Fast eineinhalb Jahre lebt Sören Kittel in Korea, schreibt Artikel, interviewt Künstler, Wirtschaftsexperten und Politiker und bereist schließlich das ganze Land. Es ist die Zeit, in der Trendscouts aus der ganzen Welt Südkorea entdecken, sie sagen, es sei hier wie in Japan vor zehn Jahren. Mode, TV-Serien, Pop-Kultur und die technische Entwicklung kommen plötzlich für ganz Asien aus Südkorea, und Kaffee wird im Land der Tee-Liebehaber zu einem hippen Getränk. Gleichzeitig ziehen sich diese modernen Koreaner in Tempel zurück und besuchen Originalschauplätze von vergangenen Kriegen. Vielleicht, weil Südkorea offiziell noch immer im Krieg ist, mit dem einzigen Land, in dem ebenfalls Koreanisch gesprochen wird: Nordkorea. Die Trennung geht mitten durch die Nation und beeinflusst den Alltag. Kittel geht diesem Konflikt, der allgegenwärtig das Leben mitbestimmt, nach. Ihm gelingt ein tiefer Einblick in eine gespaltene Nation, und er zeigt den Weg Koreas zu einem modernen "Powerhouse".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2017Für die Tasche Der Journalist Sören Kittel hat ein Jahr lang in Südkorea gelebt, und zwar 2013. Das müsste ungefähr der Moment gewesen sein, als die ganze Welt die kleine Republik zwischen Japan und China überhaupt erst richtig wahrnahm: Plötzlich überholten die Verkäufe der Samsung-Telefone die der iPhones, der Song "Gangnam Style" wurde das beliebteste Video im Internet, Kimchi kam auf die Speisepläne, und man hörte immer wieder, wie interessant doch die Zehn-Millionen-Stadt Seoul sei. Mit Kittel, der auch Koreanisch spricht und sich offenbar ganz auf sein Gastgeberland einlässt, liest man eine Stimme, die das alles von innen beurteilen kann. Zunächst geht er in die Szene der Expats, der Amerikaner, die kurz da sind und sich intensiv ins Nachtleben fallenlassen, oft nahe der Militärbasis. Aber der Autor will auch die Seele des Landes verstehen, die enorme Feier- und Trinklust der Koreaner und auch den Kitsch und die "große Traurigkeit", für die es ein Wort gibt: "Han". Es ist die tiefe Melancholie dem Leben gegenüber, die manch einen spontan in Tränen ausbrechen lässt. Kittel sitzt mit einer deutschen Philologin auf dem Berg Bukhansan in einer Pagode, sie wundern sich gemeinsam über die Koreaner, bei denen immer alles schnell-schnell gehen müsse. Er besucht "Homo Hill", einen von Schwulenkneipen dominierten Straßenzug im Seouler Stadtteil Itaewon, und das in einem Land, das hinsichtlich der Sexualität noch nicht so frei ist wie der Westen. Er trifft Korea-Popsänger und zugezogene Australier, die nie wieder wegwollen. Er geht meditieren und versenkt sich in das kompromisslos-brutale Südkorea-Kino. Und er geht, natürlich, an den Todesstreifen, der Nord und Süd trennt, die "demilitarisierte Zone", die in Wirklichkeit die vielleicht am stärksten aufgerüstete Gegend der Erde ist. Es gibt an diesem Buch etwas Rührendes, das der Autor vielleicht gar nicht bewusst bemerkt haben mag: Wir beobachten beim Lesen auch seinen Wandel, der, der hier schreibt, wird nach und nach ein wenig ein Koreaner. Neugierde und Trinkfestigkeit scheinen auch ihn ereilt zu haben, vor allem aber: eine empfindsame Melancholie, die wohl mit dem Prinzip "Han" zu tun haben muss, der Traurigkeit des Lebens. So ist dieses Buch eines, bei dem man mitfühlen kann, und das ist großartig. Denn bekanntlich versteht der Mensch doch mit dem Herzen immer noch alles am besten.
tlin
Sören Kittel: "An guten Tagen siehst du den Norden". DuMont, 383 Seiten, 14,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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