Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2011Literatur Das ist natürlich eine sonderbare Idee, ausgerechnet im Max-Frisch-Jahr eine große Dürrenmatt-Biographie zu veröffentlichen. Und es kann eigentlich nur daran liegen, dass Peter Rüedis geniales Lebensbuch des großen Gegen-Frisch ("Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen", Diogenes, 28,90 Euro) bislang noch kaum gewürdigt wurde. Aber dieses Buch wird uns noch lange beschäftigen. Ein ganzes Nachleben lang. Hier also nur ein kurzer erster Hinweis. Rüedi hat die letzten zwanzig Jahre daran gearbeitet. Vor vierzig Jahren ist er aber schon zum ersten Mal mit Friedrich Dürrenmatt in dessen Weinkeller hinabgestiegen. Ein Abstieg in den Hades, Jahrgang für Jahrgang stiegen sie tiefer hinab, bis sie schließlich bei 1871 anlangten. Dürrenmatt scherzte noch, allein diese Flasche beweise, dass die französische Kapitulation damals keine endgültige habe gewesen sein können. Dann "dekantierte er mit rauschender Nonchalance, er schüttete die Bouteillen in die Karaffe, als wär's Rioja aus dem Supermarkt. Alte Weine trinken ist eine Kunst, wir jungen Spunde waren ihr niemals gewachsen." Irgendwann ist der junge Biograph dann umgefallen, von Dürrenmatts Spezialität gefällt: den letzten Schluck mit dem Satz in einen Schwenker zu gießen und die gleiche Menge Cognac zuzufügen. Rüedi verlor das Bewusstsein. Oder: Er trat über, in ein höheres, ein Dürrenmatt-Bewusstsein - auf tausend Seiten kann man davon jetzt lesen.
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Etwas fehlt, und das freut den Rezensenten ausnahmsweise. Denn möglicherweise beschert diese ausgezeichnete intellektuelle Dreiviertelbiografie über Friedrich Dürrenmatt dem Rezensenten und Fan Manfred Koch noch einen zweiten Teil, weitere 500 Seiten Dürrenmattia, wie Werk- und Motivbetrachtungen, Einsichten ins Alltagsleben mit Weinkeller, in Bühnenskandale sowie Brüche und dunkle Abgründe der Schriftstellerseele. Vorerst genügt es Koch ja vollauf, in diesem materialreichen Buch zu schmökern und Peter Ruedis beachtenswerten Schlüssel zum Werkverständnis auszuprobieren, der dieses Leben als Geschichte seiner "Stoffe" definiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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