Thomas, den Binnenschiffer, hat es von den Flüssen in die niedersächsische Provinz verschlagen, wo das Land weit ist und der Himmel tief hängt. In zehn Regennächten erinnert er sich an phantastische Begebenheiten, an Stationen seiner abenteuerlichen Reise, auf die ihn das Leben geschickt hat. Immer wieder ist er einer Gruppe von schwarzgekleideten Leuten begegnet, deren Auftauchen Unheil und Katastrophen ankündigt, eben jener Dunklen Gesellschaft, von der ihn schon sein Großvater gewarnt hat. Jedes Kapitel spielt zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort - Berlin, London, New York, Rom, Wien, in einer brandenburgischen Kleinstadt an der östlichen Spree - und entfaltet eine magische Spannung und apokalyptische Suggestivkraft, eine immer wieder ins Magisch-Surreale hinübergleitende Welt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Auf dem Regenplaneten tragen alle Gummistiefel
Hier kommt die Flut: In der Romanlandschaft von Gert Loschütz blubbert's gewaltig / Von Heinrich Detering
Wenn die dunklen Tage kommen und das Holz im Ofen knistert, dann erzählt man sich, bei Storm wie bei Stevenson, Gespenstergeschichten. In dem neuen Roman von Gert Loschütz erzählt sie sich einer selbst, Nacht für Nacht, als einsamer Spaziergänger.
Ein Flüchtling ist er, dieser Flußschiffer, der sich nach vielen schaurigen Erfahrungen von den Gewässern dieser Welt ins niedersächsische Binnenland zurückgezogen hat. Da aber wird er, in einer tragikomischen Wendung, vom Regen eingeholt; am Ende wird es eine wahre Sintflut sein. Und mit dem Wasser kehrt die Vergangenheit wieder. Jedesmal also, wenn dieser Thomas unruhig durch die Felder wandert, kommt ihm eine neue schicksalhafte Begegnung in den Sinn, zehn Nächte lang. Ein Anblick, ein Geräusch löst die Erinnerung aus, die sich dann verselbständigt: "Es war vor vielen Jahren."
So behaglich setzt ein, was in den Zusammenbruch aller vernunftgemäßen Ordnungen münden soll. Denn jedes düstere Geheimnis hängt irgendwie mit der "dunklen Gesellschaft" zusammen - einer Gruppe schwarzgekleideter, weißgesichtiger und stummer Gestalten, die womöglich bei allen bösen Zufällen die Hände im Spiel hat. Schon der Großvater, auch er ein Schiffer, hat Thomas einst vor diesen Unholden gewarnt und ihm auferlegt, künftig ein "Ausguck" zu sein. Und so hat denn der Enkel die Augen offengehalten und dunkles Treiben erblickt, wohin es ihn auch verschlug. Manchmal erblickt er die Dunklen selbst, öfter aber die unerklärlichen Spuren, die auf sie hinweisen. In jeder Episode kommt ein Rätsel zum anderen, dann steigern sich die Unheimlichkeiten rasch und spitzen sich katastrophal zu.
Es ist eine finstere Welt, von der Gert Loschütz erzählt, ein Regenplanet. Nirgends ist es ganz geheuer, überall lauern Wiedergänger, Schattenmänner, Zauberfrauen; jede Begegnung kann ein gespenstisches Zusammentreffen werden. Jederzeit kann man Menschen begegnen, die wie aus dem Nichts erscheinen, im Nichts verschwinden und jedenfalls nichts Gutes im Schilde führen. Einer von ihnen könnte der Erzähler selbst sein. Einmal in New York zum Beispiel reicht ihm ein Fremder die Hand und sagt einen merkwürdigen Namen. Es dauert lange, bis Thomas begreift, daß der Fremde nicht etwa sich vorgestellt, sondern ihn selbst angeredet hat, daß der Name zur Erlöserfigur einer geheimnisvollen Sekte gehört und man also ausgerechnet ihn für den Erwarteten hält. Was immer hier alltäglich beginnt, wird bald ins Phantastische entstellt. Tatsächlich, man würde sich nicht wundern, wenn dieser Erzähler sich eines Morgens beim Aufwachen in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt fände.
Daß scheinbar ganz disparate Motive einen unbestimmten, aber jedenfalls unheilvollen Plan enthüllen: diese Paranoikerphantasie liegt Loschütz' Erzählungen zugrunde. Der Phantasie verdanken sie ihre romantische Grundspannung, dem Paranoiden eine romantische Ironie. Dabei sind es eigentlich ganz vertraute Schauermotive, mit denen der Autor sein Genre-Spiel treibt: das Geisterschiff auf der Themse, die in keinem Kursbuch verzeichnete Eisenbahn, das geheimnisvolle Brandmal, die orakelhafte Nachricht auf einem zufällig gefundenen Zettel und die einem Albtraum entstiegenen Flagellanten; auch an Siegelringen, Voodoo und Alraunen fehlt es nicht. Es ist eine beträchtliche Kunstanstrengung, die hier unternommen worden ist, und es gibt Passagen, in denen die Atmosphäre eines unbestimmten Grauens beklemmend wird.
Spätestens um die Mitte des Buches aber geht irgend etwas gründlich schief. Irgendwann verschwimmen im Dauerregen auch die Konturen des Erzählten, und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt vom Fabeln zum Faseln. Wenn die Verfremdung sich abzunutzen beginnt, lesen sich diese Regennächte als doch ziemlich konventionelle, dafür allerdings erstaunlich nachlässig konstruierte Gruselgeschichten. In derselben Nacht, in der dem Erzähler Unheimliches widerfahren ist, werden sich in der Stadt vierundzwanzig Unglücksfälle zugetragen haben. Was genau sie miteinander und mit jener dunklen Gesellschaft zu tun haben, bleibt im dunklen. Aber vierundzwanzig Unglücksfälle, flüstert der Erzähler: das seien "so viele, wie der Tag Stunden zählt". Man denke! Ja, aber was eigentlich?
Je bedeutungsvoller der Erzähler raunt, je parabelhafter dies alles sein soll, desto mehr gerät es zur wilden Geheimnisfuchtelei; am Ende bleibt von den Schwindelgefühlen nur das Gefühl von Schwindel. Da ist ein vergessener Künstler, der obsessiv die "Schwarzgekleideten" gemalt hat, bei der staatlichen Kunstaufsicht in Ungnade gefallen - man versteht schon: ein Pessimist im Getriebe der zwangsoptimistischen Welt, ein Surrealist als Realist. Wer mag, kann auch an die vom Schlaf der Vernunft geborenen Ungeheuer denken oder an Hobbes, dessen Namen hier eine Nebenfigur tatsächlich trägt. Aber es macht die Erzählungen nicht tiefer oder reicher, wenn man es tut. Das gilt auch für einige vage politische Motive wie die ausdrückliche Datierung einer Episode ins "Wendejahr zwei" oder das Erscheinen des Kanzlers in Gummistiefeln in der Überschwemmung. Fehlte er, es würde nichts fehlen.
Was eindringlich anfing, hört zudringlich auf. Die Überanstrengung ist auch im Stil zu spüren, dessen forcierte Künstlichkeit anfangs noch reizvoll war. Der Erzähler erinnert sich, daß er aus dem Mund der Geliebten beim Liebesakt "fast nie mehr als ein verzweifeltes Ach zu hören pflegte": mit diesem letzten Wort rutscht der Satz ins Pretiöse. Im Blick einer Gestalt liegt einmal "ein ironisches Aufblitzen, nein, kein Aufblitzen, sondern ein langes ironisches Schauen"; aber müßte sich zwischen Blitzen und langem Schauen nicht ein Unterschied bemerken lassen? Und wie mag es klingen, wenn jemand mit einer "blubbernden Stimme" das Wort "jetzt" sagt?
Das traurigste Opfer dieser Verstiegenheit ist die Grammatik. Einmal verschlägt es den Erzähler auf "ein enges Schiff, von der Abmessung her, aber auch von den Leuten"; und "aus keinem der Hofhäuser fiel Licht, und von oben, die Stadtgeräusche zerklopfend, der Regen". So fintenreich das Spiel begonnen hat, so schnell hat es an Elan verloren. Weil er so angestrengt nach Tiefgang sucht, landet der Kahn im ziemlich flachen Wasser. Schade um das schöne Schiff.
Gert Loschütz: "Dunkle Gesellschaft". Roman in zehn Regennächten. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2005. 222 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier kommt die Flut: In der Romanlandschaft von Gert Loschütz blubbert's gewaltig / Von Heinrich Detering
Wenn die dunklen Tage kommen und das Holz im Ofen knistert, dann erzählt man sich, bei Storm wie bei Stevenson, Gespenstergeschichten. In dem neuen Roman von Gert Loschütz erzählt sie sich einer selbst, Nacht für Nacht, als einsamer Spaziergänger.
Ein Flüchtling ist er, dieser Flußschiffer, der sich nach vielen schaurigen Erfahrungen von den Gewässern dieser Welt ins niedersächsische Binnenland zurückgezogen hat. Da aber wird er, in einer tragikomischen Wendung, vom Regen eingeholt; am Ende wird es eine wahre Sintflut sein. Und mit dem Wasser kehrt die Vergangenheit wieder. Jedesmal also, wenn dieser Thomas unruhig durch die Felder wandert, kommt ihm eine neue schicksalhafte Begegnung in den Sinn, zehn Nächte lang. Ein Anblick, ein Geräusch löst die Erinnerung aus, die sich dann verselbständigt: "Es war vor vielen Jahren."
So behaglich setzt ein, was in den Zusammenbruch aller vernunftgemäßen Ordnungen münden soll. Denn jedes düstere Geheimnis hängt irgendwie mit der "dunklen Gesellschaft" zusammen - einer Gruppe schwarzgekleideter, weißgesichtiger und stummer Gestalten, die womöglich bei allen bösen Zufällen die Hände im Spiel hat. Schon der Großvater, auch er ein Schiffer, hat Thomas einst vor diesen Unholden gewarnt und ihm auferlegt, künftig ein "Ausguck" zu sein. Und so hat denn der Enkel die Augen offengehalten und dunkles Treiben erblickt, wohin es ihn auch verschlug. Manchmal erblickt er die Dunklen selbst, öfter aber die unerklärlichen Spuren, die auf sie hinweisen. In jeder Episode kommt ein Rätsel zum anderen, dann steigern sich die Unheimlichkeiten rasch und spitzen sich katastrophal zu.
Es ist eine finstere Welt, von der Gert Loschütz erzählt, ein Regenplanet. Nirgends ist es ganz geheuer, überall lauern Wiedergänger, Schattenmänner, Zauberfrauen; jede Begegnung kann ein gespenstisches Zusammentreffen werden. Jederzeit kann man Menschen begegnen, die wie aus dem Nichts erscheinen, im Nichts verschwinden und jedenfalls nichts Gutes im Schilde führen. Einer von ihnen könnte der Erzähler selbst sein. Einmal in New York zum Beispiel reicht ihm ein Fremder die Hand und sagt einen merkwürdigen Namen. Es dauert lange, bis Thomas begreift, daß der Fremde nicht etwa sich vorgestellt, sondern ihn selbst angeredet hat, daß der Name zur Erlöserfigur einer geheimnisvollen Sekte gehört und man also ausgerechnet ihn für den Erwarteten hält. Was immer hier alltäglich beginnt, wird bald ins Phantastische entstellt. Tatsächlich, man würde sich nicht wundern, wenn dieser Erzähler sich eines Morgens beim Aufwachen in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt fände.
Daß scheinbar ganz disparate Motive einen unbestimmten, aber jedenfalls unheilvollen Plan enthüllen: diese Paranoikerphantasie liegt Loschütz' Erzählungen zugrunde. Der Phantasie verdanken sie ihre romantische Grundspannung, dem Paranoiden eine romantische Ironie. Dabei sind es eigentlich ganz vertraute Schauermotive, mit denen der Autor sein Genre-Spiel treibt: das Geisterschiff auf der Themse, die in keinem Kursbuch verzeichnete Eisenbahn, das geheimnisvolle Brandmal, die orakelhafte Nachricht auf einem zufällig gefundenen Zettel und die einem Albtraum entstiegenen Flagellanten; auch an Siegelringen, Voodoo und Alraunen fehlt es nicht. Es ist eine beträchtliche Kunstanstrengung, die hier unternommen worden ist, und es gibt Passagen, in denen die Atmosphäre eines unbestimmten Grauens beklemmend wird.
Spätestens um die Mitte des Buches aber geht irgend etwas gründlich schief. Irgendwann verschwimmen im Dauerregen auch die Konturen des Erzählten, und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt vom Fabeln zum Faseln. Wenn die Verfremdung sich abzunutzen beginnt, lesen sich diese Regennächte als doch ziemlich konventionelle, dafür allerdings erstaunlich nachlässig konstruierte Gruselgeschichten. In derselben Nacht, in der dem Erzähler Unheimliches widerfahren ist, werden sich in der Stadt vierundzwanzig Unglücksfälle zugetragen haben. Was genau sie miteinander und mit jener dunklen Gesellschaft zu tun haben, bleibt im dunklen. Aber vierundzwanzig Unglücksfälle, flüstert der Erzähler: das seien "so viele, wie der Tag Stunden zählt". Man denke! Ja, aber was eigentlich?
Je bedeutungsvoller der Erzähler raunt, je parabelhafter dies alles sein soll, desto mehr gerät es zur wilden Geheimnisfuchtelei; am Ende bleibt von den Schwindelgefühlen nur das Gefühl von Schwindel. Da ist ein vergessener Künstler, der obsessiv die "Schwarzgekleideten" gemalt hat, bei der staatlichen Kunstaufsicht in Ungnade gefallen - man versteht schon: ein Pessimist im Getriebe der zwangsoptimistischen Welt, ein Surrealist als Realist. Wer mag, kann auch an die vom Schlaf der Vernunft geborenen Ungeheuer denken oder an Hobbes, dessen Namen hier eine Nebenfigur tatsächlich trägt. Aber es macht die Erzählungen nicht tiefer oder reicher, wenn man es tut. Das gilt auch für einige vage politische Motive wie die ausdrückliche Datierung einer Episode ins "Wendejahr zwei" oder das Erscheinen des Kanzlers in Gummistiefeln in der Überschwemmung. Fehlte er, es würde nichts fehlen.
Was eindringlich anfing, hört zudringlich auf. Die Überanstrengung ist auch im Stil zu spüren, dessen forcierte Künstlichkeit anfangs noch reizvoll war. Der Erzähler erinnert sich, daß er aus dem Mund der Geliebten beim Liebesakt "fast nie mehr als ein verzweifeltes Ach zu hören pflegte": mit diesem letzten Wort rutscht der Satz ins Pretiöse. Im Blick einer Gestalt liegt einmal "ein ironisches Aufblitzen, nein, kein Aufblitzen, sondern ein langes ironisches Schauen"; aber müßte sich zwischen Blitzen und langem Schauen nicht ein Unterschied bemerken lassen? Und wie mag es klingen, wenn jemand mit einer "blubbernden Stimme" das Wort "jetzt" sagt?
Das traurigste Opfer dieser Verstiegenheit ist die Grammatik. Einmal verschlägt es den Erzähler auf "ein enges Schiff, von der Abmessung her, aber auch von den Leuten"; und "aus keinem der Hofhäuser fiel Licht, und von oben, die Stadtgeräusche zerklopfend, der Regen". So fintenreich das Spiel begonnen hat, so schnell hat es an Elan verloren. Weil er so angestrengt nach Tiefgang sucht, landet der Kahn im ziemlich flachen Wasser. Schade um das schöne Schiff.
Gert Loschütz: "Dunkle Gesellschaft". Roman in zehn Regennächten. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2005. 222 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Das kalte Sonnendeck
Jedes Wasserzeichen gibt Rätsel auf: Gert Loschütz folgt einem Liebhaber der Flussläufe in den Nebel
Von Ralf Berhorst
Jeder Satz ist prägnant, klar und makellos. Und doch verschwimmen von Anfang an die Konturen des Erzählten, gleiten Erinnerungen wie unscharfe Traumbilder ineinander über. Oder vielleicht sollte man sagen: Sie ziehen an dem inneren Auge vorbei wie Kähne auf einem Fluss. Denn Thomas, der Ich-Erzähler in Gert Loschütz Roman „Dunkle Gesellschaft”, ist ein Liebhaber der Flussläufe, der seine Wohnungen danach auswählt, ob eines der Fenster aufs Wasser geht.
Nachts beobachtet Thomas die vorbeifahrenden Schiffe: „Ach, wie oft habe ich dort, wenn mich das Nebelhorn weckte, am Fenster gestanden, in der Luft hing der Geruch von verbranntem Öl, ich hörte das Tuckern der Maschine und sah das gelbe, im Dunst eingeschlossene Licht der Brücke. Der Schiffer saß, wie es mir zugedacht war, auf dem hochbeinigen Hocker hinter dem Steuer und spähte hinaus auf den Fluss, in der Dunkelheit war die Ufermarkierung kaum zu erkennen.”
Die traumartigen Sequenzen in diesem Buch sind dagegen in helles Tageslicht getaucht: An Deck eines Fahrgastschiffes beobachtet Thomas eine „dunkle Gesellschaft”, „ganz in schwarz gekleidete Männer und Frauen”, „keine Miene regte sich in den blassen, ja weißen Gesichtern, ihr Blick ging nach vorn, und ihr Mund war ein dünner Strich, ein warmer Tag, aber die Luft über dem Sonnendeck schien gefroren”. Das sind die „Dunklen” oder die „Starren”, vor denen schon der Großvater gewarnt hat. Eine ominöse Geheimgesellschaft? Jedenfalls eine unerlöste Geistertruppe von Untoten, die durch den Roman manövriert wie das Gespensterschiff durch Wilhelm Hauffs gleichnamige Märchenerzählung.Und das Erscheinen der „Starren” zieht regelmäßig Unglück nach sich. In der folgenden Nacht sieht der Erzähler noch einmal die „ganze dunkle Gesellschaft”. In ihrer Mitte wird eine Frau mit einer Rute gezüchtigt, nicht ganz klar ist, ob zur Strafe oder zu ihrer Lust. Am nächsten Morgen verunglücken Züge und brechen die Börsenkurse ein - und der Erzähler verliert sein Steuermannspatent „für kleine Fahrt, Fluss- und Küstenmotorschiffe”. Ein bizarrer Zusammenhang. So naheliegend es wäre, diesem Einstieg das Etikett „surreal” anzuheften, der luziden Unwirklichkeit des Buches würde es nicht gerecht.
Wie von einem Bann belegt, tritt der Erzähler sofort die Flucht an, in ein niedersächsisches Dorf, das fernab von allen „Flüssen und flussähnlichen Gewässern” liegt. Doch das Wasser bleibt der heimliche Held in der Elementenordnung von „Dunkle Gesellschaft”. Fortan durchströmt es die Handlung als pausenloser Regen, der die Konturen der Landschaft aufweicht und auch die Grenzlinien der Erinnerung verwischt. Denn der Erzähler unternimmt Wanderungen „in zehn Regennächten” - das sind zugleich die Kapitel des Buches - und jedes dieser Regen-Nocturnes wird zu einem Streifzug, der auf assoziative Weise eine Episode aus seinem Leben aufruft, die irgendwie mit den „Dunklen” zusammenhängt: die Ausbildung zum Steuermann auf dem Naval College in London, die Arbeit als Schlafwagenschaffner, die ihn Mitte der achtziger Jahre kreuz und quer durch Europa führt, der Job als Flussfahrer in Hoboken oder als Agent einer Schifffahrtsgesellschaft im Brandenburgischen. Andere Kapitel in diesem Trans-Europa-Express der Erinnerung spielen im kommunistischen Polen, in Wien oder in Berlin-Charlottenburg.
Dabei ist das durchgängige nautische Interesse eine Art Hintergrundkulisse, es wird weniger ausformuliert als einfach behauptet. Etwa durch die Nennung von Buchtiteln wie „The Navigation of Flat-Bottomed Boats”, „The Deep” oder „The Great Basin of the Nile”, die Thomas als Zögling im Naval College studiert. Das Kapitel ist eine Internatsgeschichte mit maritimer Anmutung: Törleß und Hornblower, allerdings versetzt in die siebziger Jahre. Alles bleibt etwas schemenhaft, jeder Seite ist das Wasserzeichen des Fließenden und Flüchtigen eingeprägt. Noch dazu ist die Handlung eingehüllt von einem kolportageartigen Nebel wie aus dem Abenteuer- oder Spionageroman. Es gibt konspirative Treffpunkte, zeichenhafte Unglücksfälle, scheinbare Verabredungen, plötzliche Fluchten, detektivisches Kombinieren und Szenen voyeurhafter Sexualität.
In jedem Kapitel wird Spannung aufgebaut. So verschwindet auf dem Naval College ein Mitschüler, ein Lehrer wird tot aufgefunden. In einem anderen Kapitel verüben ein selbst ernannter Religionsstifter und seine Gruppe Brandanschläge und Morde. Der Roman ist voller Geheimnisse, Verschwörungen und Komplotte werden angedeutet, und stets scheint die Arkangesellschaft der „Starren” die Fäden zu ziehen.
Doch die Suspense wird nie aufgelöst - obwohl das letzte Kapitel den vielversprechenden Titel „Der Schlüssel” trägt. Zwar knüpfen die Episoden immer wieder an reale Orte und zeitgeschichtliche Ereignisse an - Falkland-Krieg, Wende, Oderflut -, aber „Dunkle Gesellschaft” ist wohl doch kein Schlüsselroman über düstere Machinationen am Gemeinwesen, keine Allegorie der Konspiration. Eher geht es um die Fragmente der Erfahrung, die die Hauptfigur Thomas mit epischer Naivität im eigenen Erzählfluss fragend zusammenzusetzen versucht: „War es in der folgenden Nacht?” So bleiben viele lose Enden - das muss man als Leser mögen. Aber der Roman von Gert Loschütz entwickelt durchaus eine Sogkraft, die der magnetischen Wirkung ähnelt, die das Wasser auf den Flussfahrer ausübt.
Am Schluss spürt Thomas wieder „dieses Ziehen und Zerren”, er will „zurück zu den Flüssen, zu den Anlegeplätzen, den Lagerhallen und Speichern, zwischen denen man sich verlieren konnte, nein, nicht zurück in meine Wohnung am Fluss, sondern auf ein Schiff”.
Gert Loschütz
Dunkle Gesellschaft
Roman in zehn Regennächten. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2005. 220 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Jedes Wasserzeichen gibt Rätsel auf: Gert Loschütz folgt einem Liebhaber der Flussläufe in den Nebel
Von Ralf Berhorst
Jeder Satz ist prägnant, klar und makellos. Und doch verschwimmen von Anfang an die Konturen des Erzählten, gleiten Erinnerungen wie unscharfe Traumbilder ineinander über. Oder vielleicht sollte man sagen: Sie ziehen an dem inneren Auge vorbei wie Kähne auf einem Fluss. Denn Thomas, der Ich-Erzähler in Gert Loschütz Roman „Dunkle Gesellschaft”, ist ein Liebhaber der Flussläufe, der seine Wohnungen danach auswählt, ob eines der Fenster aufs Wasser geht.
Nachts beobachtet Thomas die vorbeifahrenden Schiffe: „Ach, wie oft habe ich dort, wenn mich das Nebelhorn weckte, am Fenster gestanden, in der Luft hing der Geruch von verbranntem Öl, ich hörte das Tuckern der Maschine und sah das gelbe, im Dunst eingeschlossene Licht der Brücke. Der Schiffer saß, wie es mir zugedacht war, auf dem hochbeinigen Hocker hinter dem Steuer und spähte hinaus auf den Fluss, in der Dunkelheit war die Ufermarkierung kaum zu erkennen.”
Die traumartigen Sequenzen in diesem Buch sind dagegen in helles Tageslicht getaucht: An Deck eines Fahrgastschiffes beobachtet Thomas eine „dunkle Gesellschaft”, „ganz in schwarz gekleidete Männer und Frauen”, „keine Miene regte sich in den blassen, ja weißen Gesichtern, ihr Blick ging nach vorn, und ihr Mund war ein dünner Strich, ein warmer Tag, aber die Luft über dem Sonnendeck schien gefroren”. Das sind die „Dunklen” oder die „Starren”, vor denen schon der Großvater gewarnt hat. Eine ominöse Geheimgesellschaft? Jedenfalls eine unerlöste Geistertruppe von Untoten, die durch den Roman manövriert wie das Gespensterschiff durch Wilhelm Hauffs gleichnamige Märchenerzählung.Und das Erscheinen der „Starren” zieht regelmäßig Unglück nach sich. In der folgenden Nacht sieht der Erzähler noch einmal die „ganze dunkle Gesellschaft”. In ihrer Mitte wird eine Frau mit einer Rute gezüchtigt, nicht ganz klar ist, ob zur Strafe oder zu ihrer Lust. Am nächsten Morgen verunglücken Züge und brechen die Börsenkurse ein - und der Erzähler verliert sein Steuermannspatent „für kleine Fahrt, Fluss- und Küstenmotorschiffe”. Ein bizarrer Zusammenhang. So naheliegend es wäre, diesem Einstieg das Etikett „surreal” anzuheften, der luziden Unwirklichkeit des Buches würde es nicht gerecht.
Wie von einem Bann belegt, tritt der Erzähler sofort die Flucht an, in ein niedersächsisches Dorf, das fernab von allen „Flüssen und flussähnlichen Gewässern” liegt. Doch das Wasser bleibt der heimliche Held in der Elementenordnung von „Dunkle Gesellschaft”. Fortan durchströmt es die Handlung als pausenloser Regen, der die Konturen der Landschaft aufweicht und auch die Grenzlinien der Erinnerung verwischt. Denn der Erzähler unternimmt Wanderungen „in zehn Regennächten” - das sind zugleich die Kapitel des Buches - und jedes dieser Regen-Nocturnes wird zu einem Streifzug, der auf assoziative Weise eine Episode aus seinem Leben aufruft, die irgendwie mit den „Dunklen” zusammenhängt: die Ausbildung zum Steuermann auf dem Naval College in London, die Arbeit als Schlafwagenschaffner, die ihn Mitte der achtziger Jahre kreuz und quer durch Europa führt, der Job als Flussfahrer in Hoboken oder als Agent einer Schifffahrtsgesellschaft im Brandenburgischen. Andere Kapitel in diesem Trans-Europa-Express der Erinnerung spielen im kommunistischen Polen, in Wien oder in Berlin-Charlottenburg.
Dabei ist das durchgängige nautische Interesse eine Art Hintergrundkulisse, es wird weniger ausformuliert als einfach behauptet. Etwa durch die Nennung von Buchtiteln wie „The Navigation of Flat-Bottomed Boats”, „The Deep” oder „The Great Basin of the Nile”, die Thomas als Zögling im Naval College studiert. Das Kapitel ist eine Internatsgeschichte mit maritimer Anmutung: Törleß und Hornblower, allerdings versetzt in die siebziger Jahre. Alles bleibt etwas schemenhaft, jeder Seite ist das Wasserzeichen des Fließenden und Flüchtigen eingeprägt. Noch dazu ist die Handlung eingehüllt von einem kolportageartigen Nebel wie aus dem Abenteuer- oder Spionageroman. Es gibt konspirative Treffpunkte, zeichenhafte Unglücksfälle, scheinbare Verabredungen, plötzliche Fluchten, detektivisches Kombinieren und Szenen voyeurhafter Sexualität.
In jedem Kapitel wird Spannung aufgebaut. So verschwindet auf dem Naval College ein Mitschüler, ein Lehrer wird tot aufgefunden. In einem anderen Kapitel verüben ein selbst ernannter Religionsstifter und seine Gruppe Brandanschläge und Morde. Der Roman ist voller Geheimnisse, Verschwörungen und Komplotte werden angedeutet, und stets scheint die Arkangesellschaft der „Starren” die Fäden zu ziehen.
Doch die Suspense wird nie aufgelöst - obwohl das letzte Kapitel den vielversprechenden Titel „Der Schlüssel” trägt. Zwar knüpfen die Episoden immer wieder an reale Orte und zeitgeschichtliche Ereignisse an - Falkland-Krieg, Wende, Oderflut -, aber „Dunkle Gesellschaft” ist wohl doch kein Schlüsselroman über düstere Machinationen am Gemeinwesen, keine Allegorie der Konspiration. Eher geht es um die Fragmente der Erfahrung, die die Hauptfigur Thomas mit epischer Naivität im eigenen Erzählfluss fragend zusammenzusetzen versucht: „War es in der folgenden Nacht?” So bleiben viele lose Enden - das muss man als Leser mögen. Aber der Roman von Gert Loschütz entwickelt durchaus eine Sogkraft, die der magnetischen Wirkung ähnelt, die das Wasser auf den Flussfahrer ausübt.
Am Schluss spürt Thomas wieder „dieses Ziehen und Zerren”, er will „zurück zu den Flüssen, zu den Anlegeplätzen, den Lagerhallen und Speichern, zwischen denen man sich verlieren konnte, nein, nicht zurück in meine Wohnung am Fluss, sondern auf ein Schiff”.
Gert Loschütz
Dunkle Gesellschaft
Roman in zehn Regennächten. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2005. 220 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dies ist ein Roman, so kann man Heinrich Deterings Rezension zusammenfassen, der viel verspricht und zuletzt umso bitterer enttäuscht. Erzählt wird von einem Flussschiffer, der in den Dauerregen gerät, in dem dann jede Vernunft perdu geht. Gert Loschütz entwerfe eine so rätselhafte wie "finstere Welt" voller geheimnisvoller Figuren und Vorgänge, angelehnt an "romantische Schauermotive", aber auch nicht ohne "romantische Ironie". Und bis etwa zur Hälfte des Romans geht das auch gut, stellt Detering fest. Danach aber stürzt der Roman ab, meint er. Loschütz führe seine Gruselgeschichte auf abstruse Pfade, gerate ins Schwätzen und verlange seiner Sprache entschieden zu viel ab, was Detering mit Beispielen zu belegen sucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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