Itzik Manger, der "Prinz der jiddischen Ballade", wurde 1901 in Czernowitz geboren. Er starb 1969 in Gedera (Israel). Die Welt dieses fahrenden Sängers, dieses genialen und trinkfreudigen "Troubadours", wie er sich nannte, war das jüdische Osteuropa mit seinen rumänischen, galizischen, polnischen und baltischen Landschaften und der jiddischen Kultur. Von 1928 bis 1938 lebte Itzik Manger in Warschau, der Metropole dieser Kultur. Es waren seine produktivsten Jahre. Diese Welt und ihre Sprache, das Jiddische, gingen durch die Vernichtung der osteuropäischen Judenheit unwiederbringlich verloren. Der Dichter überlebte im Exil in England, den USA und Israel. Doch in der Fremde erstickte sein Gedicht.Itzik Mangers Lieder und Balladen vereinigen romantische und symbolistische Traditionen mit denen der jiddischen Folklore, Heimat- wird mit Weltdichtung verbunden. Efrat Gal-Eds Übersetzungen, die sich eng ans Original halten, manchen es zu einem Vergnügen, einen der größten jiddischen Dichter neu zu entdecken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2016Der Schneider und das Dunkelgold
Ein Schatz ist gehoben: Die Künstlerin und Literaturwissenschaftlerin Efrat Gal–Ed
hat Leben und Werk des jüdischen Dichters Itzik Manger erschlossen
VON THOMAS MEYER
Der Ausdruck „ein schönes Buch“ ist zumindest zwiespältig. Form und Gestaltung werden landläufig vom Inhalt abgelöst. Und wenn man betont, dass vermeintlich Äußeres und Substanz einander bedingen, man die vielen Illustrationen, das Druckbild und die Anordnung des Textes mit dem Gesagten selbst in Beziehung setzen müsse, weil es sonst nicht zu verstehen oder überhaupt zu erschließen sei, werden leicht Zweifel laut. Ein Text, der nicht für sich allein stehen kann, muss wohl seine Schwäche kaschieren.
Wer das wunderbare Buch „Niemandssprache“ der Literaturwissenschaftlerin und Künstlerin Efrat Gal-Ed über den 1901 im österreichisch-ungarischen Czernowitz geborenen und 1963 im israelischen Gedera verstorbenen jiddischen Dichter Itzik Manger „studiert“ hat, der wird niemals mehr über diese Form-Inhalt-Schere nachdenken. Gal-Ed hat für Mangers Biografie und die Zusammenhänge, ohne die sein Leben, Schreiben und Denken erst gar nicht zugänglich werden, je eine Hälfte einer Seite reserviert. Das klingt schwierig, zumal es nicht durchgehend so ist. Außerdem zitiert sie ausführlich in den Originalsprachen, was zusätzlich verwirren könnte, auch wenn sie alles wörtlich und sehr gut verständlich übersetzt hat. Lange Bilderstrecken unterbrechen scheinbar den Lesefluss, dazu kommen Namen und Orte in großer Zahl, die man in diversen Registern nachschlagen muss. Das Buch will also erobert werden.
Denn die Welt, die es beinhaltet, die nur noch als Erinnerungsfragment zurückgerufen werden kann, ist darin ebenso enthalten wie verborgen. Gal-Ed hat uns ein Hand-Buch geschenkt, durch das der Leser ständig in Bewegung bleibt: er wird zum Reisenden nicht nur im Nachvollzug der Entwicklung der modernen jiddischen Literatur, den Auseinandersetzungen um den Status der Sprache, des verschlungenen Lebensweges von Manger, der Vielfältigkeit und Komplexität seiner Dichtungen und Schriften. Er wird auf den schwankenden Boden zwischen Fakten und Fiktionen geführt – also ein Zwischenreich.
Dieses Zwischenreich wird belebt von einer permanenten Verwandlung: Ballade, Essay, Nachdichtung, Roman und was an Darstellungsformen noch mehr von Manger benutzt und reflektiert wurde, münden in eine ganz eigentümliche Form der Weltwahrnehmung. Folgt man ihr mit der Hilfe Gal-Eds dann scheint es, als ließen sich nur durch radikale Vereinfachungen alle Spuren sammeln und darstellen, die menschliches Leben in der Welt hinterlassen hat. Ganz nach dem alten Ratschlag „Forsche nicht nach der Zukunft, sondern alles, was dir zukommt, nimm in Treue an“, hat Manger sich, seiner Zeit und deren abgründigen Verwerfungen die Conditio humana abgelauscht.
Um solche Reduktion darzustellen, hat Gal-Ed eine Trennung in genauestens dokumentierte Geschichte und in präzise Geschichten vorgenommen, dabei die Übergänge zwischen Wissen und Erzähltem, Überliefertem genau markiert, sodass der Leser die Gräben sicher überqueren kann. Es sind wiederum die Schriften Mangers, die uns sicheres Geleit auf dem Wege zwischen den Geschichten und Geschichte ermöglichen. Wie Gal-Ed das komponiert hat, ist über weite Strecken atemberaubend. Denn was immer recherchiert werden konnte, wie dünn der Faden auch war, der mit der Vergangenheit vor 1939/41 noch verknüpft war, hier wird er so deutlich und so sorgsam wie möglich nachgezeichnet, auf dass er nie mehr verloren gehe. Als wollte die Fülle des Buches an die Stelle treten, wo nur noch allenfalls blasse und fast ausschließlich vermittelte Ahnung einer Welt herrscht, die gänzlich eine „jüdische Welt von gestern“ (Rachel Salamander) geworden ist.
Als man sich anschickte diese Welt vom September 1939 an zu zerstören, sprachen knapp elf Millionen Menschen Jiddisch. Einer davon war Manger, zunächst ein Schneider, der Auf- und Abstiege der Familie zu verkraften hatte, der den existenziell ausgefochtenen Kampf mit Traditionen, deren Umschreibungen und Verwandlungen als Zeichen einer schwer entschlüsselbaren Treue zum Judentum, zur Sprache und seinem Volk erst nach und nach erkennbar werden, ließen Manger – als Mensch ständig am Abgrund – in der Zeit bis zum Überfall auf Polen zu einem anerkannte Poeten werden.
Bereits 1935 war sich der Kritiker Lamed Shapiro anlässlich des Gedichtbandes „Chumensch-Lider“ (Fünfbuch-Lieder) sicher, dass Manger das Judentum, von seiner tiefsten Vergangenheit herauf in die Gegenwart in Worte gefasst habe, es also endlich einen Grund gebe, „Hitler-Mussolini-Japan für eine Weile zu vergessen“. Das „wundersame kleine Buch“ war zusammen mit dem im Jahr darauf vorgelegten „Megile-Lider“ (Esterrolle-Lieder), der Übersetzung von Büchners „Woyzeck“ und der Beteiligung an dem populären Musical „Jidl mitn Fidl“ zu einem Werk eines wahrhaft europäischen Dichters ausgewachsen. Und wenn es neben Mangers Schriften in diesem so reichen Buch von Gal-Ed etwas gibt, was von nun an nicht mehr übersehen werden darf, pathetisch formuliert: heute weniger denn je, dann ist es die Idee Europas. Wie sie von ihrem östlichen Rand her fragil und ausdrucksstark zugleich eine ganz eigenständige Eigensinnigkeit artikuliert, die um das Älteste weiß und von da aus die Schichten von Erinnerungen mitschleppt und sie, statt mittels kritischer Zerlegung, im Vertrauen auf die Unerschöpflichkeit der überlieferten „Geschichten“ mobilisiert, wird hier eindrücklich nachgewiesen.
Erst von da aus wird ersichtlich, was mit dem Mord am osteuropäischen Judentum verloren ging. Dass mit den Menschen auch das Wissen stirbt, dagegen kommt kein Archiv und keine Melancholie an. Die Einfachheit von Mangers Dichtung, der nach dem Krieg auf höchst kunstvolle Weise schweigt und sein Verstummen als einzig angemessene Reaktion auf die Zerstörung des natürlichen Resonanzraumes zurückführt, ist uns heute ein Rätsel. Gal-Ed zeigt hier erste Wege, die Poesie wieder zum Sprechen zu bringen. Weitere Übersetzungen, vergleichende Studien mit anderen jiddischen Dichtern und Dichtungen wären hier sehr willkommen
Wer sich Gal-Eds Studie als Wegweiser durch verschiedene Vergangenheiten nähern möchte, kann dazu auf ein äußerst gelungenes Gespräch der Autorin mit Ruth Reneé Reif in der Zeitschrift Sinn und Form (Heft 6/2016) zurückgreifen. Es bietet eine Einführung in Mangers Welt und kann mit dem wiederaufgelegten Auswahlband „Dunkelgold“ Gal-Eds Deutungen prüfen. In jedem Fall aber haben wir es bei dem Buch „Niemandssprache“ mit einer grandiosen Herausforderung zu tun.
Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 784 S., 44 Euro.
Itzik Manger: Dunkelgold. Gedichte. Jiddisch und deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Efrat Gal-Ed. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 431 S., 29,95 Euro,
Itzik Mangers Gedichtband „Laterne im Wind“ (1933).
Itzik Manger, aufgenommen in Paris im Jahre 1939.
Fotos (2): National Library of Israel
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Ein Schatz ist gehoben: Die Künstlerin und Literaturwissenschaftlerin Efrat Gal–Ed
hat Leben und Werk des jüdischen Dichters Itzik Manger erschlossen
VON THOMAS MEYER
Der Ausdruck „ein schönes Buch“ ist zumindest zwiespältig. Form und Gestaltung werden landläufig vom Inhalt abgelöst. Und wenn man betont, dass vermeintlich Äußeres und Substanz einander bedingen, man die vielen Illustrationen, das Druckbild und die Anordnung des Textes mit dem Gesagten selbst in Beziehung setzen müsse, weil es sonst nicht zu verstehen oder überhaupt zu erschließen sei, werden leicht Zweifel laut. Ein Text, der nicht für sich allein stehen kann, muss wohl seine Schwäche kaschieren.
Wer das wunderbare Buch „Niemandssprache“ der Literaturwissenschaftlerin und Künstlerin Efrat Gal-Ed über den 1901 im österreichisch-ungarischen Czernowitz geborenen und 1963 im israelischen Gedera verstorbenen jiddischen Dichter Itzik Manger „studiert“ hat, der wird niemals mehr über diese Form-Inhalt-Schere nachdenken. Gal-Ed hat für Mangers Biografie und die Zusammenhänge, ohne die sein Leben, Schreiben und Denken erst gar nicht zugänglich werden, je eine Hälfte einer Seite reserviert. Das klingt schwierig, zumal es nicht durchgehend so ist. Außerdem zitiert sie ausführlich in den Originalsprachen, was zusätzlich verwirren könnte, auch wenn sie alles wörtlich und sehr gut verständlich übersetzt hat. Lange Bilderstrecken unterbrechen scheinbar den Lesefluss, dazu kommen Namen und Orte in großer Zahl, die man in diversen Registern nachschlagen muss. Das Buch will also erobert werden.
Denn die Welt, die es beinhaltet, die nur noch als Erinnerungsfragment zurückgerufen werden kann, ist darin ebenso enthalten wie verborgen. Gal-Ed hat uns ein Hand-Buch geschenkt, durch das der Leser ständig in Bewegung bleibt: er wird zum Reisenden nicht nur im Nachvollzug der Entwicklung der modernen jiddischen Literatur, den Auseinandersetzungen um den Status der Sprache, des verschlungenen Lebensweges von Manger, der Vielfältigkeit und Komplexität seiner Dichtungen und Schriften. Er wird auf den schwankenden Boden zwischen Fakten und Fiktionen geführt – also ein Zwischenreich.
Dieses Zwischenreich wird belebt von einer permanenten Verwandlung: Ballade, Essay, Nachdichtung, Roman und was an Darstellungsformen noch mehr von Manger benutzt und reflektiert wurde, münden in eine ganz eigentümliche Form der Weltwahrnehmung. Folgt man ihr mit der Hilfe Gal-Eds dann scheint es, als ließen sich nur durch radikale Vereinfachungen alle Spuren sammeln und darstellen, die menschliches Leben in der Welt hinterlassen hat. Ganz nach dem alten Ratschlag „Forsche nicht nach der Zukunft, sondern alles, was dir zukommt, nimm in Treue an“, hat Manger sich, seiner Zeit und deren abgründigen Verwerfungen die Conditio humana abgelauscht.
Um solche Reduktion darzustellen, hat Gal-Ed eine Trennung in genauestens dokumentierte Geschichte und in präzise Geschichten vorgenommen, dabei die Übergänge zwischen Wissen und Erzähltem, Überliefertem genau markiert, sodass der Leser die Gräben sicher überqueren kann. Es sind wiederum die Schriften Mangers, die uns sicheres Geleit auf dem Wege zwischen den Geschichten und Geschichte ermöglichen. Wie Gal-Ed das komponiert hat, ist über weite Strecken atemberaubend. Denn was immer recherchiert werden konnte, wie dünn der Faden auch war, der mit der Vergangenheit vor 1939/41 noch verknüpft war, hier wird er so deutlich und so sorgsam wie möglich nachgezeichnet, auf dass er nie mehr verloren gehe. Als wollte die Fülle des Buches an die Stelle treten, wo nur noch allenfalls blasse und fast ausschließlich vermittelte Ahnung einer Welt herrscht, die gänzlich eine „jüdische Welt von gestern“ (Rachel Salamander) geworden ist.
Als man sich anschickte diese Welt vom September 1939 an zu zerstören, sprachen knapp elf Millionen Menschen Jiddisch. Einer davon war Manger, zunächst ein Schneider, der Auf- und Abstiege der Familie zu verkraften hatte, der den existenziell ausgefochtenen Kampf mit Traditionen, deren Umschreibungen und Verwandlungen als Zeichen einer schwer entschlüsselbaren Treue zum Judentum, zur Sprache und seinem Volk erst nach und nach erkennbar werden, ließen Manger – als Mensch ständig am Abgrund – in der Zeit bis zum Überfall auf Polen zu einem anerkannte Poeten werden.
Bereits 1935 war sich der Kritiker Lamed Shapiro anlässlich des Gedichtbandes „Chumensch-Lider“ (Fünfbuch-Lieder) sicher, dass Manger das Judentum, von seiner tiefsten Vergangenheit herauf in die Gegenwart in Worte gefasst habe, es also endlich einen Grund gebe, „Hitler-Mussolini-Japan für eine Weile zu vergessen“. Das „wundersame kleine Buch“ war zusammen mit dem im Jahr darauf vorgelegten „Megile-Lider“ (Esterrolle-Lieder), der Übersetzung von Büchners „Woyzeck“ und der Beteiligung an dem populären Musical „Jidl mitn Fidl“ zu einem Werk eines wahrhaft europäischen Dichters ausgewachsen. Und wenn es neben Mangers Schriften in diesem so reichen Buch von Gal-Ed etwas gibt, was von nun an nicht mehr übersehen werden darf, pathetisch formuliert: heute weniger denn je, dann ist es die Idee Europas. Wie sie von ihrem östlichen Rand her fragil und ausdrucksstark zugleich eine ganz eigenständige Eigensinnigkeit artikuliert, die um das Älteste weiß und von da aus die Schichten von Erinnerungen mitschleppt und sie, statt mittels kritischer Zerlegung, im Vertrauen auf die Unerschöpflichkeit der überlieferten „Geschichten“ mobilisiert, wird hier eindrücklich nachgewiesen.
Erst von da aus wird ersichtlich, was mit dem Mord am osteuropäischen Judentum verloren ging. Dass mit den Menschen auch das Wissen stirbt, dagegen kommt kein Archiv und keine Melancholie an. Die Einfachheit von Mangers Dichtung, der nach dem Krieg auf höchst kunstvolle Weise schweigt und sein Verstummen als einzig angemessene Reaktion auf die Zerstörung des natürlichen Resonanzraumes zurückführt, ist uns heute ein Rätsel. Gal-Ed zeigt hier erste Wege, die Poesie wieder zum Sprechen zu bringen. Weitere Übersetzungen, vergleichende Studien mit anderen jiddischen Dichtern und Dichtungen wären hier sehr willkommen
Wer sich Gal-Eds Studie als Wegweiser durch verschiedene Vergangenheiten nähern möchte, kann dazu auf ein äußerst gelungenes Gespräch der Autorin mit Ruth Reneé Reif in der Zeitschrift Sinn und Form (Heft 6/2016) zurückgreifen. Es bietet eine Einführung in Mangers Welt und kann mit dem wiederaufgelegten Auswahlband „Dunkelgold“ Gal-Eds Deutungen prüfen. In jedem Fall aber haben wir es bei dem Buch „Niemandssprache“ mit einer grandiosen Herausforderung zu tun.
Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 784 S., 44 Euro.
Itzik Manger: Dunkelgold. Gedichte. Jiddisch und deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Efrat Gal-Ed. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 431 S., 29,95 Euro,
Itzik Mangers Gedichtband „Laterne im Wind“ (1933).
Itzik Manger, aufgenommen in Paris im Jahre 1939.
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