"Das Drama wie auch die Schönheit des Lebens bestehen wohl darin, dass wir alle, in einer verwinkelten Ecke unseres Ichs, auf eine Art für immer fünfzehn Jahre alt bleiben."
Benjamin von Stuckrad-Barre über "Dschungel"
Er muss ihn finden. Seinen besten Freund, der schon immer auf der Jagd nach dem Extremen war - nie wird er vergessen, wie euphorisiert Felix neben ihm vor dem felsigen Abgrund stand, unter ihnen ragten die Klippen hervor wie aufgeklappte Messer. Doch selbst Felix sieht es nicht ähnlich, auf einer Reise in Asien spurlos zu verschwinden. Für den Erzähler steht fest: Nur er kann das rätselhafte Abtauchen aufklären. Dafür setzt er sogar seine große Liebe aufs Spiel. Schließlich verbindet ihn mit Felix eine besondere Freundschaft. Und ein Geheimnis, das sie ebenso eint wie trennt. Immer tiefer dringt der Erzähler auf seiner Suche in das wilde Kambodscha vor, in dieses nie genesene Land ohne Gedächtnis, immer verzweifelter durchforstet er seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was passiert sein könnte. Bis er begreift, dass er den Freund nur retten kann, wenn er mit ihm verschwindet.
"Peng, peng, peng, und dann den Kopf in Flugmodus. Friedemann Karig hat den Reiseroman neu erfunden. Nur eigentlich ist das mehr als ein Roman, nämlich eine Hymne an das Jungsein und Wildwerden. Und das ist groß." Max Scharnigg
Benjamin von Stuckrad-Barre über "Dschungel"
Er muss ihn finden. Seinen besten Freund, der schon immer auf der Jagd nach dem Extremen war - nie wird er vergessen, wie euphorisiert Felix neben ihm vor dem felsigen Abgrund stand, unter ihnen ragten die Klippen hervor wie aufgeklappte Messer. Doch selbst Felix sieht es nicht ähnlich, auf einer Reise in Asien spurlos zu verschwinden. Für den Erzähler steht fest: Nur er kann das rätselhafte Abtauchen aufklären. Dafür setzt er sogar seine große Liebe aufs Spiel. Schließlich verbindet ihn mit Felix eine besondere Freundschaft. Und ein Geheimnis, das sie ebenso eint wie trennt. Immer tiefer dringt der Erzähler auf seiner Suche in das wilde Kambodscha vor, in dieses nie genesene Land ohne Gedächtnis, immer verzweifelter durchforstet er seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was passiert sein könnte. Bis er begreift, dass er den Freund nur retten kann, wenn er mit ihm verschwindet.
"Peng, peng, peng, und dann den Kopf in Flugmodus. Friedemann Karig hat den Reiseroman neu erfunden. Nur eigentlich ist das mehr als ein Roman, nämlich eine Hymne an das Jungsein und Wildwerden. Und das ist groß." Max Scharnigg
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2019Wir sind nur eines der Lichter, die wir am Ende ausmachen
Die männliche Pubertät als Endlosschleife: Friedemann Karigs Debütroman „Dschungel“
In Deutschland sei alles leichter, sagt ein kambodschanischer Junge während einer nächtlichen Bootsfahrt in gebrochenem Englisch: „Not so much problems.“ Der Junge lacht, „als schämte er sich für diese Meinung“. Auch der Passagier aus Deutschland, der ja immerhin „mitten in der Nacht ein Boot gechartert“ hat, „um auf eine einsame Insel zu fahren“, ist sich nicht sicher, ob der Junge recht hat. Vielleicht sind deutsche Probleme ja mindestens genauso schlimm wie kambodschanische.
Schließlich, so kann man als Leser von Friedemann Karigs Romandebüt „Dschungel“ mitdenken, gibt es kein objektives Maß für die Schwere von Leidensdruck, nur die subjektive Empfindung. Und dass der Erzähler seine Probleme für gewichtig hält, daran besteht kein Zweifel.
Karig, im Tagesjob Journalist, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, erzählt von der Suche des namenlos bleibenden Erzählers nach seinem Jugendfreund Felix. Der scheint bei einer Tour nach Kambodscha spurlos verschwunden zu sein. Felix’ Mutter, eine zugleich unangenehm dominante und weinerlich-selbstgerechte Frau, überrumpelt ihn. Sie drückt ihm ein Flugticket in die Hand und schickt ihn mit dem Auftrag nach Südostasien, ihren Sohn zu finden. Es handelt sich um eine Reise, die auf emotionaler Erpressung und einem vagen Schuldgefühl des Erzählers beruht.
Eine durchaus solide Prämisse, zumal in einem Land, das Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen war, sich derzeit aber rapide zum Ziel junger Backpacker entwickelt. Die Fahndung nach Felix gibt Gelegenheit zu einem individualtouristischen Trip durch Hostels und Märkte, Polizeistationen und schließlich auch den titelgebenden Dschungel. Die zähen Nachforschungen alternieren mit Erinnerungen an eine Neunzigerjahre-Jugend in Süddeutschland. Hier entsteht zunehmend das Bild einer ziemlich ungesunden Dynamik zwischen dem Erzähler – einem Beta-Männchen, wie es im Buche steht – und dem im Laufe der Erzählung immer unsympathischer werdenden Felix.
Die Beteuerungen, man könne diesem mit suizidalen Posen kokettierenden Egozentriker „einfach nicht böse sein“, wenn er seine Freundin bei einer Schultheateraufführung auf offener Bühne bloßstellt oder den Freund nach einem etwas peinlichen Alkoholzwischenfall tagelang einfach links liegen lässt, überzeugen nicht so recht. Auch das Schuldgefühl, das den Erzähler antreibt, Felix aufzuspüren, wird nie durch das gerechtfertigt, was zwischen den beiden vorfällt. Die Freundschaft, die ihn mit Felix verbindet, ähnelt streckenweise freiwilligem Vasallentum. Die Rückblenden sind Tableaus einer bundesrepublikanischen Mittelschichtjugend, irgendwo zwischen Max von der Grüns „Vorstadtkrokodilen“ und Stephen Kings „Die Leiche“ angesiedelt, inklusive idiotischen Kämpfen mit einer wohlmeinenden Französischlehrerin und zart knospender erster Verliebtheit. Angereichert ist das mit zahlreichen popkulturellen Zitaten aus Walt Disney’s „Dschungelbuch“, den „Simpsons“ oder Radiohead-Lyrics.
Die permapubertäre Weltwahrnehmung, die sich beide Knaben auch später wie einen Schatz bewahren werden, unterminiert die implizite Behauptung des Romans, er führe ernsthafte Lebenskrisen vor. Nicht jeder Leser jedenfalls dürfte so leicht zu beeindrucken sein wie der Erzähler, der bewundernd Felix’ Teenager-Allegorie über die Endlichkeit des Seins lauscht: „Irgendwann, ganz am Ende, macht man zum letzten Mal das Licht aus. Und stirbt. Dann ist man nur eins dieser Lichter, die man ausgemacht hat. Einfach weg. Wie nie da gewesen.“
Elegant löst Karig in den kambodschanischen Szenen die Herausforderung, welche die Existenz des Smartphones an eine Geschichte stellt, in der es um früher schier unüberbrückbare geografische Distanzen geht. Potenzieller Fluch jeder zeitgenössischen Abnabelungserzählung, spielt es einerseits als Spur auf dem tastenden Weg zu Felix eine tragende Rolle, andererseits wird es zur Waffe gegen die Daheimgebliebenen – Felix’ nervende Mutter, den erstaunlich geduldigen Arbeitgeber, die bedauernswerte Freundin des Erzählers. Durch selektive Kommunikation (und Kommunikationsverweigerung) hält er sie alle auf Distanz, nicht nur räumlich.
Die Landesbeschreibungen haben derweil streckenweise etwas von einem Condé-Nast-Traveller-Essay: Die Menschen „lächeln unablässig“, „schwarzer, blauer, roter Müll“ am Straßenrand, der so bunt leuchtet, dass er „fast fröhlich“ aussieht.
Das wäre für sich genommen durchaus in Ordnung. Allerdings stehen diese Passagen wie Versatzstücke zwischen den bedeutungsschwangeren Reminiszenzen und Reflexionen, in denen der Erzähler sich ergeht. Unterschiedlich überzeugend sind auch die Interaktionen auf dem Weg zum flüchtigen Ziel namens Felix. Da sind flirtende spanische Abenteuerreisende und ein nervöser Drogenhändler, ein jovialer Hostel-Animator und ein berauschter Taxifahrer im Piratenlook, zwei Computerhacker-Aussteiger, die auf ihren Laptops herumtippen, und eine Frau, die sowohl als sexuelle Verlockung als auch als Katalysatorin seiner Gralssuche dient. So richtig warm wird der Erzähler mit keinem von ihnen, dafür ist er zu besessen – von Felix, vor allem aber von sich selbst.
Dass sich diese Einzelszenen dennoch flüssig weglesen, ist dem gekonnten Einsatz von Cliffhangern geschuldet, die immer dann in die Jugend nach Deutschland zurückschwenken, wenn es in Kambodscha spannend zu werden verspricht. Karigs Vergleiche und Metaphern aber wirken oft gesucht: Gewürze riechen „wie Lexikoneinträge ihrer selbst“, der Hals des Erzählers ist „eine Wüste“, „vom Klimawandel meines Lebens ausgedörrt“, Pupillen weiten und verengen sich „wie die Kiemen eines Fisches an Land“. Zudem ist der innere Monolog des Erzählers so dicht durchsetzt von vermeintlich richtungsweisenden Aha-Erlebnissen („Und in diesem Moment verstand ich, dass der rosa Zettel völlig egal war.“), dass sich ihr Effekt rasch abnutzt.
Eine kambodschanische Herbergsbetreiberin beschreibt als Problem des Massentourismus, dass „alle das Gleiche machen, das Gleiche sehen und deshalb auch das Gleiche erzählen“. Das ist zugleich auch ein Problem der Literatur: Die Wohlstandsnivellierung erschwert Originalität. Selbst die Ereignisse in der Hippiekommune, in der Karigs Erzähler zwischendurch landet, wirken wie eine schaumgebremste Version von Alex Garlands „Der Strand“.
Der angebliche Ernst der Probleme aber, die der Erzähler und sein absenter Freund Felix mit sich herumschleppen, erweist sich letztlich vor allem als Gradmesser ihres Unwillens, erwachsen zu werden. Die Rebellion gegen Eltern und Schule, die Flucht in die grüne Ferne und die beachtliche Egomanie, die sich als Opferbereitschaft tarnt, sind Vermeidungsstrategien zweier konsequent Unreifer. Es bleibt der Eindruck, dass hier Menschen weglaufen, weil es daheim irgendwie zu anstrengend wurde. Eine Reise ins Herz der Finsternis ist das nicht gerade.
ALEXANDER MENDEN
Kambodscha, einst Schauplatz
von Kriegsverbrechen, entwickelt
sich zum Ziel junger Backpacker
Was bedeutet es, wenn
Gewürze riechen „wie
Lexikoneinträge ihrer selbst“?
Journalist, Moderator, Schriftsteller: Friedemann Karig.
Foto: Paul Ripke
Friedemann Karig: Dschungel. Roman. Ullstein
Verlag, Berlin 2019.
384 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die männliche Pubertät als Endlosschleife: Friedemann Karigs Debütroman „Dschungel“
In Deutschland sei alles leichter, sagt ein kambodschanischer Junge während einer nächtlichen Bootsfahrt in gebrochenem Englisch: „Not so much problems.“ Der Junge lacht, „als schämte er sich für diese Meinung“. Auch der Passagier aus Deutschland, der ja immerhin „mitten in der Nacht ein Boot gechartert“ hat, „um auf eine einsame Insel zu fahren“, ist sich nicht sicher, ob der Junge recht hat. Vielleicht sind deutsche Probleme ja mindestens genauso schlimm wie kambodschanische.
Schließlich, so kann man als Leser von Friedemann Karigs Romandebüt „Dschungel“ mitdenken, gibt es kein objektives Maß für die Schwere von Leidensdruck, nur die subjektive Empfindung. Und dass der Erzähler seine Probleme für gewichtig hält, daran besteht kein Zweifel.
Karig, im Tagesjob Journalist, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, erzählt von der Suche des namenlos bleibenden Erzählers nach seinem Jugendfreund Felix. Der scheint bei einer Tour nach Kambodscha spurlos verschwunden zu sein. Felix’ Mutter, eine zugleich unangenehm dominante und weinerlich-selbstgerechte Frau, überrumpelt ihn. Sie drückt ihm ein Flugticket in die Hand und schickt ihn mit dem Auftrag nach Südostasien, ihren Sohn zu finden. Es handelt sich um eine Reise, die auf emotionaler Erpressung und einem vagen Schuldgefühl des Erzählers beruht.
Eine durchaus solide Prämisse, zumal in einem Land, das Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen war, sich derzeit aber rapide zum Ziel junger Backpacker entwickelt. Die Fahndung nach Felix gibt Gelegenheit zu einem individualtouristischen Trip durch Hostels und Märkte, Polizeistationen und schließlich auch den titelgebenden Dschungel. Die zähen Nachforschungen alternieren mit Erinnerungen an eine Neunzigerjahre-Jugend in Süddeutschland. Hier entsteht zunehmend das Bild einer ziemlich ungesunden Dynamik zwischen dem Erzähler – einem Beta-Männchen, wie es im Buche steht – und dem im Laufe der Erzählung immer unsympathischer werdenden Felix.
Die Beteuerungen, man könne diesem mit suizidalen Posen kokettierenden Egozentriker „einfach nicht böse sein“, wenn er seine Freundin bei einer Schultheateraufführung auf offener Bühne bloßstellt oder den Freund nach einem etwas peinlichen Alkoholzwischenfall tagelang einfach links liegen lässt, überzeugen nicht so recht. Auch das Schuldgefühl, das den Erzähler antreibt, Felix aufzuspüren, wird nie durch das gerechtfertigt, was zwischen den beiden vorfällt. Die Freundschaft, die ihn mit Felix verbindet, ähnelt streckenweise freiwilligem Vasallentum. Die Rückblenden sind Tableaus einer bundesrepublikanischen Mittelschichtjugend, irgendwo zwischen Max von der Grüns „Vorstadtkrokodilen“ und Stephen Kings „Die Leiche“ angesiedelt, inklusive idiotischen Kämpfen mit einer wohlmeinenden Französischlehrerin und zart knospender erster Verliebtheit. Angereichert ist das mit zahlreichen popkulturellen Zitaten aus Walt Disney’s „Dschungelbuch“, den „Simpsons“ oder Radiohead-Lyrics.
Die permapubertäre Weltwahrnehmung, die sich beide Knaben auch später wie einen Schatz bewahren werden, unterminiert die implizite Behauptung des Romans, er führe ernsthafte Lebenskrisen vor. Nicht jeder Leser jedenfalls dürfte so leicht zu beeindrucken sein wie der Erzähler, der bewundernd Felix’ Teenager-Allegorie über die Endlichkeit des Seins lauscht: „Irgendwann, ganz am Ende, macht man zum letzten Mal das Licht aus. Und stirbt. Dann ist man nur eins dieser Lichter, die man ausgemacht hat. Einfach weg. Wie nie da gewesen.“
Elegant löst Karig in den kambodschanischen Szenen die Herausforderung, welche die Existenz des Smartphones an eine Geschichte stellt, in der es um früher schier unüberbrückbare geografische Distanzen geht. Potenzieller Fluch jeder zeitgenössischen Abnabelungserzählung, spielt es einerseits als Spur auf dem tastenden Weg zu Felix eine tragende Rolle, andererseits wird es zur Waffe gegen die Daheimgebliebenen – Felix’ nervende Mutter, den erstaunlich geduldigen Arbeitgeber, die bedauernswerte Freundin des Erzählers. Durch selektive Kommunikation (und Kommunikationsverweigerung) hält er sie alle auf Distanz, nicht nur räumlich.
Die Landesbeschreibungen haben derweil streckenweise etwas von einem Condé-Nast-Traveller-Essay: Die Menschen „lächeln unablässig“, „schwarzer, blauer, roter Müll“ am Straßenrand, der so bunt leuchtet, dass er „fast fröhlich“ aussieht.
Das wäre für sich genommen durchaus in Ordnung. Allerdings stehen diese Passagen wie Versatzstücke zwischen den bedeutungsschwangeren Reminiszenzen und Reflexionen, in denen der Erzähler sich ergeht. Unterschiedlich überzeugend sind auch die Interaktionen auf dem Weg zum flüchtigen Ziel namens Felix. Da sind flirtende spanische Abenteuerreisende und ein nervöser Drogenhändler, ein jovialer Hostel-Animator und ein berauschter Taxifahrer im Piratenlook, zwei Computerhacker-Aussteiger, die auf ihren Laptops herumtippen, und eine Frau, die sowohl als sexuelle Verlockung als auch als Katalysatorin seiner Gralssuche dient. So richtig warm wird der Erzähler mit keinem von ihnen, dafür ist er zu besessen – von Felix, vor allem aber von sich selbst.
Dass sich diese Einzelszenen dennoch flüssig weglesen, ist dem gekonnten Einsatz von Cliffhangern geschuldet, die immer dann in die Jugend nach Deutschland zurückschwenken, wenn es in Kambodscha spannend zu werden verspricht. Karigs Vergleiche und Metaphern aber wirken oft gesucht: Gewürze riechen „wie Lexikoneinträge ihrer selbst“, der Hals des Erzählers ist „eine Wüste“, „vom Klimawandel meines Lebens ausgedörrt“, Pupillen weiten und verengen sich „wie die Kiemen eines Fisches an Land“. Zudem ist der innere Monolog des Erzählers so dicht durchsetzt von vermeintlich richtungsweisenden Aha-Erlebnissen („Und in diesem Moment verstand ich, dass der rosa Zettel völlig egal war.“), dass sich ihr Effekt rasch abnutzt.
Eine kambodschanische Herbergsbetreiberin beschreibt als Problem des Massentourismus, dass „alle das Gleiche machen, das Gleiche sehen und deshalb auch das Gleiche erzählen“. Das ist zugleich auch ein Problem der Literatur: Die Wohlstandsnivellierung erschwert Originalität. Selbst die Ereignisse in der Hippiekommune, in der Karigs Erzähler zwischendurch landet, wirken wie eine schaumgebremste Version von Alex Garlands „Der Strand“.
Der angebliche Ernst der Probleme aber, die der Erzähler und sein absenter Freund Felix mit sich herumschleppen, erweist sich letztlich vor allem als Gradmesser ihres Unwillens, erwachsen zu werden. Die Rebellion gegen Eltern und Schule, die Flucht in die grüne Ferne und die beachtliche Egomanie, die sich als Opferbereitschaft tarnt, sind Vermeidungsstrategien zweier konsequent Unreifer. Es bleibt der Eindruck, dass hier Menschen weglaufen, weil es daheim irgendwie zu anstrengend wurde. Eine Reise ins Herz der Finsternis ist das nicht gerade.
ALEXANDER MENDEN
Kambodscha, einst Schauplatz
von Kriegsverbrechen, entwickelt
sich zum Ziel junger Backpacker
Was bedeutet es, wenn
Gewürze riechen „wie
Lexikoneinträge ihrer selbst“?
Journalist, Moderator, Schriftsteller: Friedemann Karig.
Foto: Paul Ripke
Friedemann Karig: Dschungel. Roman. Ullstein
Verlag, Berlin 2019.
384 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2019Du musst dein Leben ändern
Und dafür gegebenenfalls nach Kambodscha reisen: Friedemann Karigs Initiationsroman "Dschungel"
Zwei Milliarden Menschen sind als Touristen auf dem Globus unterwegs - und sie haben als Fluchtgrund nur die Suche nach Abwechslung, Spaß, Erlebnis. Unterwegssein wird von Menschen offenbar überwiegend als positiv empfunden. Auch Schriftsteller haben immer gern vom Reisen erzählt, kamen die buchenswerten Erfahrungen dabei doch von außen auf sie zu; es galt nur Augen und Ohren aufzusperren. So leicht geht das heute, wo der Overtourism zur Plage des Planeten geworden ist und selbst auf dem Himalaja Gedrängel herrscht, allerdings nicht mehr.
Ein cleverer Autor inszeniert seine Figur deshalb als widerwillig Reisenden, so wie es der 1982 geborene Friedemann Karig, der bisher mit einem Sachbuch über das "Ende der Monogamie" hervorgetreten ist, in seinem Debütroman "Dschungel" tut. Sein namenloser Ich-Erzähler steigt nur gezwungenermaßen und zum Verdruss seiner anhänglichen Freundin Lea in den Flieger. Sein Jugendfreund Felix ist verschollen, irgendwo weit hinten in Kambodscha; auf Anrufe reagiert er nicht. Und nun drängt ihn Felix' Mutter, eine selbstgerechte, manipulative Frau, doch bitte nach ihrem Sohn zu suchen; nur er, der gute, alte Freund, könne das. Sie hat das Flugticket schon gebucht.
Kambodscha - so weit muss man heute entfliehen, um verlorenzugehen, ohne dass eine gute Handy-Ortung, die Polizei oder hilfreiche Botschaftsangehörige das Abenteuer der Suche beeinträchtigen. Der Erzähler begibt sich befremdet in die Zonen des Exotismus, interessiert sich wenig für traumhafte Strände, unternimmt halsbrecherische Busfahrten ins Hinterland, verirrt sich auf eine gespenstische Toteninsel aus der Zeit der Killing Fields. Er bekommt es mit Drogenhändlern und Pseudo-Piraten zu tun. Und fast überall, wo er auftaucht, sind schon ein paar Hippies oder Backpacker vor Ort. Immer wieder zeigt der Erzähler sein Foto von Felix herum; meist erntet er Kopfschütteln oder die hintersinnige Feststellung, dass dieser Felix ja wie er selbst aussehe. Natürlich; die Suche wird auch zur Suche nach dem Selbst. Der Erzähler entfremdet sich per Smartphone zunehmend von seiner Freundin Lea, die das geordnete Leben daheim im Zweisamkeitsidyll repräsentiert. Er hat eine Affäre mit einer Frau, die zuvor schon eine Affäre mit Felix hatte - auch dies eine Spur, eine Annäherung, ebenso das Handy des Verschollenen, das er in einer Motel-Matratze findet. Das Gerät gibt jedoch nicht mehr her als das Foto einer weiteren Insel als nächsten Hinweis im Versteckspiel, das am Ende in den tiefsten Dschungel führt.
Die Reise wird als Parallelaktion erzählt. Während der Ich-Erzähler durch immer unwegsamere Regionen Kambodschas streift, finden in regelmäßigen Rückblenden Erinnerungsreisen in Kindheit und Jugend statt. Es werden Schlüsselszenen einer heiklen Freundschaft erzählt, viel Irritierendes, misslingende Mutproben, Momente des Verrats. Und schnell zeigt sich: Es ist nicht das erste Mal, dass Felix es an Verlässlichkeit und Rationalität fehlen lässt. Schon die Eingangsszene des Romans, eine der Jugenderinnerungen, beschreibt ein Muster: Die beiden Freunde stehen auf einer Klippe über einem Abgrund, der Erzähler ist nicht schwindelfrei, aber Felix zwingt ihn immer näher an die Kante und spielt mit ihm das Ich-lass-mich-gleich-fallen-Spiel, bis der Erzähler sich überwindet und Felix zurückreißt. Wiederholt begibt sich Felix in riskante, selbstzerstörerische Situationen, aus denen ihn der Erzähler rettet, etwa wenn er ihn im letzten Moment davor bewahrt, von einer Gruppe Kampfsportler, die er sinnlos provoziert hat, zusammengeschlagen zu werden. Dank dafür bekommt er nie. Und wenn er selbst Hilfe oder Solidarität von Felix gebrauchen könnte, entzieht sich dieser. Als der Erzähler bei einem jugendlichen Sauf-Exzess den Alkohol nicht gut verträgt und fortan von den Mitschülern mit dem Spitznamen "Kotze" gemobbt wird, kündigt Felix die Freundschaft erst einmal auf. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde, könnte man schließen; dennoch scheint gerade die Unzuverlässigkeit die Bindung noch zu verstärken, so wie in Liebesbeziehungen der Partner, der sich entzieht, den anderen dadurch oft nur fester an sich heftet - Proust hat es gelegentlich beschrieben. Gerade das Bizarre, Unberechenbare seines Verhaltens macht Felix für den Erzähler interessant, auch wenn die jugendliche Existenzphilosophie, mit der Felix sein Verhalten überhöht, etwas halbgar anmutet. Sie hat die Aura des Dezisionismus: Entscheidung ist alles, du musst dein Leben ändern. Und gegebenenfalls nach Kambodscha reisen.
Die Reise als Initiationserfahrung und Schwellenerlebnis - das ist ein großes Thema in Adoleszenz-Romanen. Man denke an Wolfgang Herrndorfs "Tschick" oder an "Junger Mann" von Wolf Haas. Es geht in diesen Büchern um die Abnabelung von der Herkunftswelt. Damit verbunden ist die Inszenierung erst wunderlicher, dann wunderbarer Freundschaften wie die zwischen Maik Klingenberg und Tschick oder die zwischen dem jungen Mann und dem Lastwagenfahrer Tscho. Während es nicht an Romanen mangelt, die die Ambivalenzen und Abgründe der Liebe ausloten, wird Freundschaft meist verklärt, als hätte sie nicht auch oft ihre dunklen Seiten, ihre Widrigkeiten und Geheimnisse, ihren untergründigen Hass. Eine Freundschaft darzustellen, die von alldem geprägt ist - das ist Friedemann Karig eindrucksvoll gelungen.
Sicher lassen sich auch Einwände geltend machen. Einige Metaphern und Cliffhanger wirken allzu forciert. Wie eine Pflichtübung wirkt es mittlerweile, wenn in Romanen popkulturelle Referenzen eingeflochten werden, in diesem Fall Songzeilen von Radiohead oder Pink Floyd. Zutreffend, wenn auch wenig originell ist die Kritik an den Verheerungen des Tourismus, insbesondere jenes Tourismus, der kein pauschaler sein will und sich mit seinen Geheimtipps und Individualrouten als Speerspitze des Verhängnisses erweist. Der Backpacker planiert den Weg für den Rollkoffer. Und nicht wirklich überzeugend ist ein Kapitel gegen Ende, das als Erklärung für die ungute Freundschaftsdynamik eine gleichsam psychoanalytische Urszene nachreicht. Das Reizthema des verdrängten sexuellen Missbrauchs kommt hier ins Spiel, wobei als Täterin zur Abwechslung eine toxische Mutter firmiert. Dieses Muster der Wiederkehr des "Verdrängten" ist schon in zu vielen Filmen und Romanen als Konfliktlösung abgenutzt worden.
Aber das sind kleine, verzeihliche Schwächen eines Romans, der zu den stärksten Debüts des Jahres zählt: abenteuerlich und intelligent zugleich, fesselnd geschrieben und in den Grundmotiven sorgfältig durchgearbeitet. Eines dieser Motive ist der Gegensatz von Vergessen und Erinnern. Kambodscha ist eine Metapher dafür: ein Land, in dem unter der bauernsozialistischen Diktatur Pol Pots Entsetzliches geschehen ist, von dem die Nachgeborenen oft nur noch wenig wissen. Und irgendwo dort gibt es eine Insel, auf der die Einheimischen einen mysteriösen Trank brauen, der auf Gedächtnisinhalte wie die Löschtaste am Computer wirkt. Dort treffen sich Felix und der Erzähler zum Showdown ihrer Freundschaft wieder.
WOLFGANG SCHNEIDER
Friedemann Karig:
"Dschungel". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 384 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und dafür gegebenenfalls nach Kambodscha reisen: Friedemann Karigs Initiationsroman "Dschungel"
Zwei Milliarden Menschen sind als Touristen auf dem Globus unterwegs - und sie haben als Fluchtgrund nur die Suche nach Abwechslung, Spaß, Erlebnis. Unterwegssein wird von Menschen offenbar überwiegend als positiv empfunden. Auch Schriftsteller haben immer gern vom Reisen erzählt, kamen die buchenswerten Erfahrungen dabei doch von außen auf sie zu; es galt nur Augen und Ohren aufzusperren. So leicht geht das heute, wo der Overtourism zur Plage des Planeten geworden ist und selbst auf dem Himalaja Gedrängel herrscht, allerdings nicht mehr.
Ein cleverer Autor inszeniert seine Figur deshalb als widerwillig Reisenden, so wie es der 1982 geborene Friedemann Karig, der bisher mit einem Sachbuch über das "Ende der Monogamie" hervorgetreten ist, in seinem Debütroman "Dschungel" tut. Sein namenloser Ich-Erzähler steigt nur gezwungenermaßen und zum Verdruss seiner anhänglichen Freundin Lea in den Flieger. Sein Jugendfreund Felix ist verschollen, irgendwo weit hinten in Kambodscha; auf Anrufe reagiert er nicht. Und nun drängt ihn Felix' Mutter, eine selbstgerechte, manipulative Frau, doch bitte nach ihrem Sohn zu suchen; nur er, der gute, alte Freund, könne das. Sie hat das Flugticket schon gebucht.
Kambodscha - so weit muss man heute entfliehen, um verlorenzugehen, ohne dass eine gute Handy-Ortung, die Polizei oder hilfreiche Botschaftsangehörige das Abenteuer der Suche beeinträchtigen. Der Erzähler begibt sich befremdet in die Zonen des Exotismus, interessiert sich wenig für traumhafte Strände, unternimmt halsbrecherische Busfahrten ins Hinterland, verirrt sich auf eine gespenstische Toteninsel aus der Zeit der Killing Fields. Er bekommt es mit Drogenhändlern und Pseudo-Piraten zu tun. Und fast überall, wo er auftaucht, sind schon ein paar Hippies oder Backpacker vor Ort. Immer wieder zeigt der Erzähler sein Foto von Felix herum; meist erntet er Kopfschütteln oder die hintersinnige Feststellung, dass dieser Felix ja wie er selbst aussehe. Natürlich; die Suche wird auch zur Suche nach dem Selbst. Der Erzähler entfremdet sich per Smartphone zunehmend von seiner Freundin Lea, die das geordnete Leben daheim im Zweisamkeitsidyll repräsentiert. Er hat eine Affäre mit einer Frau, die zuvor schon eine Affäre mit Felix hatte - auch dies eine Spur, eine Annäherung, ebenso das Handy des Verschollenen, das er in einer Motel-Matratze findet. Das Gerät gibt jedoch nicht mehr her als das Foto einer weiteren Insel als nächsten Hinweis im Versteckspiel, das am Ende in den tiefsten Dschungel führt.
Die Reise wird als Parallelaktion erzählt. Während der Ich-Erzähler durch immer unwegsamere Regionen Kambodschas streift, finden in regelmäßigen Rückblenden Erinnerungsreisen in Kindheit und Jugend statt. Es werden Schlüsselszenen einer heiklen Freundschaft erzählt, viel Irritierendes, misslingende Mutproben, Momente des Verrats. Und schnell zeigt sich: Es ist nicht das erste Mal, dass Felix es an Verlässlichkeit und Rationalität fehlen lässt. Schon die Eingangsszene des Romans, eine der Jugenderinnerungen, beschreibt ein Muster: Die beiden Freunde stehen auf einer Klippe über einem Abgrund, der Erzähler ist nicht schwindelfrei, aber Felix zwingt ihn immer näher an die Kante und spielt mit ihm das Ich-lass-mich-gleich-fallen-Spiel, bis der Erzähler sich überwindet und Felix zurückreißt. Wiederholt begibt sich Felix in riskante, selbstzerstörerische Situationen, aus denen ihn der Erzähler rettet, etwa wenn er ihn im letzten Moment davor bewahrt, von einer Gruppe Kampfsportler, die er sinnlos provoziert hat, zusammengeschlagen zu werden. Dank dafür bekommt er nie. Und wenn er selbst Hilfe oder Solidarität von Felix gebrauchen könnte, entzieht sich dieser. Als der Erzähler bei einem jugendlichen Sauf-Exzess den Alkohol nicht gut verträgt und fortan von den Mitschülern mit dem Spitznamen "Kotze" gemobbt wird, kündigt Felix die Freundschaft erst einmal auf. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde, könnte man schließen; dennoch scheint gerade die Unzuverlässigkeit die Bindung noch zu verstärken, so wie in Liebesbeziehungen der Partner, der sich entzieht, den anderen dadurch oft nur fester an sich heftet - Proust hat es gelegentlich beschrieben. Gerade das Bizarre, Unberechenbare seines Verhaltens macht Felix für den Erzähler interessant, auch wenn die jugendliche Existenzphilosophie, mit der Felix sein Verhalten überhöht, etwas halbgar anmutet. Sie hat die Aura des Dezisionismus: Entscheidung ist alles, du musst dein Leben ändern. Und gegebenenfalls nach Kambodscha reisen.
Die Reise als Initiationserfahrung und Schwellenerlebnis - das ist ein großes Thema in Adoleszenz-Romanen. Man denke an Wolfgang Herrndorfs "Tschick" oder an "Junger Mann" von Wolf Haas. Es geht in diesen Büchern um die Abnabelung von der Herkunftswelt. Damit verbunden ist die Inszenierung erst wunderlicher, dann wunderbarer Freundschaften wie die zwischen Maik Klingenberg und Tschick oder die zwischen dem jungen Mann und dem Lastwagenfahrer Tscho. Während es nicht an Romanen mangelt, die die Ambivalenzen und Abgründe der Liebe ausloten, wird Freundschaft meist verklärt, als hätte sie nicht auch oft ihre dunklen Seiten, ihre Widrigkeiten und Geheimnisse, ihren untergründigen Hass. Eine Freundschaft darzustellen, die von alldem geprägt ist - das ist Friedemann Karig eindrucksvoll gelungen.
Sicher lassen sich auch Einwände geltend machen. Einige Metaphern und Cliffhanger wirken allzu forciert. Wie eine Pflichtübung wirkt es mittlerweile, wenn in Romanen popkulturelle Referenzen eingeflochten werden, in diesem Fall Songzeilen von Radiohead oder Pink Floyd. Zutreffend, wenn auch wenig originell ist die Kritik an den Verheerungen des Tourismus, insbesondere jenes Tourismus, der kein pauschaler sein will und sich mit seinen Geheimtipps und Individualrouten als Speerspitze des Verhängnisses erweist. Der Backpacker planiert den Weg für den Rollkoffer. Und nicht wirklich überzeugend ist ein Kapitel gegen Ende, das als Erklärung für die ungute Freundschaftsdynamik eine gleichsam psychoanalytische Urszene nachreicht. Das Reizthema des verdrängten sexuellen Missbrauchs kommt hier ins Spiel, wobei als Täterin zur Abwechslung eine toxische Mutter firmiert. Dieses Muster der Wiederkehr des "Verdrängten" ist schon in zu vielen Filmen und Romanen als Konfliktlösung abgenutzt worden.
Aber das sind kleine, verzeihliche Schwächen eines Romans, der zu den stärksten Debüts des Jahres zählt: abenteuerlich und intelligent zugleich, fesselnd geschrieben und in den Grundmotiven sorgfältig durchgearbeitet. Eines dieser Motive ist der Gegensatz von Vergessen und Erinnern. Kambodscha ist eine Metapher dafür: ein Land, in dem unter der bauernsozialistischen Diktatur Pol Pots Entsetzliches geschehen ist, von dem die Nachgeborenen oft nur noch wenig wissen. Und irgendwo dort gibt es eine Insel, auf der die Einheimischen einen mysteriösen Trank brauen, der auf Gedächtnisinhalte wie die Löschtaste am Computer wirkt. Dort treffen sich Felix und der Erzähler zum Showdown ihrer Freundschaft wieder.
WOLFGANG SCHNEIDER
Friedemann Karig:
"Dschungel". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 384 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der finale Reiseführer zum Ich." BR 20190618
Wir sind nur eines der Lichter, die wir am Ende ausmachen
Die männliche Pubertät als Endlosschleife: Friedemann Karigs Debütroman „Dschungel“
In Deutschland sei alles leichter, sagt ein kambodschanischer Junge während einer nächtlichen Bootsfahrt in gebrochenem Englisch: „Not so much problems.“ Der Junge lacht, „als schämte er sich für diese Meinung“. Auch der Passagier aus Deutschland, der ja immerhin „mitten in der Nacht ein Boot gechartert“ hat, „um auf eine einsame Insel zu fahren“, ist sich nicht sicher, ob der Junge recht hat. Vielleicht sind deutsche Probleme ja mindestens genauso schlimm wie kambodschanische.
Schließlich, so kann man als Leser von Friedemann Karigs Romandebüt „Dschungel“ mitdenken, gibt es kein objektives Maß für die Schwere von Leidensdruck, nur die subjektive Empfindung. Und dass der Erzähler seine Probleme für gewichtig hält, daran besteht kein Zweifel.
Karig, im Tagesjob Journalist, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, erzählt von der Suche des namenlos bleibenden Erzählers nach seinem Jugendfreund Felix. Der scheint bei einer Tour nach Kambodscha spurlos verschwunden zu sein. Felix’ Mutter, eine zugleich unangenehm dominante und weinerlich-selbstgerechte Frau, überrumpelt ihn. Sie drückt ihm ein Flugticket in die Hand und schickt ihn mit dem Auftrag nach Südostasien, ihren Sohn zu finden. Es handelt sich um eine Reise, die auf emotionaler Erpressung und einem vagen Schuldgefühl des Erzählers beruht.
Eine durchaus solide Prämisse, zumal in einem Land, das Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen war, sich derzeit aber rapide zum Ziel junger Backpacker entwickelt. Die Fahndung nach Felix gibt Gelegenheit zu einem individualtouristischen Trip durch Hostels und Märkte, Polizeistationen und schließlich auch den titelgebenden Dschungel. Die zähen Nachforschungen alternieren mit Erinnerungen an eine Neunzigerjahre-Jugend in Süddeutschland. Hier entsteht zunehmend das Bild einer ziemlich ungesunden Dynamik zwischen dem Erzähler – einem Beta-Männchen, wie es im Buche steht – und dem im Laufe der Erzählung immer unsympathischer werdenden Felix.
Die Beteuerungen, man könne diesem mit suizidalen Posen kokettierenden Egozentriker „einfach nicht böse sein“, wenn er seine Freundin bei einer Schultheateraufführung auf offener Bühne bloßstellt oder den Freund nach einem etwas peinlichen Alkoholzwischenfall tagelang einfach links liegen lässt, überzeugen nicht so recht. Auch das Schuldgefühl, das den Erzähler antreibt, Felix aufzuspüren, wird nie durch das gerechtfertigt, was zwischen den beiden vorfällt. Die Freundschaft, die ihn mit Felix verbindet, ähnelt streckenweise freiwilligem Vasallentum. Die Rückblenden sind Tableaus einer bundesrepublikanischen Mittelschichtjugend, irgendwo zwischen Max von der Grüns „Vorstadtkrokodilen“ und Stephen Kings „Die Leiche“ angesiedelt, inklusive idiotischen Kämpfen mit einer wohlmeinenden Französischlehrerin und zart knospender erster Verliebtheit. Angereichert ist das mit zahlreichen popkulturellen Zitaten aus Walt Disney’s „Dschungelbuch“, den „Simpsons“ oder Radiohead-Lyrics.
Die permapubertäre Weltwahrnehmung, die sich beide Knaben auch später wie einen Schatz bewahren werden, unterminiert die implizite Behauptung des Romans, er führe ernsthafte Lebenskrisen vor. Nicht jeder Leser jedenfalls dürfte so leicht zu beeindrucken sein wie der Erzähler, der bewundernd Felix’ Teenager-Allegorie über die Endlichkeit des Seins lauscht: „Irgendwann, ganz am Ende, macht man zum letzten Mal das Licht aus. Und stirbt. Dann ist man nur eins dieser Lichter, die man ausgemacht hat. Einfach weg. Wie nie da gewesen.“
Elegant löst Karig in den kambodschanischen Szenen die Herausforderung, welche die Existenz des Smartphones an eine Geschichte stellt, in der es um früher schier unüberbrückbare geografische Distanzen geht. Potenzieller Fluch jeder zeitgenössischen Abnabelungserzählung, spielt es einerseits als Spur auf dem tastenden Weg zu Felix eine tragende Rolle, andererseits wird es zur Waffe gegen die Daheimgebliebenen – Felix’ nervende Mutter, den erstaunlich geduldigen Arbeitgeber, die bedauernswerte Freundin des Erzählers. Durch selektive Kommunikation (und Kommunikationsverweigerung) hält er sie alle auf Distanz, nicht nur räumlich.
Die Landesbeschreibungen haben derweil streckenweise etwas von einem Condé-Nast-Traveller-Essay: Die Menschen „lächeln unablässig“, „schwarzer, blauer, roter Müll“ am Straßenrand, der so bunt leuchtet, dass er „fast fröhlich“ aussieht.
Das wäre für sich genommen durchaus in Ordnung. Allerdings stehen diese Passagen wie Versatzstücke zwischen den bedeutungsschwangeren Reminiszenzen und Reflexionen, in denen der Erzähler sich ergeht. Unterschiedlich überzeugend sind auch die Interaktionen auf dem Weg zum flüchtigen Ziel namens Felix. Da sind flirtende spanische Abenteuerreisende und ein nervöser Drogenhändler, ein jovialer Hostel-Animator und ein berauschter Taxifahrer im Piratenlook, zwei Computerhacker-Aussteiger, die auf ihren Laptops herumtippen, und eine Frau, die sowohl als sexuelle Verlockung als auch als Katalysatorin seiner Gralssuche dient. So richtig warm wird der Erzähler mit keinem von ihnen, dafür ist er zu besessen – von Felix, vor allem aber von sich selbst.
Dass sich diese Einzelszenen dennoch flüssig weglesen, ist dem gekonnten Einsatz von Cliffhangern geschuldet, die immer dann in die Jugend nach Deutschland zurückschwenken, wenn es in Kambodscha spannend zu werden verspricht. Karigs Vergleiche und Metaphern aber wirken oft gesucht: Gewürze riechen „wie Lexikoneinträge ihrer selbst“, der Hals des Erzählers ist „eine Wüste“, „vom Klimawandel meines Lebens ausgedörrt“, Pupillen weiten und verengen sich „wie die Kiemen eines Fisches an Land“. Zudem ist der innere Monolog des Erzählers so dicht durchsetzt von vermeintlich richtungsweisenden Aha-Erlebnissen („Und in diesem Moment verstand ich, dass der rosa Zettel völlig egal war.“), dass sich ihr Effekt rasch abnutzt.
Eine kambodschanische Herbergsbetreiberin beschreibt als Problem des Massentourismus, dass „alle das Gleiche machen, das Gleiche sehen und deshalb auch das Gleiche erzählen“. Das ist zugleich auch ein Problem der Literatur: Die Wohlstandsnivellierung erschwert Originalität. Selbst die Ereignisse in der Hippiekommune, in der Karigs Erzähler zwischendurch landet, wirken wie eine schaumgebremste Version von Alex Garlands „Der Strand“.
Der angebliche Ernst der Probleme aber, die der Erzähler und sein absenter Freund Felix mit sich herumschleppen, erweist sich letztlich vor allem als Gradmesser ihres Unwillens, erwachsen zu werden. Die Rebellion gegen Eltern und Schule, die Flucht in die grüne Ferne und die beachtliche Egomanie, die sich als Opferbereitschaft tarnt, sind Vermeidungsstrategien zweier konsequent Unreifer. Es bleibt der Eindruck, dass hier Menschen weglaufen, weil es daheim irgendwie zu anstrengend wurde. Eine Reise ins Herz der Finsternis ist das nicht gerade.
ALEXANDER MENDEN
Kambodscha, einst Schauplatz
von Kriegsverbrechen, entwickelt
sich zum Ziel junger Backpacker
Was bedeutet es, wenn
Gewürze riechen „wie
Lexikoneinträge ihrer selbst“?
Journalist, Moderator, Schriftsteller: Friedemann Karig.
Foto: Paul Ripke
Friedemann Karig: Dschungel. Roman. Ullstein
Verlag, Berlin 2019.
384 Seiten, 22 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die männliche Pubertät als Endlosschleife: Friedemann Karigs Debütroman „Dschungel“
In Deutschland sei alles leichter, sagt ein kambodschanischer Junge während einer nächtlichen Bootsfahrt in gebrochenem Englisch: „Not so much problems.“ Der Junge lacht, „als schämte er sich für diese Meinung“. Auch der Passagier aus Deutschland, der ja immerhin „mitten in der Nacht ein Boot gechartert“ hat, „um auf eine einsame Insel zu fahren“, ist sich nicht sicher, ob der Junge recht hat. Vielleicht sind deutsche Probleme ja mindestens genauso schlimm wie kambodschanische.
Schließlich, so kann man als Leser von Friedemann Karigs Romandebüt „Dschungel“ mitdenken, gibt es kein objektives Maß für die Schwere von Leidensdruck, nur die subjektive Empfindung. Und dass der Erzähler seine Probleme für gewichtig hält, daran besteht kein Zweifel.
Karig, im Tagesjob Journalist, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, erzählt von der Suche des namenlos bleibenden Erzählers nach seinem Jugendfreund Felix. Der scheint bei einer Tour nach Kambodscha spurlos verschwunden zu sein. Felix’ Mutter, eine zugleich unangenehm dominante und weinerlich-selbstgerechte Frau, überrumpelt ihn. Sie drückt ihm ein Flugticket in die Hand und schickt ihn mit dem Auftrag nach Südostasien, ihren Sohn zu finden. Es handelt sich um eine Reise, die auf emotionaler Erpressung und einem vagen Schuldgefühl des Erzählers beruht.
Eine durchaus solide Prämisse, zumal in einem Land, das Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen war, sich derzeit aber rapide zum Ziel junger Backpacker entwickelt. Die Fahndung nach Felix gibt Gelegenheit zu einem individualtouristischen Trip durch Hostels und Märkte, Polizeistationen und schließlich auch den titelgebenden Dschungel. Die zähen Nachforschungen alternieren mit Erinnerungen an eine Neunzigerjahre-Jugend in Süddeutschland. Hier entsteht zunehmend das Bild einer ziemlich ungesunden Dynamik zwischen dem Erzähler – einem Beta-Männchen, wie es im Buche steht – und dem im Laufe der Erzählung immer unsympathischer werdenden Felix.
Die Beteuerungen, man könne diesem mit suizidalen Posen kokettierenden Egozentriker „einfach nicht böse sein“, wenn er seine Freundin bei einer Schultheateraufführung auf offener Bühne bloßstellt oder den Freund nach einem etwas peinlichen Alkoholzwischenfall tagelang einfach links liegen lässt, überzeugen nicht so recht. Auch das Schuldgefühl, das den Erzähler antreibt, Felix aufzuspüren, wird nie durch das gerechtfertigt, was zwischen den beiden vorfällt. Die Freundschaft, die ihn mit Felix verbindet, ähnelt streckenweise freiwilligem Vasallentum. Die Rückblenden sind Tableaus einer bundesrepublikanischen Mittelschichtjugend, irgendwo zwischen Max von der Grüns „Vorstadtkrokodilen“ und Stephen Kings „Die Leiche“ angesiedelt, inklusive idiotischen Kämpfen mit einer wohlmeinenden Französischlehrerin und zart knospender erster Verliebtheit. Angereichert ist das mit zahlreichen popkulturellen Zitaten aus Walt Disney’s „Dschungelbuch“, den „Simpsons“ oder Radiohead-Lyrics.
Die permapubertäre Weltwahrnehmung, die sich beide Knaben auch später wie einen Schatz bewahren werden, unterminiert die implizite Behauptung des Romans, er führe ernsthafte Lebenskrisen vor. Nicht jeder Leser jedenfalls dürfte so leicht zu beeindrucken sein wie der Erzähler, der bewundernd Felix’ Teenager-Allegorie über die Endlichkeit des Seins lauscht: „Irgendwann, ganz am Ende, macht man zum letzten Mal das Licht aus. Und stirbt. Dann ist man nur eins dieser Lichter, die man ausgemacht hat. Einfach weg. Wie nie da gewesen.“
Elegant löst Karig in den kambodschanischen Szenen die Herausforderung, welche die Existenz des Smartphones an eine Geschichte stellt, in der es um früher schier unüberbrückbare geografische Distanzen geht. Potenzieller Fluch jeder zeitgenössischen Abnabelungserzählung, spielt es einerseits als Spur auf dem tastenden Weg zu Felix eine tragende Rolle, andererseits wird es zur Waffe gegen die Daheimgebliebenen – Felix’ nervende Mutter, den erstaunlich geduldigen Arbeitgeber, die bedauernswerte Freundin des Erzählers. Durch selektive Kommunikation (und Kommunikationsverweigerung) hält er sie alle auf Distanz, nicht nur räumlich.
Die Landesbeschreibungen haben derweil streckenweise etwas von einem Condé-Nast-Traveller-Essay: Die Menschen „lächeln unablässig“, „schwarzer, blauer, roter Müll“ am Straßenrand, der so bunt leuchtet, dass er „fast fröhlich“ aussieht.
Das wäre für sich genommen durchaus in Ordnung. Allerdings stehen diese Passagen wie Versatzstücke zwischen den bedeutungsschwangeren Reminiszenzen und Reflexionen, in denen der Erzähler sich ergeht. Unterschiedlich überzeugend sind auch die Interaktionen auf dem Weg zum flüchtigen Ziel namens Felix. Da sind flirtende spanische Abenteuerreisende und ein nervöser Drogenhändler, ein jovialer Hostel-Animator und ein berauschter Taxifahrer im Piratenlook, zwei Computerhacker-Aussteiger, die auf ihren Laptops herumtippen, und eine Frau, die sowohl als sexuelle Verlockung als auch als Katalysatorin seiner Gralssuche dient. So richtig warm wird der Erzähler mit keinem von ihnen, dafür ist er zu besessen – von Felix, vor allem aber von sich selbst.
Dass sich diese Einzelszenen dennoch flüssig weglesen, ist dem gekonnten Einsatz von Cliffhangern geschuldet, die immer dann in die Jugend nach Deutschland zurückschwenken, wenn es in Kambodscha spannend zu werden verspricht. Karigs Vergleiche und Metaphern aber wirken oft gesucht: Gewürze riechen „wie Lexikoneinträge ihrer selbst“, der Hals des Erzählers ist „eine Wüste“, „vom Klimawandel meines Lebens ausgedörrt“, Pupillen weiten und verengen sich „wie die Kiemen eines Fisches an Land“. Zudem ist der innere Monolog des Erzählers so dicht durchsetzt von vermeintlich richtungsweisenden Aha-Erlebnissen („Und in diesem Moment verstand ich, dass der rosa Zettel völlig egal war.“), dass sich ihr Effekt rasch abnutzt.
Eine kambodschanische Herbergsbetreiberin beschreibt als Problem des Massentourismus, dass „alle das Gleiche machen, das Gleiche sehen und deshalb auch das Gleiche erzählen“. Das ist zugleich auch ein Problem der Literatur: Die Wohlstandsnivellierung erschwert Originalität. Selbst die Ereignisse in der Hippiekommune, in der Karigs Erzähler zwischendurch landet, wirken wie eine schaumgebremste Version von Alex Garlands „Der Strand“.
Der angebliche Ernst der Probleme aber, die der Erzähler und sein absenter Freund Felix mit sich herumschleppen, erweist sich letztlich vor allem als Gradmesser ihres Unwillens, erwachsen zu werden. Die Rebellion gegen Eltern und Schule, die Flucht in die grüne Ferne und die beachtliche Egomanie, die sich als Opferbereitschaft tarnt, sind Vermeidungsstrategien zweier konsequent Unreifer. Es bleibt der Eindruck, dass hier Menschen weglaufen, weil es daheim irgendwie zu anstrengend wurde. Eine Reise ins Herz der Finsternis ist das nicht gerade.
ALEXANDER MENDEN
Kambodscha, einst Schauplatz
von Kriegsverbrechen, entwickelt
sich zum Ziel junger Backpacker
Was bedeutet es, wenn
Gewürze riechen „wie
Lexikoneinträge ihrer selbst“?
Journalist, Moderator, Schriftsteller: Friedemann Karig.
Foto: Paul Ripke
Friedemann Karig: Dschungel. Roman. Ullstein
Verlag, Berlin 2019.
384 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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