period Pieces", die sich den Jahrzehnten der Helmuts und Erichs widmen. Ein Autor wie Gerhard Henschel betreibt gar eine ganze Erinnerungsfabrik, deren Fließband niemals stillsteht.
Dass sich die Generation 40 plus so gern zurückerinnert ("Ich habe diese Kindheit immer dabei, aus ihr komme ich nicht heraus", schreibt auch David Wagner im vorliegenden Buch), mag daran liegen, dass sie in ihrer Jugend am glücklichsten war: Man genoss die Ruhe vor dem Sturm. Und der Sturm wurde fürchterlich, wie wir heute wissen: Neoliberalismus, politischer Übermut und Machtergreifung der Elektronik fegten die seligen Zeiten des gemütlichen Atomraketen-Patts gnadenlos hinfort.
Kindheit gab es freilich auch in Ostdeutschland, und auch davon haben in den letzten Jahren reihenweise Bücher berichtet, in der Regel aber Romane, die zugleich die Systemfrage stellten. Daher ist das Doppelporträt einer deutschen Kindheit im Kalten Krieg, das David Wagner (West) und Jochen Schmidt (Ost) nun vorgelegt haben, doch eine kleine Kostbarkeit, denn es verzichtet auf jeden Plot. Im direkten Bezug aufeinander werden dieselben Kindheitsräume durchmessen: "Kinderzimmer", "Schule", "Bei anderen", "Spielplätze" oder "Im Auto".
Um aromareiches Erzählen handelt es sich auch bei diesem narrativen Fotoalben-Vergleich, denn er versammelt all die heiligen Begrifflichkeiten unserer Jugend von "Hüftumschwung" über "Fruit of the Loom"-Poloshirts bis zu "Fritt" und "Weltspartag". Aber es handelt sich eben nicht um aromatisiertes Erzählen: Die Erinnerung ist sich diesmal selbst genug. Der Geschmack von Fritt, das ist die Handlung. Wagner und Schmidt, zwei Meister der Alltagsbeobachtung und versierte Stilisten, haben einen Signalverstärker ans Großhirn angeschlossen, der es erlaubt zu bestaunen, wie kurios und gutmütig einem die Welt einmal vorkam, und zwar hüben wie drüben.
Darin besteht der Haupteffekt bei der Lektüre dieses kurzweiligen Buches: Verwunderung darüber, wie ähnlich die beiden Kindheiten verlaufen sind. Bei vielen Einzelszenen und Sentenzen ("Der Autoraum produzierte das Familiengefühl") weiß man im Nachhinein kaum mehr, ob man sie in den einen oder den anderen Erinnerungen gelesen hat, im Zweifel in beiden. Das ist durchaus in seiner ganzen Symbolik zu verstehen: Die Grenze verschwimmt. So groß die Wohlstandsunterschiede zwischen den Familien Wagner und Schmidt nämlich waren - die Wagners in Andernach am Rhein gehörten eher zur gehobenen Mittelschicht, die Schmidts in Ost-Berlin waren ohne wertvolle Beziehungen zu wichtigen Funktionären -, so deutlich die daraus resultierenden Unterschiede in Sachen Lebensqualität gewesen sein mögen, so wenig fiel das in kindlicher Perspektive ins Gewicht. Man spielte hüben wie drüben Cowboy und Indianer, ließ die Eisenbahn am liebsten entgleisen oder wunderte sich über die Knöpfe auf der Rückseite des Fernsehers.
Dass es jeweils ein Drüben gab, war beiden Kindern bewusst, denn dieses Bewusstsein wurde gefördert: im Westen mit Klassenfahrten inklusive Zonen-Besuch und im Osten durch unverhohlene Freude über Pakete aus dem Westen. Dennoch war der junge Jochen sicher: "Wir hatten ja die wichtigsten Teile von Deutschland bekommen, bei uns war die Kultur: Museumsinsel, Weimar, der Zwinger, Ritter Kahlbutz und der Kreidefelsen. Drüben waren die Nazis untergekommen, und es gab Arbeitslose."
Das mit den Nazis sah der junge David nicht viel anders, aber für die Gegenseite, für die "Eingesperrten", brachte er noch weniger Interesse auf als umgekehrt: "Ostdeutschland war mir egal - bis auf den Umstand, dass ich hin und wieder ein schlechtes Gewissen hatte, auf der Seite zu wohnen, der es objektiv viel besser ging." Stasi, RAF oder Nato-Doppelbeschluss mögen die zeitgeschichtlichen Fernsehfilme dominieren, doch wirklich hineingegriffen ins Leben der Jugendlichen hat die Politik allenfalls am Rande: Der junge David Wagner bastelte sich seinen Anti-Strauß-Button selbst, konnte aber nicht antworten, als er drei Argumente für seine Position vorbringen sollte.
Lakonisch erzählt sind beide Partien in diesem - ein etwas überflüssiger gestalterischer Gag - Wende-Buch. Dabei ist Schmidts Blick etwas freundlicher und von lustigen Phobien begleitet (die Balkonbrüstung könnte abreißen und die Untermieter köpfen), der von Wagner mitunter kühl, wenn er das in Zerstörungslust umschlagende Fremdheitsgefühl beschwört, das ihn beim Blick auf die Werte "unseres nivellierten Mittelklasseparadieses" beschlich. Aber war das schlechte Gewissen angesichts des unverdienten Wohlstands - man hatte doch einen Krieg verloren - wirklich der tiefere Grund dafür, sich mit Eifer ans Vernichten des eigenen nachwachsenden Spielzeugs zu machen oder bewusst das Zähneputzen zu verweigern und den eigenen Körper zu ramponieren?
Im Osten verwandelten Jugendliche schließlich auch die Schulen zu Staub: "Mit großer Geduld wurde überall am Gebäude gekratzt, geschabt, geschraubt, gerüttelt, gestochert, gebohrt, gepult, bis man einen Weg gefunden hatte, das Material zu besiegen." Trotz dieses fröhlichen Antimaterialismus waren in der DDR Westgegenstände höchst gefragt und dank der BRD-Verwandtschaft auch in kleinem Maße vorhanden. Man begegnete ihnen mit weit größerer Ehrfurcht und Bewunderung als drüben im Wohlstandsparadies. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum man nach diesem Buch (und unter Absehung von allen Kenntnissen um die politische Situation) wohl ein bisschen lieber im Osten aufgewachsen wäre: Da ging es im Alltag offenbar weniger verkrampft und autoaggressiv zu und war das Leben einfach abenteuerlicher, zumindest für Jungs.
OLIVER JUNGEN
David Wagner, Jochen Schmidt: "Drüben und drüben". Zwei deutsche Kindheiten.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 336 S., geb., 19,95 [Euro].
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