Schon viele Male war die Autorin in Armenien, wohnte bei einer Familie in Jerewan. Nun macht sie sich auf den Weg, das kleine alte Gebirgsland im Kaukasus allein zu durchqueren. Dabei begegnet sie Menschen, die ihr in nur vierzig Tagen eine weite Reise durch die armenische Geschichte, Mythologie und Gesellschaft ermöglichen. Von den Landfrauen lernt sie, Brot zu backen, die Archäologen nehmen sie mit in ihre Welt der Steine, Vater Aspet zieht mit ihr von Kloster zu Kloster, und jeder weiß uralte Geschichten zu erzählen. Dazu gehört auch die Erinnerung an den grausamen Völkermord von 1915.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2016Die unwirkliche Welt der alten Steine
Constanze John war seit dem Jahr 2000 oft in Armenien, und stets besuchte sie Anusch und deren Sohn, so oft, dass sie irgendwann ein Verhältnis zueinander hatten wie Mutter und Tochter. Das passt zur allumfassenden armenischen Gastfreundschaft. Aber nun ist Mutter Anusch tot. Und noch mehr hat sich verändert seit ihrer ersten Reise in das Land im Kaukasus. Armenien habe sich geöffnet, schreibt Constanze John - so sehr, dass ihr das Land jetzt bisweilen unwirklich vorkomme. Vierzig Tage ist sie dieses Mal unterwegs in diesem Land, das an so vielen Grenzen liegt: zwischen Europa und Asien, Orient und Okzident, auf der Kollisionskante der Arabischen und der Eurasischen Platte. Die Zahl vierzig ist bedeutungsschwer mit Armenien verknüpft. "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel, das große, mit dem Völkermord verknüpfte Werk, hat Constanze John natürlich im Gepäck, und sie zitiert reichlich daraus. Wenn in Armenien jemand stirbt, tragen die männlichen Angehörigen vierzig Tage lang Bart. Und nicht zuletzt soll im Gebirge Ararat die Arche Noah nach der vierzigtägigen Sintflut gestrandet sein. Constanze John widmet jedem Reisetag ein eigens Kapitel. Erzählt von neuen Bekanntschaften und den Treffen mit alten Freunden. Auch sie haben sich verändert, etwa der Maler Hajk, der Menschen ohne Münder malte und den eine tiefe Traurigkeit umgab, als sie sich das erste Mal begegneten. Dreizehn Jahre später sind seine Bilder und er bunter geworden - und glücklicher. An einigen Stellen braucht der Leser Geduld. Constanze John schildert selbst Nebensächlichkeiten akribisch, wenn sie etwa die Tür zu ihrer Wohnung nicht aufbekommt. Doch ist ihre Gewissenhaftigkeit zugleich ein Segen. Denn sie hat die armenische Kultur ergründet, und obwohl sie erkennbar nicht zum ersten Mal in diese Welt eintaucht, ist sie noch immer neugierig, begeisterungsfähig - und lässt sich mehr als einmal auch verblüffen. Einer gewissen Schwere freilich entkommt sie nicht. Armenien nennt sich das Land der Steine, denn es ist ein altes Land, mit vielen archäologischen Ausgrabungsstätten, Ruinen und Festungen. Doch auch die Menschen, die Constanze John trifft und bei denen sie oft für einen Tag oder eine Nacht einzieht, scheinen dieses Alter in sich zu tragen: Sie wirken stolz, weise, zäh - und verlieren nie die Geduld. Aber sie sind auch tieftraurig, mit dem Ballast zahlloser Katastrophen auf den Schultern und neuen vor Augen, wenn ihre Söhne als Soldaten in Richtung Nagornyj Karabach ziehen.
kari
"40 Tage Armenien - In einem alten Land im Kaukasus" von Constanze John. DuMont Reiseverlag, Ostfildern 2015. 384 Seiten. Broschiert, 14,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Constanze John war seit dem Jahr 2000 oft in Armenien, und stets besuchte sie Anusch und deren Sohn, so oft, dass sie irgendwann ein Verhältnis zueinander hatten wie Mutter und Tochter. Das passt zur allumfassenden armenischen Gastfreundschaft. Aber nun ist Mutter Anusch tot. Und noch mehr hat sich verändert seit ihrer ersten Reise in das Land im Kaukasus. Armenien habe sich geöffnet, schreibt Constanze John - so sehr, dass ihr das Land jetzt bisweilen unwirklich vorkomme. Vierzig Tage ist sie dieses Mal unterwegs in diesem Land, das an so vielen Grenzen liegt: zwischen Europa und Asien, Orient und Okzident, auf der Kollisionskante der Arabischen und der Eurasischen Platte. Die Zahl vierzig ist bedeutungsschwer mit Armenien verknüpft. "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel, das große, mit dem Völkermord verknüpfte Werk, hat Constanze John natürlich im Gepäck, und sie zitiert reichlich daraus. Wenn in Armenien jemand stirbt, tragen die männlichen Angehörigen vierzig Tage lang Bart. Und nicht zuletzt soll im Gebirge Ararat die Arche Noah nach der vierzigtägigen Sintflut gestrandet sein. Constanze John widmet jedem Reisetag ein eigens Kapitel. Erzählt von neuen Bekanntschaften und den Treffen mit alten Freunden. Auch sie haben sich verändert, etwa der Maler Hajk, der Menschen ohne Münder malte und den eine tiefe Traurigkeit umgab, als sie sich das erste Mal begegneten. Dreizehn Jahre später sind seine Bilder und er bunter geworden - und glücklicher. An einigen Stellen braucht der Leser Geduld. Constanze John schildert selbst Nebensächlichkeiten akribisch, wenn sie etwa die Tür zu ihrer Wohnung nicht aufbekommt. Doch ist ihre Gewissenhaftigkeit zugleich ein Segen. Denn sie hat die armenische Kultur ergründet, und obwohl sie erkennbar nicht zum ersten Mal in diese Welt eintaucht, ist sie noch immer neugierig, begeisterungsfähig - und lässt sich mehr als einmal auch verblüffen. Einer gewissen Schwere freilich entkommt sie nicht. Armenien nennt sich das Land der Steine, denn es ist ein altes Land, mit vielen archäologischen Ausgrabungsstätten, Ruinen und Festungen. Doch auch die Menschen, die Constanze John trifft und bei denen sie oft für einen Tag oder eine Nacht einzieht, scheinen dieses Alter in sich zu tragen: Sie wirken stolz, weise, zäh - und verlieren nie die Geduld. Aber sie sind auch tieftraurig, mit dem Ballast zahlloser Katastrophen auf den Schultern und neuen vor Augen, wenn ihre Söhne als Soldaten in Richtung Nagornyj Karabach ziehen.
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"40 Tage Armenien - In einem alten Land im Kaukasus" von Constanze John. DuMont Reiseverlag, Ostfildern 2015. 384 Seiten. Broschiert, 14,99 Euro.
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