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Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Originaltitel: Our Fathers
  • Seitenzahl: 317
  • Abmessung: 30mm x 134mm x 210mm
  • Gewicht: 468g
  • ISBN-13: 9783455057300
  • ISBN-10: 3455057306
  • Artikelnr.: 24932628
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2000

Die Hügel erinnern sich
Zur Hälfte gelungen: Andrew O’Hagans Roman „Dunkles Herz”
Dieser Roman erzählt zwei Geschichten und er erzählt sie so, dass es zwei Geschichten bleiben – die Vereinbarung misslingt. Die erste Geschichte ist die von Jamie Bawn, die zweite die von James Bawn, dem Jamie, der erwachsen geworden ist. Und beide haben sie sogar verschiedene Väter: Jamie den leiblichen, einen Alkoholiker „von der Sorte, die tobt und jammert”, James einen Wahlvater, der eigentlich sein Großvater ist. Leid bringen beide Väter und bringen es nie über sich, auf Selbstrechtfertigungen zu verzichten.
Jamie/James, sein Vater, sein Großvater: Der erste Roman des 32-jährigen Schotten Andrew O’Hagan inszeniert Doppelungen und trägt mit Our Fathersnicht zufällig einen (Original-)Titel, der im Plural steht. Der schlimmste Fehler im Titel der deutschen Übersetzung ist deswegen der Singular: Dunkles Herz”. Dass dieser Titel außerdem ein Allerweltstitel ist, ist damit verglichen eher lässlich; dass er von Pathos nur so trieft, macht ihn leider nicht unpassend für dieses Buch – dessen Autor begierig in die Fallgrube fast jeder sich bietenden Tiefsinnigkeit stolpert.
Aber nicht jedes Pathos muss an sich schlecht sein. Auf behutsame und in jeder Hinsicht überzeugende Weise pathetisch ist das erste Kapitel, in dem James die Kindheit jenes Jamie entwirft, der er einmal war. Jamie entflieht der brutalisierten Vaterwelt in ein Reich der Träume und Sehnsüchte, befeuert von dem, was er in seinen Büchern liest. Der Reiz des Gelesenen ist umso größer, als der prügelnde Vater von derlei gar nichts hält. Seine Definition von Büchern lautet: „Ein Haufen Scheiße, nur was für öde Schlappschwänze, die nicht wissen, wie man sich amüsiert. ”
Jamie amüsiert sich nicht, sondern flüchtet so sehr in Lesewelten, dass er schließlich sogar die wirkliche Welt daran misst. Der Internatsausreißer Berry etwa kommt ihm bereits bekannt vor, als er ihn kennenlernt, denn der ist „jemand, den ich in meinem Kopf schon gesehen hatte: ein zitterndes Bündel aus den Büchern”. Der Lesestoff vermengt sich mit Erinnerungen und spiegelt sich in ihnen.
Es sind raffinierte Spiegeleffekte, mit denen O’Hagan seinen kindlichen Helden in den Blick nimmt. Gleich auf der ersten Seite erblickt Jamie im Fenster sich selbst: „In der Scheibe sahen meine Augen in meine Augen. ” Als er einmal vor einer Kneipe hockt, in der seine Eltern sich streiten, besieht er sich aus Langeweile die Menschen in vorüberfahrenden Bussen und stellt sich vor, wie die sich wohl später an ihn erinnern werden. Noch als Mann ist er beim Gang durch die Landschaft im Stande, sich zu überlegen, „an was diese Hügel erinnern und ob sie sich später an uns erinnern würden”. Mit Hilfe solcher Passagen, entwickelt aus dem träumerischen Bewusstsein eines Jungen, erzielt O’Hagan äußerst wirkungsvolle perspektivische Brechungen, die dazu beitragen, das Eingangskapitel zu einem stillen Juwel der Erzählkunst zu machen.
Umso schlimmer, dass dieser Impuls für den Rest des Romans praktisch folgenlos bleibt. In den weiteren sechs Kapiteln geht es um den unglücklich erwachsen gewordenen James und seinen im Sterben liegenden Großvater, der einmal ein „unermüdlicher Held des Wohnungsbaus” gewesen ist. Hugh Bawn hat sich in den Gründerjahren dem Sozialismus verschrieben und für das gekämpft, was ihm als Fortschritt galt: Hochhaussiedlungen hat er in Glasgow in Rekordzeit gebaut, und trotzig ist er nach der Pensionierung selbst in einen dieser Blocks gezogen. Obwohl allen außer ihm selbst klar ist, dass sich die Hoffnungen des sozialen Wohnungsbaus nicht erfüllt haben und die maroden Hochhäuser zu neuen Slums verkommen sind. Größte Ironie der Fehlplanungen: Als es ans Sterben geht, muss Hugh vorsorglich in ein Heim verlegt werden, weil die Aufzüge in seinem Block für einen Sarg zu klein sind.
Die Reise des Enkels zum sterbenden Großvater, die den Rahmen zu O’Hagans Roman abgibt, wird vom Autor nach bekanntem Strickmuster inszeniert, als Zeitsprung in die Vergangenheit, doch von der Faszination, die solche Romankonstruktionen haben können, ist hier nichts zu spüren. In langen Exkursen wird auf pamphlethafte Weise Familien- und Regionalgeschichte referiert; aus individuellen Szenen werden allzu eilfertig kollektive Befunde extrapoliert, wonach „Männer in Schottland” stets „Aggressionsmaschinen” und deswegen „für das Leid gemacht” sind. Den herbeigezwungenen Dualismus von Fortschritt und Rückkehr nimmt O’Hagan zum Anlass für analytisches Tiefschürfertum, unter dem sein unleugbar vorhandenes erzählerisches Potenzial gänzlich zerrieben wird. „Jeder von uns verbarg ein Jahrhundert voller Probleme” – das ist entschieden zu viel für ein Buch, das als Roman nur hätte funktionieren können, wenn die allfälligen „Familienleiden” („Keiner von uns war gut im Vergessen”) weniger abstrahiert und dafür konsequenter erzählerisch orchestriert worden wären.
Schade ist es einfach um die wunderbare Kindheitserzählung, mit der O’Hagan uns in seinen Roman hineinlockt, und um die perspektivischen Spiegeleffekte: beides wird verschenkt, weil es nicht fortgeschrieben wird. Nach zwei Drittel des Buches schaut der Held noch einmal in den Spiegel, doch wir erfahren bloß: „Mein Gesicht im Spiegel war dünn. ” So dünn wie mittlerweile diese Prosa. „Unser Universum war voller ungesagter Dinge”: Sie wären besser ungesagt geblieben.
FRIEDHELM RATHJEN
ANDREW O’HAGAN: Dunkles Herz. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Christ. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2000. 318 Seiten, 39,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Prächtig losgeschwommen und dann abgesoffen, könnte man das Fazit des Rezensenten Friedhelm Rathjen umschreiben. Rathjen lobt ausdrücklich O`Hagans Eingangskapitel, in dem der schottische Autor die Kindheit seines Helden aus einer raffinierten Perspektive schildere, in der sich die Erinnerungen - vor allem an Bücher - in dem wirklichen Geschehen spiegele. Diese "Brechungen" machten aus dem Eingangskapitel ein "stilles Juwel der Erzählkunst". Dann geht es allerdings rapide bergab. Im zweiten Teil referiere der erwachsene Held nur noch "auf pamphlethafte Weise" die Familiengeschichte. Platitüden und "analytisches Tiefschürfertum", schimpft Rathjen, "zerreiben gänzlich" O`Hagans zweifellos vorhandene Erzählkunst.

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