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Das Wolfszahn-Amulett ihrer syrischen Kinderfrau, die Streiche, Kämpfe und Freundschaften in der jüdischen Schule, das jährliche Wettschwimmen im Tigris, die Gesänge der Beduinenfrauen im Soukh, der Duft nach Orangenschalen auf dem Herd im Winter: Linas Alltag im Bagdad der sechziger Jahre ist voller Gerüche, Geschichten, Sprachen und Geräusche. Doch je älter sie wird, desto deutlicher bemerkt sie die Zeichen der Veränderung: arabische Männer, die eine mit Hose bekleidete Frau beschimpfen, weil sie auf der Straße ein Lied singt. Die leeren Bänke in der Schule, wenn wieder eine Freundin über…mehr

Produktbeschreibung
Das Wolfszahn-Amulett ihrer syrischen Kinderfrau, die Streiche, Kämpfe und Freundschaften in der jüdischen Schule, das jährliche Wettschwimmen im Tigris, die Gesänge der Beduinenfrauen im Soukh, der Duft nach Orangenschalen auf dem Herd im Winter: Linas Alltag im Bagdad der sechziger Jahre ist voller Gerüche, Geschichten, Sprachen und Geräusche. Doch je älter sie wird, desto deutlicher bemerkt sie die Zeichen der Veränderung: arabische Männer, die eine mit Hose bekleidete Frau beschimpfen, weil sie auf der Straße ein Lied singt. Die leeren Bänke in der Schule, wenn wieder eine Freundin über Nacht ins Ausland verschwunden ist. Als Flugblätter in arabischer Sprache vom Himmel regnen und den glorreichen Sieg der Revolution verkünden, weiß auch Lina, daß sich das weltoffene Bagdad vor den grauen VW-Käfern der Geheimpolizei fürchten muß ... Die sprachmächtige Beschwörung einer vergessenen Welt voller Lebensfreude und Phantasie und zugleich der literarische Triumph übe r die Melancholie der Erinnerung: Mona Yahias preisgekrönter Roman ist voller Einsicht und Witz, brillant und poetisch, und läßt an der Sehnsucht der Autorin nach ihrer Heimat keinen Zweifel.
Autorenporträt
Mona Yahia, 1954 in Bagdad geboren, emigrierte 1971 mit ihrer Familie nach Israel, leistete dort ihren Militärdienst, studierte Psychologie und französische Literatur, arbeitete bis 1985 in Tel Aviv als Psychologin, studierte Kunst in Kassel und lebt heute als freie Autorin in Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2003

Babylonische Gefangenschaft
Kriegsfalle: Mona Yahias Roman über die letzten Juden von Bagdad

Wenn Lebenserfahrung schon die Garantie für einen guten Roman wäre, würde es genügen, die wechselvolle Biographie der Autorin nachzuerzählen, und die außerordentliche Qualität dieses Buches wäre erklärt. Mona Yahia wurde 1954 in Bagdad geboren - als Jüdin. Zu diesem Zeitpunkt hatten 122000 der rund 130000 irakischen Juden das Land bereits in Richtung Israel verlassen und damit das Ende der jahrtausendealten jüdischen Präsenz im Zweistromland eingeleitet. Anders als in Europa, wo die Juden immer wieder verfolgt wurden, lebten sie im Irak bis ins zwanzigste Jahrhundert weitgehend unbehelligt. Als jedoch der Irak zusammen mit Palästina zum britischen Mandatsgebiet wurde, gerieten auch die irakischen Juden in den Sog der durch die jüdische Einwanderung herausgeforderten jüdisch-palästinensischen Auseinandersetzungen im Heiligen Land. Zu ersten Pogromen kam es 1941 nach einem prodeutschen Putsch im Irak, der von den Engländern bald niedergeschlagen wurde. Der erste arabisch-israelische Krieg von 1948 erhöhte den Druck auf die Juden so stark, daß viele versuchten, heimlich das Land zu verlassen, bis die irakische Regierung den Juden Anfang der fünfziger Jahre um den Preis der Ausbürgerung die Ausreise erlaubte. Nur wenige Tausend blieben, darunter auch die Familie von Mona Yahia. Im Jahr 1969 - der Zeitpunkt, mit dem das Buch beginnt und endet - machen sich auch die letzten in Bagdad verbliebenen irakischen Juden unter größten Gefahren zur Flucht bereit. Ihre Geschichte bildet den Hintergrund dieses Buchs.

Aber so viele Erinnerungen und Erlebnisse die Hauptfigur und Ich-Erzählerin, das Kind Lina, mit der Autorin auch teilen mag, um eine verkappte Autobiographie handelt es sich nicht. Der Roman ist viel zu konsequent und geschickt literarisch aufbereitet. Fast jedes Kapitel schlägt einen eigenen Spannungsbogen und bleibt doch mit der restlichen Geschichte verwoben. Soweit wie möglich werden die Ereignisse szenisch aufbereitet, der Dialog bestimmt weite Teile des Buchs. Informationen über die Geschichte der Juden im Irak, die als Exkurse kaum auffallen, vermitteln dem überraschten Leser die notwendigen Hintergrundinformationen. Die Erzählperspektive ist zunächst die des Kindes, dann der Pubertierenden.

Die jüdische Gemeinde, so wie Yahia es schildert, wird eindeutig diskriminiert, ist jedoch in der ersten Zeit nach der Auswanderungswelle von 1951 noch nicht wirklich bedroht. Meist bleiben die Juden unter sich. Die Kinder gehen in eine jüdische Schule. Daß sie latent gefährdet sind, erfahren sie nur, wenn es propalästinensische Demonstrationen oder wieder einmal einen Staatsstreich gibt. Dann haben sie schulfrei, weil die jüdische Schule das Ziel aufgebrachter Demonstranten sein könnte. Da jeder neue Machthaber seinen Vorgänger der Zusammenarbeit mit Israel bezichtigt, zieht sich die Schlinge um die Juden in Bagdad mit jedem Staatsstreich enger. Aber bis 1967 bleibt die Situation erträglich, wenngleich allen klar ist, daß sie in diesem Land keine Zukunft haben. Bis zu dieser Zeit dürfte sich diese Kindheit nur wenig von derjenigen muslimischer Kinder in Bagdad unterschieden haben, und wer in den fünfziger Jahren in einer deutschen Großstadt aufwuchs, dürfte Lina um den Reichtum an Gerüchen, Farben und Geschichten, die ein Kind damals in Bagdad noch sammeln konnte und die die Autorin jetzt so lebendig vermittelt, durchaus beneiden.

Nach der arabischen Niederlage im Sechstagekrieg spitzt sich die Situation der Juden dramatisch zu. Mona Yahia gelingt es, die politischen Ereignisse unmittelbar in die kleine Welt der pubertierenden Erzählerin einzubinden. Die Familie weiß nicht, ob sie zu Israel oder den Arabern halten soll, und die sich widersprechenden Meldungen der verschiedenen Sender stiften Verwirrung: "Jetzt sitzen wir in einem Krieg fest, vor dem wir weder fliehen noch an ihm teilnehmen können, ein Krieg, den wir so oder so verlieren werden. Wenn Israel geschlagen wird, verlieren wir Israel und all unsere Verwandten, und wenn Israel siegt, verlieren wir uns selbst."

Den tragischen Höhepunkt des Buches bildet die öffentliche Hinrichtung von neun Juden, die angeblich für Israel Spionage betrieben haben sollen. Statt aber das Ereignis unmittelbar zu schildern, greift Yahia auf eine literarische Technik zurück, die man aus dem Theater kennt. Ein für seinen Zynismus bekannter Schulfreund besucht Lina, die kaum je das Haus verläßt, und spannt sie mit seinen Berichten von den öffentlich zur Schau gestellten Leichen auf die Folter - und mit ihr den Leser. Von nun an fehlen immer mehr Schüler in der Schule, immer mehr Familien verlassen den Irak, die verbliebenen warten nur auf die Gelegenheit zur Flucht. Um die Angst zu vergessen, will Lina die arabischen Buchstaben, die sie am Anfang des Buchs zusammen mit den hebräischen und den englischen mühsam gelernt hat, aus ihrem Gedächtnis verbannen und entwickelt "ein systematisches Programm zum Verlernen des Arabischen", ihrer Muttersprache. Als sie davon erfährt, öffnet ihre Freundin Selma ihr die Augen: "Klingen Worte schmutzig oder süß, wenn sie nicht arabisch sind? Kannst du in irgendeiner Sprache zwischen den Zeilen lesen? Kannst du über englische Witze lachen, verstehst du französische Wortspiele? Kannst du multiplizieren oder auch nur zählen, kannst du fluchen, kannst du dich in einer anderen Sprache als Arabisch erinnern?"

Mona Yahia hat mit ihrem Buch die Antwort gegeben. Nach der Flucht ging sie zunächst nach Israel, studierte dort Französisch und Psychologie, reiste nach Europa, blieb eine Weile in Paris, kehrte nach Israel zurück und lebt seit 1985 in Deutschland. Sie besuchte die Kunsthochschule in Kassel und arbeitet heute hauptberuflich als Psychologin. Das Arabische beherrscht sie immer noch, aber eben auch Hebräisch, Französisch, Deutsch und Englisch, die Sprache, in der sie dieses Erinnerungsbuch geschrieben hat. Denn, so schreibt sie, "die englische Sprache hat mich nie verletzt oder im Stich gelassen oder mißbraucht wie das Arabische und auch keinen Absolutheitsanspruch erhoben wie das Hebräische. Im Gegenteil, als eine fremde Sprache läßt sie mir die sichere Distanz zu meiner Welt - ein Niemandsland in meinem Kopf."

Mit Mona Yahia ragt das Ende der ältesten Geschichte, der Geschichte der Juden im Irak, in den Anfang der neuesten, der des polyglotten, transnationalen Weltbürgertums, das es als sinnlos erscheinen läßt, nach Identitäten, Muttersprachen und vielleicht auch Religionen zu fragen. Wie und was dann erzählt werden kann, wird Mona Yahia uns in ihrem nächsten Buch verraten.

STEFAN WEIDNER

Mona Yahia: "Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Aeckerle. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 426 S., geb., 22,- [Euro].

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