Inspektor Michael Ochajon gilt als Experte für rätselhafte Verbrechen. In seinem neuen Fall geht es um einen Giftanschlag im Kibbuz: Die schöne Osnat Harel ist mit einem Pflanzenschutzmittel vergiftet worden. Und das im Kibbuz, diesem friedlichen Kollektiv, wo jeder jeden kennt und jeder alles über jeden weiß! Als bekannt wird, daß Osnat ein Verhältnis mit einem Knesseth-Abgeordneten hatte, steht ihr Tod plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.1997Tau der Jugend
Batya Gur ermittelt im Kibbuz Von Burkhard Scherer
"Es ist nicht mehr so wie früher", sagt sich Aharon Meros beim Besuch des Kibbuz, den er als Vierundzwanzigjähriger vor gut zwei Jahrzehnten verließ, denn er sieht, daß der Wohlstand zugenommen hat. Aus Zimmern sind Einfamilienhäuschen geworden mit eigenem Telefon und Kabelanschluß. Es ist eine Debatte im Gange, ob die Kinder nicht bei den Eltern schlafen sollten statt wie bisher im Kinderhaus. Eine, die ihr Leben in diesem Kibbuz verbracht hat, die zweiundsiebzigjährige Dworka, betont hingegen eher die Kontinuität: "Der Kibbuz ist das letzte Bollwerk der Nichtentfremdung in der heutigen Welt, die voller Schrecken ist."
Der Kibbuz, um den es hier geht, steht gut da in der Kibbuz-Welt. Sind viele Kibbuzim hochverschuldet, so prosperiert dieser, dank des Erfolges von "Tau der Jugend", einer dort hergestellten Antifalten-creme auf Kakteenbasis. Und daß sich Michael Ochajon, Vizekommandant der Spezialeinheit für Schwerverbrechen, mit dieser egalitären Gemeinschaft beschäftigen muß, liegt lediglich daran, daß auf Seite 42 Srulke tot im Blumenbeet liegt und auf Seite 110 Osnat in der Krankenstation stirbt. Nun sind sogenannte natürliche Todesursachen nicht auszuschließen, schließlich war Srulke hochbetagt, und Osnat, die Sekretärin für innere Angelegenheiten des Kibbuz, hatte mit einer schweren Lungenentzündung zu kämpfen. Aber der Pathologe Dr. Kerschenbaum wird fündig und entdeckt in ihrem Körper Reste von Parathion, einem hochtoxischen Insektizid.
Der damit gegebene Kriminalfall ist in mehrfacher Hinsicht heikel: Einmal, weil der Parlamentsabgeordnete Aharon Meros darin verwickelt ist, der zwar über ein Alibi verfügt, aber einige Zeit vor Osnats Tod eine intime Beziehung mit ihr begann. Zweitens, weil dieser Mord in einem Kibbuz recht singulär dasteht, denn die Kibbuz-Mitglieder, die Chawerim, würden ihre Aggressionen grundsätzlich gegen sich selbst und praktisch nie gegen andere wenden, wie der Polizeipsychologe weiß, drittens ist weit und breit kein Motiv zu sehen, und viertens erweisen sich die Ermittlungen als zäh, weil das Beziehungsgeflecht von außen kaum ergründbar ist: "Es ist, als verhöre man eine Familie", klagt Ochajon, der, als sephardischer Jude aus Marokko, noch von einem anderen Handicap geplagt ist: "Von der Kibbuzbewegung habe ich keine Ahnung."
Er erkennt das als Defizit und arbeitet hart an dessen Beseitigung, mit dreifachem Erfolg: Wenn der Fall nachfünfhundert Seiten gelöst ist, weiß dergeduldig-einfühlsame Kettenraucher Ochajon sehr viel über dieses besondere Lebenskonzept. Es stellt sich heraus, daß solche Kenntnis für die Ermittlung förderlich ist. Außerdem erfährt der Leser von den Schwierigkeiten eines Projekts, das mit der Urbarmachung von Wüstenland, dem Bau von Bewässerungsanlagen und der Suche nach autarker Wirtschaft begann, in dem heute aber die industrielle Produktion dominiert. Das hat die bis in unsere Tage - Batya Gurs Buch erschien in Israel schon 1991 - andauernde Debatte zur Folge, inwieweit die alten Prinzipien von Egalität, Basisdemokratie, Gemeinschaftseigentum und kollektiver Kindererziehung noch weiterbestehen und wie die Beziehungen zur nichtegalitären Umwelt strukturiert sein sollen. In diesem Fall wurde diese Debatte mit Hilfe von Gift ausgetragen.
Kriminalfälle würden nur im Kino in anderthalb Stunden gelöst, erinnert Ochajons Chef seine Truppe, und Geduld braucht auch der Leser. Batya Gur beschreitet Neben- und Seitenwege, auf denen man bisweilen vergessen kann, daß ein Mordfall zu klären ist. Aber es sind keine willkürlichen Finten, die die Autorin hier plaziert, sondern zu ernten sind stimmige Bilder von Charakteren. Und da können etwa die ausschweifenden und von Michael Ochajon geduldig ertragenen Erzählungen des aus Ungarn stammenden Pathologen Dr. Kerschenbaum durchaus so erhellend sein wie der Fortgang der Fahndung. Bei der stellt sich zum Beispiel heraus, daß Jojo, der Kassenwart des Kibbuz, ein Motiv hatte, Osnat zu ermorden: Die allein wußte nämlich, daß er die Rezeptur für "Tau der Jugend" an eine Schweizer Firma verkauft hatte. Aber so einleuchtend wie sein Motiv ist auch sein Alibi. Michael Ochajon und seine Crew müssen also weitersuchen unter den 327 Chawerim, bis zu einem recht dramatischen Showdown.
Batya Gur, die vor rund zehn Jahren ihre Existenz als Lehrerin gegen die einer Bestsellerautorin tauschte und als Erfinderin des autochthonen israelischen Kriminalromans gilt, hat penibel recherchiert und arbeitet gründlich an ihrer Prosa, zwei Qualitäten, die auch in diesem Buch zum Vorschein kommen. Der deutsche Verlag hat das einerseits unterstützt durch die gut lesbare Übersetzung von Mirjam Pressler, andererseits ist er auch verantwortlich für den exemplarisch dusseligen, weil vom Text völlig losgelösten Titel. Wie gut hat es da die angelsächsische Welt mit dem in diesem Fall wirklich sehr schön schillernden "Sleeping together".
Batya Gur: "Du sollst nicht begehren". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Goldmann Verlag, München 1997. 506 S., geb., 44,80 DM.
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Batya Gur ermittelt im Kibbuz Von Burkhard Scherer
"Es ist nicht mehr so wie früher", sagt sich Aharon Meros beim Besuch des Kibbuz, den er als Vierundzwanzigjähriger vor gut zwei Jahrzehnten verließ, denn er sieht, daß der Wohlstand zugenommen hat. Aus Zimmern sind Einfamilienhäuschen geworden mit eigenem Telefon und Kabelanschluß. Es ist eine Debatte im Gange, ob die Kinder nicht bei den Eltern schlafen sollten statt wie bisher im Kinderhaus. Eine, die ihr Leben in diesem Kibbuz verbracht hat, die zweiundsiebzigjährige Dworka, betont hingegen eher die Kontinuität: "Der Kibbuz ist das letzte Bollwerk der Nichtentfremdung in der heutigen Welt, die voller Schrecken ist."
Der Kibbuz, um den es hier geht, steht gut da in der Kibbuz-Welt. Sind viele Kibbuzim hochverschuldet, so prosperiert dieser, dank des Erfolges von "Tau der Jugend", einer dort hergestellten Antifalten-creme auf Kakteenbasis. Und daß sich Michael Ochajon, Vizekommandant der Spezialeinheit für Schwerverbrechen, mit dieser egalitären Gemeinschaft beschäftigen muß, liegt lediglich daran, daß auf Seite 42 Srulke tot im Blumenbeet liegt und auf Seite 110 Osnat in der Krankenstation stirbt. Nun sind sogenannte natürliche Todesursachen nicht auszuschließen, schließlich war Srulke hochbetagt, und Osnat, die Sekretärin für innere Angelegenheiten des Kibbuz, hatte mit einer schweren Lungenentzündung zu kämpfen. Aber der Pathologe Dr. Kerschenbaum wird fündig und entdeckt in ihrem Körper Reste von Parathion, einem hochtoxischen Insektizid.
Der damit gegebene Kriminalfall ist in mehrfacher Hinsicht heikel: Einmal, weil der Parlamentsabgeordnete Aharon Meros darin verwickelt ist, der zwar über ein Alibi verfügt, aber einige Zeit vor Osnats Tod eine intime Beziehung mit ihr begann. Zweitens, weil dieser Mord in einem Kibbuz recht singulär dasteht, denn die Kibbuz-Mitglieder, die Chawerim, würden ihre Aggressionen grundsätzlich gegen sich selbst und praktisch nie gegen andere wenden, wie der Polizeipsychologe weiß, drittens ist weit und breit kein Motiv zu sehen, und viertens erweisen sich die Ermittlungen als zäh, weil das Beziehungsgeflecht von außen kaum ergründbar ist: "Es ist, als verhöre man eine Familie", klagt Ochajon, der, als sephardischer Jude aus Marokko, noch von einem anderen Handicap geplagt ist: "Von der Kibbuzbewegung habe ich keine Ahnung."
Er erkennt das als Defizit und arbeitet hart an dessen Beseitigung, mit dreifachem Erfolg: Wenn der Fall nachfünfhundert Seiten gelöst ist, weiß dergeduldig-einfühlsame Kettenraucher Ochajon sehr viel über dieses besondere Lebenskonzept. Es stellt sich heraus, daß solche Kenntnis für die Ermittlung förderlich ist. Außerdem erfährt der Leser von den Schwierigkeiten eines Projekts, das mit der Urbarmachung von Wüstenland, dem Bau von Bewässerungsanlagen und der Suche nach autarker Wirtschaft begann, in dem heute aber die industrielle Produktion dominiert. Das hat die bis in unsere Tage - Batya Gurs Buch erschien in Israel schon 1991 - andauernde Debatte zur Folge, inwieweit die alten Prinzipien von Egalität, Basisdemokratie, Gemeinschaftseigentum und kollektiver Kindererziehung noch weiterbestehen und wie die Beziehungen zur nichtegalitären Umwelt strukturiert sein sollen. In diesem Fall wurde diese Debatte mit Hilfe von Gift ausgetragen.
Kriminalfälle würden nur im Kino in anderthalb Stunden gelöst, erinnert Ochajons Chef seine Truppe, und Geduld braucht auch der Leser. Batya Gur beschreitet Neben- und Seitenwege, auf denen man bisweilen vergessen kann, daß ein Mordfall zu klären ist. Aber es sind keine willkürlichen Finten, die die Autorin hier plaziert, sondern zu ernten sind stimmige Bilder von Charakteren. Und da können etwa die ausschweifenden und von Michael Ochajon geduldig ertragenen Erzählungen des aus Ungarn stammenden Pathologen Dr. Kerschenbaum durchaus so erhellend sein wie der Fortgang der Fahndung. Bei der stellt sich zum Beispiel heraus, daß Jojo, der Kassenwart des Kibbuz, ein Motiv hatte, Osnat zu ermorden: Die allein wußte nämlich, daß er die Rezeptur für "Tau der Jugend" an eine Schweizer Firma verkauft hatte. Aber so einleuchtend wie sein Motiv ist auch sein Alibi. Michael Ochajon und seine Crew müssen also weitersuchen unter den 327 Chawerim, bis zu einem recht dramatischen Showdown.
Batya Gur, die vor rund zehn Jahren ihre Existenz als Lehrerin gegen die einer Bestsellerautorin tauschte und als Erfinderin des autochthonen israelischen Kriminalromans gilt, hat penibel recherchiert und arbeitet gründlich an ihrer Prosa, zwei Qualitäten, die auch in diesem Buch zum Vorschein kommen. Der deutsche Verlag hat das einerseits unterstützt durch die gut lesbare Übersetzung von Mirjam Pressler, andererseits ist er auch verantwortlich für den exemplarisch dusseligen, weil vom Text völlig losgelösten Titel. Wie gut hat es da die angelsächsische Welt mit dem in diesem Fall wirklich sehr schön schillernden "Sleeping together".
Batya Gur: "Du sollst nicht begehren". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Goldmann Verlag, München 1997. 506 S., geb., 44,80 DM.
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