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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Geheime Sprache einer verbotenen Liebe
Die Werke Marcel Duchamps / Von Herbert Molderings

Das OEuvre Marcel Duchamps ist in den aktuellen ästhetischen Debatten so präsent wie das Werk keines anderen Künstlers der Moderne. War sein Werk bis in die sechziger Jahre im wesentlichen ein Diskussionsgegenstand unter Künstlern gewesen, so begannen nach 1970 auch Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Kunsthistoriker sich dafür zu interessieren. Kein Jahr vergeht, ohne daß nicht eine neue Dissertation über Duchamp begonnen und nicht gleich mehrere Abhandlungen zu seinem Werk veröffentlicht würden. An der Sorbonne ist dem Vernehmen nach eine Zeitschrift in Vorbereitung, die nur Duchamp-Studien gewidmet sein soll. Wie erklärt sich das stetig zunehmende Interesse am Werk dieses Künstlers?

Die Postmoderne hat Duchamp als ihren Idealkünstler entdeckt. Zu den markantesten Zügen des postmodernen Denkens gehört die Kritik des Szientismus und Utopismus. Paul Feyerabends 1975 veröffentlichtes Plädoyer für einen heiteren Anarchismus als Heilmittel gegen die zum Totalitären neigenden Gesetz- und Ordnungskonzeptionen in den Wissenschaften bezieht sich zwar nicht ausdrücklich auf Duchamp, stimmt jedoch völlig mit dessen Auffassung überein, daß es letzten Endes zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien keinen prinzipiellen Unterschied gibt. Anders als Feyerabend hat Jean-François Lyotard direkt das "Modell Duchamp" seinen Überlegungen zu einer Ästhetik und Politik des Inkommensurablen zugrunde gelegt. Duchamps Werk galt ihm als Beweis für die These, daß Inkonsistenz, Nicht-Sinn und Ununterscheidbarkeit ebenso fruchtbare, ja, für die heutige Zeit wichtigere Kategorien des Denkens seien als Widerspruchsfreiheit, Konsequenz und Systematik.

Die Postmoderne bezeichnet das Ende einer Epoche, deren Denken von der Idee der Wahrheit und der Hoffnung auf einen großen Stil durchdrungen war. Alle ästhetischen Dogmen, die die Menschheit seit 1909 in Form von futuristischen, puristischen, konstruktivistischen, surrealistischen oder situationistischen Manifesten missionieren sollten, basierten auf dem Wahrheitsanspruch. Diesen haben die Künstler der Nach-Achtundsechziger-Generation abgelegt. An Stelle des künstlerisch-politischen Utopismus der klassischen Moderne praktizieren sie eine spielerische Skepsis und berufen sich dabei auf Duchamp. Keine Manifeste mehr, keine ästhetische Militanz, keine künstlerische Parteienbildung. Was in der Gegenwart zählt, ist allein das Individuum. Nicht soziale Relevanz, Sinn und Vollkommenheit bestimmen die ästhetische Qualität eines Kunstwerks, sondern allein dessen geistige Intensität und Unverwechselbarkeit. Im Vordergrund steht die Begegnung subjektiver, ganz und gar einzigartiger Erfahrungen. Der Künstler spricht für sich allein, für niemanden sonst, ebenso einzig und einsam ist die Reaktion des Betrachters. Einer derartigen Geisteshaltung hat kein anderer Künstler unseres Jahrhunderts so vorgearbeitet wie Marcel Duchamp.

Während seine Pariser Künstlerkollegen vor dem Ersten Weltkrieg noch gegen die normative Ästhetik der Akademiefürsten Sturm liefen, erkannte er bereits, daß die Avantgarde selbst alle Keime eines zukünftigen Akademismus in sich trug: Dogmatismus, Intoleranz und Unfreiheit. Ihre Protagonisten waren damals die eher zweitrangigen kubistischen Maler Albert Gleizes und Jean Metzinger, die ihre publizistischen Anstrengungen darauf richteten, den Kubismus zum "Stil des Jahrhunderts" zu machen. Weil ihnen Duchamps futuristisch und literarisch inspiriertes Gemälde "Akt, eine Treppe herabsteigend" nicht in den gruppenpolitischen Kram paßte, intrigierten sie so lange, bis Duchamp das Gemälde aus der offiziell juryfreien Ausstellung der Société des artistes indépendants im Jahr 1912 zurückzog. Das durch dieses Ereignis geweckte Bewußtsein, daß die Avantgarde dabei war, die Ikonographie aufzugeben, jede Verbindung zur Literatur und Philosophie ihrer Zeit zu kappen, und der Zweifel an der Tragfähigkeit der Konzeption einer Malerei um der Malerei willen waren für seine weitere Entwicklung entscheidend.

Duchamp zog sich nach diesem Zwischenfall mehr und mehr aus dem Kunstmilieu zurück. 1913 nahm er eine Stelle als Bibliotheksgehilfe an, um nicht mehr ausstellen und vom Verkauf seiner Kunst leben zu müssen. Was er fortan machte, tat er im Geheimen. Duchamp war, wie Apollinaire damals in einem Zeitungsartikel erstaunt vermerkte, von der künstlerischen Bühne in Paris gänzlich verschwunden. Niemand wußte, woran er arbeitete, niemandem zeigte er die Ergebnisse seiner Experimente: graphische Konstruktionen auf Glas, drei neue Längennormale aus Bindfäden auf Leinwand fixiert ("3 Stoppages Étalon"), ein Fahrrad-Rad, mit der Gabel kopfüber auf einen Schemel montiert, einen Flaschentrockner, der, statt leere Weinflaschen zu tragen, in Duchamps Atelier seine bizarre geometrische Raumstruktur zur Schau trug.

Duchamp hatte sich damals so weit vom Terrain der Kunst zurückgezogen, wie es möglich war, ohne es zu verlassen. Was ihn in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte, waren neuartige wissenschaftliche Ideen, die die gesamten Grundvorstellungen, auf denen die Kunst seit Jahrhunderten basiert hatten, in Frage stellten. Es waren das in erster Linie die Thesen der Nichteuklidischen und der n-dimensionalen Geometrie, die die Möglichkeit der Existenz eines anderen, komplexen Raums behaupteten, der mit der Euklidischen Geometrie als der zeichnerischen Grundlage aller bisherigen Raumdarstellung in der Malerei nicht mehr zu erfassen war.

Zugleich war er tief beeindruckt von den philosophischen Gedanken seines Landsmannes Henri Poincaré, eines der international angesehensten Mathematiker und theoretischen Physiker der Jahrhundertwende, die wie dafür gemacht waren, das naturwissenschaftliche Weltbild von innen heraus auszuhebeln. In den Abhandlungen "Wissenschaft und Hypothese" (1902) - ein Buch, das auch Albert Einstein fasziniert hat - und "Der Wert der Wissenschaft" (1905) hatte Poincaré eine Spielart des Neopositivismus entwickelt, die unter dem Namen "Konventionalismus" in die Geschichte der Wissenschaftstheorie eingegangen ist. Ihre Kernthese lautete, daß sowohl die Axiome, mit denen die Naturwissenschaftler operierten, als auch die sogenannten Naturgesetze nichts als Übereinkünfte seien, willkürliche Festsetzungen, die sich der Mensch "der Bequemlichkeit halber" geschaffen habe.

Duchamp zog aus der Lektüre der Schriften Poincarés den Schluß eines radikalen Skeptizismus. Wenn die höchste Autorität seiner Zeit in Sachen wissenschaftlichem Weltbild derart die Objektivität der Naturgesetze und die Möglichkeit objektiver Erkenntnis in Zweifel zog, wie sollten dann Begriffe wie Wahrheit, Wissenschaft, Vernunft, Urteil, Fortschritt überhaupt noch Bestand haben? Galt es nicht, der "konventionalistischen" Wissenschaftstheorie Poincarés eine ebenso "konventionalistische" Kunst an die Seite zu stellen, wenn man nicht hinter die Spitze des zeitgenössischen Denkens zurückfallen wollte? Wie, in welchen Formen könnte das geschehen?

Die Malerei kam als Ausdrucksform für Duchamp nicht mehr in Frage, da diese den ältesten Vereinbarungsbegriff über Kunst seit Menschengedenken darstellte. Selbst wenn die Kubisten auf ihren Bildern die Erscheinung der menschlichen Gestalt und das zentralperspektivische Raummodell dekonstruierten, hielten sie doch an so althergebrachten "Wahrheiten" wie dem Wert der Malerei, Harmonie der Farben und Formen, Handschrift und Intuition fest. Duchamps Antwort war eine selbstironische, esoterische Kunst, die den Zufall und den Betrachter als konstitutive Elemente in den schöpferischen Prozeß einführte. In seinem "Großen Glas" mit dem änigmatischen Titel "Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar" (1915 bis 1923) benutzte er die Technik der maschinellen Konstruktionszeichnung, um eine logisch unauflösbare Verschmelzung von exotischen Positionen in der zeitgenössischen Mathematik (die abstrakte Möglichkeit einer Welt jenseits der dritten Dimension) mit dem Thema der Sexualität darzustellen.

Mit den Anschauungsformen wissenschaftlicher Modelle und Versuchsanordnungen experimentierend, delegierte er deren Aufgaben, komplizierte Gleichungen und physikalische Axiome zu veranschaulichen, an alltägliche Gebrauchsgegenstände. Das Resultat bildeten Werke, die so eigenartig waren, daß Duchamp selbst eine Zeitlang nicht wußte, ob er diese Dinge als Kunst betrachten und ob er sie überhaupt ein Werk nennen sollte. Es waren Anschauungsmodelle einer erotisierten, spielerischen Physik, in der nur die "Gesetze" ihres Erfinders galten. Duchamp nannte diese Objekte, bevor er Ende 1915 in New York den Ausdruck Ready-mades für sie fand, "sculptures toute faites". Eine kunsthistorische Wirkung entfalteten sie zuerst im Zirkel von New York-Dada (1917 bis 1923) und später im Pariser Surrealismus der dreißiger Jahre.

Die Ready-mades sind, indem sie den Zusammenbruch aller Kriterien für Kunst und Nichtkunst nach sich zogen, die revolutionärste ästhetische Setzung im zwanzigsten Jahrhundert. Mit ihnen hatte Duchamp eine Ausdrucksform gefunden, die dadurch, daß sie den Übergang von Nichtkunst zu Kunst selbst zum Gegenstand hatte, für jeden unübersehbar machte, daß die Definition von Kunst eine gesellschaftliche Übereinkunft ist. Objektive Kriterien außerhalb dieser Vereinbarung gibt es nicht.

Fragen dieser und ähnlicher Art, mit denen sich die Duchamp-Forschung seit gut zwei Jahrzehnten beschäftigt hat, sind für Arturo Schwarz, den Autor des zweibändigen catalogue raisonné Marcel Duchamps, der soeben in erweiterter und neu bearbeiteter Form erschienen ist, offenbar ohne Belang. Der in Band 1 enthaltene hermeneutische Teil des Werkverzeichnisses bewegt sich auf dem Wissensstand von 1969, dem Jahr seiner Erstveröffentlichung. Da eine historisch-wissenschaftliche Erforschung des OEuvres Duchamps damals noch in den Kinderschuhen steckte, war über die philosophischen, literarischen und ikonographischen Voraussetzungen des "Großen Glases" und der Ready-mades ebenso wenig bekannt wie über deren tatsächliche Wirkungsgeschichte. Das Phänomen Duchamp war noch ein einziges Rätsel. Schwarz glaubte dieses Rätsel mit der vereinten Hilfe von Alchimie und Psychoanalyse lösen zu können.

Im Werk Duchamps eine verschlüsselte Botschaft vermutend, durchkämmte er die Symbolik der griechischen Mythologie und frühchristlichen Gnostik, der jüdischen Kabbala, des Tantrismus und der altindischen Upanischaden, ergänzt um die Ausführungen moderner Autoritäten wie Freud, Jung und Eliade, um zu "beweisen", daß das Geheimnis des Duchampschen Werks in einem inzestuösen Verlangen des Künstlers nach seiner jüngeren Schwester Suzanne begründet sei. Unter dem Zwang, die verbotene Leidenschaft zu verdrängen, habe er sich der Geheimsprache alchimistischer Traktate des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts bedient, um seine Obsessionen zu sublimieren. Diese Deutung hat Schwarz viel Spott und Kritik eingebracht.

Wie Duchamp selbst auf die alchimistische Inzest-Theorie reagiert hat, ist in der gut recherchierten Duchamp-Biographie von Calvin Tomkins nachzulesen, die in diesem Frühjahr in New York erschienen ist. Duchamp war mit dem Ergebnis der tiefenpsychologischen Untersuchung seiner Person und seines Werkes das erste Mal 1968 während eines Vortrags von Schwarz im Londoner Institute of Contemporary Arts konfrontiert worden. Seine Frau Teeny war von dem Befund so entsetzt, daß sie ihren Mann drängte, eine öffentliche Stellungnahme gegen diesen "rubbish" abzugeben. Doch Duchamp dachte keinen Augenblick an eine solche Maßnahme. Er hatte früh begriffen, daß Kunstwerke wie Spiegel wirken, in denen die Interpreten ihre eigenen Ideen und Imaginationen wiederfinden. Seiner Überzeugung getreu, daß erst der Betrachter das Kunstwerk vollendet, hielt er sich zurück, um den schöpferischen Prozeß nicht zu stören.

Glücklicherweise bleibt das Verzeichnis der Werke, Band II der Publikation, von den Phantasmen des Autors weitgehend frei. Gegenüber der Erstausgabe um 242 Katalognummern erweitert und sorgfältig kommentiert, ist es ein zuverlässiges und für jede Auseinandersetzung mit dem OEuvre Duchamps unentbehrliches Hilfsmittel. Bei den neu entdeckten Werken handelt es sich in der Hauptsache um Blätter eines frühen Skizzenbuches (1904 bis 1905), humoristische Zeichnungen (1908 bis 1910), im Nachlaß gefundene Skizzen zum "Großen Glas", Entwürfe und Andrucke über die "Boîte-en-Valise" (1935 bis 1941) sowie um einige höchst originelle Werke, die Duchamp den Luxusausgaben dieses Museums-im-Koffer hinzugefügt hatte. Sicher wird auch in Zukunft noch die eine oder andere unbekannte Skizze Duchamps auftauchen. Doch wird man davon ausgehen dürfen, daß wir sein Werk nunmehr (fast) vollständig kennen. Die Methode seines schöpferischen Denkens aber ist noch weitgehend unbekannt. Solange diese nicht genauer erforscht ist, bleiben auch ganze Teile des Duchampschen OEuvres in ihrer Bedeutung noch zu entdecken.

Arturo Schwarz: "The Complete Works of Marcel Duchamp. Third Revised and Expanded Edition". Delano Greenidge Editions, New York 1997. Bd. 1: The Text, 266 S.; Bd. 2: The Plates. 943 S., 1220 Abb., Kassette 225,- Dollar.

Calvin Tomkins: "Duchamp. A Biography". Henry Holt and Company, New York 1996. 550 S., Abb., geb., 35,- Dollar.

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