Matthea Harvey gehört mindestens seit ihrem dritten Gedichtband 'Modern Life' (Graywolf 2008) zu den wichtigsten Vertretern der jungen US-amerikanischen Lyrik. 'Modern Life', nominiert für den National Book Critics Circle Award 2008, ausgewählt als New York Times Notable Book und ausgezeichnet mit dem hochdotierten Kingsley Tufts Poetry Award, versammelt Prosagedichte und lyrische Kurzzeiler, die 'zu den atemberaubendsten Gedichten gehören, die über das derzeitige politische Klima Amerikas geschriebenworden sind', wie David Orr in der New York Times urteilte. 'Modern Life' ist ein post-katastrophisches Kompendium, das Zentauren, Hybride, Roboter, Soldaten, Zivilisten in einem ebenso bezaubernden wie verwunschenen Reigen versammelt - als halbierte, zersplitterte, verlorene Subjekte, die den Leser mit den Entscheidungen des postmodernen Menschen und deren Folgen konfrontieren.Und doch gelingt es Matthea Harvey, diese verstörende Rasanz und Brisanz unseres Lebens in eine besondere, geradezu vergnügliche Sprache zu übersetzen. Insbesondere im Prosagedicht verbindet sie Musikalität und bezwingenden Sprachwitz zu kleinen, narrativen Einheiten von großer lyrischer, zum Teil surrealer Dichte. Da werden Tiere halbiert und zu 'Katzenziegen' zusammengefügt, ein Ich leugnet die Erschaffung der 'Wurstblumen', deren Erfinder es doch ist - eine außer Rand und Band gerateneWelt, in der die Errungenschaften der Technik durchschimmern in bizarren Experimenten, in der Zerstörungund Schöpfung unheimliche Synonyme geworden sind: 'Wir halbierten sie, weil es möglich war.''Harvey haftet fast etwas Marsianisches an', schrieb die Chicago Tribune. 'Ihre Brüche, Verdrehungen und Bizarrerien sind das Resultat von Erkundungstouren in die Fremdartigkeit unserer Empfindungen an sich.' In den beunruhigenden Gedichtzyklen The Future of Terror und Terror of the Future wird deutlich, dass dieses 'Marsianische' zugleich eine Position des Politischen ist. Die alphabetisch angelegten Gedichte(jedes folgt einer Wortliste von F bis T bzw. T bis F) entfalten Szenarien, die tief von den Ritualen der Angst und der Hoffnungslosigkeit im Amerika nach 9/11 geprägt sind - wahrgenommen durch ein surreales, poetischesPrisma, das diese Rituale geschickt zu hinterfragen weiß, die abstrakten, lähmenden Begriffe 'future' und'terror' in elektrifizierende, irritierende Bilder überträgt und uns 'post 9/11' auf eine noch nie gesehene Weise nahebringt.Mit dem Band 'Du kennst das aus', der neben den Gedichten aus 'Modern Life' auch eine Auswahl aus Matthea Harveys früherem Gedichtband 'Sad Little Breathing Machine' enthält, können deutsche Leser erstmals durch Harveys Prisma schauen - nicht nur auf Amerika, vielmehr auf die eigene Gegenwart und auf die Möglichkeiten von Gedichten, als hellsichtige Hybride diese Gegenwart politisch bewusst und poetisch innovativ zu durchleuchten.Uljana Wolf
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine ZeitungAlphabetisierter Terror
In ihren Gedichten versucht Matthea Harvey, das Trauma des 11. September in Worte zu fassen. Sie sind ein poetisches Wagnis wider die Unsagbarkeit.
Wie sieht die Zukunft des Terrors aus, und ist sie unser aller Ende? Jeden Morgen, schreibt Matthea Harvey, habe sie nach dem 11. September von "future of terror" im Radio gehört. Sie nennt diese Formulierung einen "amorphen Schirm der Furcht", der sie immer in lähmender Angst hinterließ. So entstand das existentielle Bedürfnis, die vage Phrase in etwas Greifbares zu verwandeln.
In einem poetologischen Essay schildert die in Brooklyn lebende Lyrikerin, wie sie die Definitionen von "future" und "terror" im Wörterbuch nachschlug und daraufhin eine Liste aller Wörter anlegte, die zwischen den beiden Begriffen auf Höhe von "future" stehen. Erst die Orientierung an lexikalischen Wortlisten ermöglichte Harvey, Worte zu finden für das Unfassbare. Und erst durch eine Formvorgabe entstanden Verse: Die Initialen F und T markieren die alphabetische Grenze, innerhalb deren elf Gedichte unter dem Titel "The Future Of Terror" verfasst sind. Es sind freie Formen von Abecedarien, Gedichten, in denen alle Anfangsbuchstaben dem Alphabet folgen. Sie kombinieren die alphabetische Vorgabe mit der Freiheit beliebiger Wortwahl und verbinden die Nähe zum Gebet mit dem Hang zum Wortwitz.
Dem entspricht die inhaltliche Verbindung von Spiel und Bedrohung. Zwischen "Future" und "Terror" liegt der verminte Raum des Widerspruchs. Harvey entwirft ihn als apokalyptisches Zukunftsszenario, in dem Soldaten und Zivilisten nach Halt suchen: "Wir hatten die hässlichen Nachrichten satt. / Es half, wenn wir die Hörgeräte runterdrehten. / Wir alle konnten bereits ideale Imitationen / des Idioten liefern, wie seine Zähne auf einem Steak / insistierten, als er sagte Invasion hat was Intimes. / So viel stimmte ja. Wenn wir die Jause / jäh überhatten, konnten wir im Kräutergarten / immer noch mit den Gefangenen spielen. / Ein Kessel Buntes, Blinde Kuh und Kopf- / schlagen waren unsere Hits."
Mit großer Leichtigkeit spielt Harvey Gefährdung gegen Albernheit aus, tauscht Trauer und Heiterkeit: "Der Leutnant meinte, die Ungeliebten / seien die besseren Lagerwachen, meist aber lasen sie / nur Magazine, die sie in ihren Mänteln horteten, / und kamen zurück mit nutzlosen Berichten über / die Mikrowelten der Meisen." Doch zwischen der sprunghaften Sprache bleibt der tiefe Graben der Traumatisierung spürbar. Das lyrische Wir ist lediglich heimisch geworden in der Gefahr: "Nachts / in schusssicheren Schlafwagen träumten wir, / dass spitze Stäbe Wunden schlugen, sowie von / anderen Arten, den Deckel vom Terrarium zu hebeln."
Die poetische Erwiderung auf "The Future Of Terror" bildet ein zweiter Zyklus, "Terror Of The Future", in dem Harvey dem Alphabet von hinten nach vorne folgt. Die "Decebarien", wie sie die inverse Form des Abecedars selbst tauft, stemmen der in die Ödnis gedachten Zukunft in weiteren elf Gedichten eine vergebliche Zwischenmenschlichkeit entgegen. Das Wir weicht einem lyrischen Ich, das in Dialog tritt: "Als du auftauchtest, / wusste ich, dass ich gegen die Zeit spielte, / bis dich die Sanitäter forttragen würden." Eine ergreifende Liebesfähigkeit führt zu so poetischen Bildern wie "Schwalben waren Untertitel für die / Wolken" und muss in stiller Drastik enden: "Zu Omas Zeiten / wäre jetzt der Moment für den letzten Tanz gekommen. / Stattdessen fütterte ich dich mit Narkotika, / kürzte deine Nägel."
Die beiden Zyklen "The Future Of Terror" und "Terror Of The Future" erschienen 2007 in Harveys drittem Gedichtband "Modern Life" und liegen nun in der deutschen Übersetzung von Uljana Wolf unter dem Titel "Du kennst das auch" vor. In der Unsicherheit um "Nine Eleven" als ästhetische Tabuzone hat sich die Lyrik vor allem mit patriotischem Pathos oder Etüden hervorgetan, die sich im Ringen um Worte selbst in Frage stellen. Dagegen sind Harveys Gedichte ein poetisches Wagnis wider die Unsagbarkeit. Es sind hochpolitische Gedichte entstanden, in denen "Gott" neben "Geronimo" und "Ölvorrat" vor "Stacheldraht" steht. Harvey ist eine hellsichtige Autorin, die einen entwaffnenden Blick auf Amerika wirft: "Ich sah ein Handtuch am Nagel hängen / und stahl es ohne einen Hauch von Ironie. / Hier ist meine Hypothese: Wir waren irreversibel / im Arsch."
NADJA WÜNSCHE
Matthea Harvey: "Du kennst das auch". Gedichte.
Aus dem Englischen von Uljana Wolf. Zweisprachige Ausgabe. Kookbooks, Idstein 2010. 188 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihren Gedichten versucht Matthea Harvey, das Trauma des 11. September in Worte zu fassen. Sie sind ein poetisches Wagnis wider die Unsagbarkeit.
Wie sieht die Zukunft des Terrors aus, und ist sie unser aller Ende? Jeden Morgen, schreibt Matthea Harvey, habe sie nach dem 11. September von "future of terror" im Radio gehört. Sie nennt diese Formulierung einen "amorphen Schirm der Furcht", der sie immer in lähmender Angst hinterließ. So entstand das existentielle Bedürfnis, die vage Phrase in etwas Greifbares zu verwandeln.
In einem poetologischen Essay schildert die in Brooklyn lebende Lyrikerin, wie sie die Definitionen von "future" und "terror" im Wörterbuch nachschlug und daraufhin eine Liste aller Wörter anlegte, die zwischen den beiden Begriffen auf Höhe von "future" stehen. Erst die Orientierung an lexikalischen Wortlisten ermöglichte Harvey, Worte zu finden für das Unfassbare. Und erst durch eine Formvorgabe entstanden Verse: Die Initialen F und T markieren die alphabetische Grenze, innerhalb deren elf Gedichte unter dem Titel "The Future Of Terror" verfasst sind. Es sind freie Formen von Abecedarien, Gedichten, in denen alle Anfangsbuchstaben dem Alphabet folgen. Sie kombinieren die alphabetische Vorgabe mit der Freiheit beliebiger Wortwahl und verbinden die Nähe zum Gebet mit dem Hang zum Wortwitz.
Dem entspricht die inhaltliche Verbindung von Spiel und Bedrohung. Zwischen "Future" und "Terror" liegt der verminte Raum des Widerspruchs. Harvey entwirft ihn als apokalyptisches Zukunftsszenario, in dem Soldaten und Zivilisten nach Halt suchen: "Wir hatten die hässlichen Nachrichten satt. / Es half, wenn wir die Hörgeräte runterdrehten. / Wir alle konnten bereits ideale Imitationen / des Idioten liefern, wie seine Zähne auf einem Steak / insistierten, als er sagte Invasion hat was Intimes. / So viel stimmte ja. Wenn wir die Jause / jäh überhatten, konnten wir im Kräutergarten / immer noch mit den Gefangenen spielen. / Ein Kessel Buntes, Blinde Kuh und Kopf- / schlagen waren unsere Hits."
Mit großer Leichtigkeit spielt Harvey Gefährdung gegen Albernheit aus, tauscht Trauer und Heiterkeit: "Der Leutnant meinte, die Ungeliebten / seien die besseren Lagerwachen, meist aber lasen sie / nur Magazine, die sie in ihren Mänteln horteten, / und kamen zurück mit nutzlosen Berichten über / die Mikrowelten der Meisen." Doch zwischen der sprunghaften Sprache bleibt der tiefe Graben der Traumatisierung spürbar. Das lyrische Wir ist lediglich heimisch geworden in der Gefahr: "Nachts / in schusssicheren Schlafwagen träumten wir, / dass spitze Stäbe Wunden schlugen, sowie von / anderen Arten, den Deckel vom Terrarium zu hebeln."
Die poetische Erwiderung auf "The Future Of Terror" bildet ein zweiter Zyklus, "Terror Of The Future", in dem Harvey dem Alphabet von hinten nach vorne folgt. Die "Decebarien", wie sie die inverse Form des Abecedars selbst tauft, stemmen der in die Ödnis gedachten Zukunft in weiteren elf Gedichten eine vergebliche Zwischenmenschlichkeit entgegen. Das Wir weicht einem lyrischen Ich, das in Dialog tritt: "Als du auftauchtest, / wusste ich, dass ich gegen die Zeit spielte, / bis dich die Sanitäter forttragen würden." Eine ergreifende Liebesfähigkeit führt zu so poetischen Bildern wie "Schwalben waren Untertitel für die / Wolken" und muss in stiller Drastik enden: "Zu Omas Zeiten / wäre jetzt der Moment für den letzten Tanz gekommen. / Stattdessen fütterte ich dich mit Narkotika, / kürzte deine Nägel."
Die beiden Zyklen "The Future Of Terror" und "Terror Of The Future" erschienen 2007 in Harveys drittem Gedichtband "Modern Life" und liegen nun in der deutschen Übersetzung von Uljana Wolf unter dem Titel "Du kennst das auch" vor. In der Unsicherheit um "Nine Eleven" als ästhetische Tabuzone hat sich die Lyrik vor allem mit patriotischem Pathos oder Etüden hervorgetan, die sich im Ringen um Worte selbst in Frage stellen. Dagegen sind Harveys Gedichte ein poetisches Wagnis wider die Unsagbarkeit. Es sind hochpolitische Gedichte entstanden, in denen "Gott" neben "Geronimo" und "Ölvorrat" vor "Stacheldraht" steht. Harvey ist eine hellsichtige Autorin, die einen entwaffnenden Blick auf Amerika wirft: "Ich sah ein Handtuch am Nagel hängen / und stahl es ohne einen Hauch von Ironie. / Hier ist meine Hypothese: Wir waren irreversibel / im Arsch."
NADJA WÜNSCHE
Matthea Harvey: "Du kennst das auch". Gedichte.
Aus dem Englischen von Uljana Wolf. Zweisprachige Ausgabe. Kookbooks, Idstein 2010. 188 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nadja Wünsche schätzt die Hellsicht der Autorin im Umgang mit einem heiklen Thema. Den Terror nach 9/11 in Worte zu fassen hält Wünsche für schwer genug. Umso respektabler, wenn sie in den Versen von Matthea Harvey auch entwaffnende, hochpolitische Blicke erkennt, die zwischen Gebet und Wortwitz die Apokalypse vermessen. Trauer und Heiterkeit wechseln sich in den Gedichten zwar ab, doch Wünsche merkt genau, dass die lyrische Instanz sich bloß arrangiert mit der Gefahr. Harveys Orientierung an alphabetischen Parametern schätzt sie als formales Mittel ein, überhaupt ins Sagbare zu kommen. Die beiden in anderer Form bereits 2007 im Original erschienenen Zyklen, stellt Wünsche erleichtert fest, sind vom üblichen patriotischen Pathos beim Umgang mit diesem Thema weit entfernt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH