Dürers Kupferstich in seiner ganzen „Rätselhaftigkeit“ ist immer noch aktuell, aber die Fachwelt beginnt allmählich zu resignieren oder mißtraut einem Neuansatz, der den Horizont von Ikonographie, Ikonologie und Ideengeschichte überschreitet. Unbeirrt hält man an dem Minimalkonsens fest, „daß der Titulus MELENCOLIA auf das sitzende weibliche Flügelwesen bezogen werden muß.“ Ganz so, als wäre eine Alternative nach gesundem Menschenverstand überhaupt nicht denkbar. Doch nach all den vergeblichen Versuchen, das Rätsel zu lösen, sollte man eine kopernikanische Wende wenigstens einmal probeweise andenken, indem man die Inschrift an der Peripherie läßt, wo sie im Bild auch steht. Denn solange das Fabelwesen suggeriert, das Thema des Kupferstichs B 74 sei die „Melancholie“, dreht man sich im Kreis und kommt über ikonographische Zuschreibungen nicht zu einem schlüssigen Bildkonzept.