"Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?"Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamow zieht den Leser der Erzählungen aus Kolyma, deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg:"Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2008Die Poetik des Sterbens
Warlam Schalamows Kurzgeschichten aus dem Gulag
Deutsche Konzentrationslager haben ihren Platz in der Literatur. Von den Lagern des stalinistischen Gulag weiß man hingegen wenig. Vom einen auf das andere zu schließen, wäre ein Fehler. Seine Jugend abgezogen, bestand das Leben des Journalisten Warlam Schalamow aus zwei Teilen. Erst war er fast 18 Jahre lang in den Lagern des hohen Nordens eingesperrt. Dann, nachdem Stalins Tod 1953 ihm die Freiheit geschenkt hatte, verbrachte er viele Jahre damit, seine Erlebnisse auf den Begriff zu bringen. Wer den Körpersäften, die bei Jonathan Littell in die Gegend spritzen, literarisch nichts abgewinnen kann, darf sich Schalamow und seiner Übersetzerin Gabriele Leupold anvertrauen, die mit diesem Buch für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2008 nominiert ist.
Angesichts des Bankrotts der humanistischen Ideale, der ihm im Gulag augenfällig wurde, hielt Schalamow die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Romanform für überholt. Drei Wochen dauerte es im Schnitt, bis ein Intellektueller in den Goldbergwerken im Osten Sibiriens auf seine Kenntnisse nichts mehr gab. Hunger, Gewalt und Arbeit bei mehr als minus 50 Grad Kälte zersetzten jedes Individuum. Undenkbar schien Schalamow die Vorstellung, einen Mann, dessen Denken erstarrt ist, reduziert auf den Wunsch nach Wärme, Schlaf und Brot, zum Protagonisten eines Romans zu machen. So ein Mann hat keine Sprache mehr. Er ist wie ausgelöscht.
Die Hände der Häftlinge in den Bergwerken der Kolyma waren denaturiert und nur noch wie „Prothesen” benutzbar: „In den eineinhalb Jahren Arbeit in der Grube hatten sich beide Hände auf die Dicke des Schaufel- oder Hackengriffs gekrümmt und waren, so schien es Andrejew, für immer erstarrt.” Seine Erfahrungen im Gulag hat Schalamow nicht in Romane, sondern auf Hunderte Seiten in episodisch erzählte, artistisch hochdisziplinierte Literatur umgewandelt. Dass er als Journalist und als Lyriker angefangen hatte, merkt man den Texten an: Da hat jedes Wort seinen Sinn. Da ist kein Wort zu viel. In der poetischen Lakonik seiner Kurzgeschichten spiegelt sich seine schwarze Anthropologie. Dieser Autor vertraut Pflanzen und Steinen mehr als Menschen.
Das zäheste aller Tiere
Die Lager des Gulag waren anders als deutsche KZs. Im KZ fürchteten die Häftlinge sich vor einer Lungenentzündung. Im Gulag sehnten sie sie herbei. Im KZ starben viele Arbeitssklaven nach einigen Monaten. Die Gefangenschaft im Gulag konnte zwanzig Jahre währen. Die Bücher von Eugen Kogon, Robert Antelme, Primo Levi, Jorge Semprún und vielen anderen zeugen von der Gewissheit, dass die humanistische Ethik im KZ nicht zugrunde gegangen sei. Nach fast 18 Lagerjahren hatte Schalamow diese Gewissheit verloren. Der Mensch, den er in Gestalt der Russen kennengelernt hatte, war ihm zuwider. Er habe, schrieb er, „den unwiderstehlichen Drang des russischen Menschen zur Denunziation” erkannt. „Der Mensch ist nicht darum zum Menschen geworden, weil er Gottes Geschöpf ist, und auch nicht, weil er an jeder Hand einen bemerkenswerten Daumen hat, sondern weil er physisch kräftiger und zäher war als alle Tiere.” In der Kolyma starben die Pferde ohne Verzug, obwohl sie besser ernährt wurden als die Menschen. Der Mensch „lebt von demselben, was den Stein, den Baum, den Vogel, den Hund leben lässt. Doch er klammert sich fester ans Leben als sie”. Das war der ganze Unterschied.
Nein, Schalamow war nicht der liebenswürdige, in TV-Shows präsentable Überlebende, dessen Menschenliebe den Nachgeborenen ein anrührendes Beispiel gibt. Aber als Autor wollte er sein Publikum erreichen, er wollte – trotz seiner Skepsis – vermitteln, was er erlebt hatte. Das war die Hoffnung, die ihm geblieben war, vom gelebten Leben hatte er sich auf das papierene zurückgezogen. Wenn der Schriftsteller sein Material zu gut kenne, schrieb er, „verstehen ihn jene nicht, für die er schreibt. Der Schriftsteller hat sie verraten, hat sich auf die Seite seines Materials geschlagen”.
Das wollte Schalamow nicht, so wenig, wie er sich im Lager auf die Seite der Machthaber schlagen wollte. 1961 schrieb er, „stolz” darauf zu sein, gleich zu Beginn seiner Haft beschlossen zu haben, „niemals Brigadier zu werden”: An anderen Häftlingen wollte er nicht schuldig werden. Schalamow haderte mit Tolstois Idee der „Nichtwidersetzung” gegen das Böse. Doch genau das praktizierte er selbst. Er lernte, die literarische russische Tradition abzulehnen – und steht doch mittendrin. Überlebt hat er nur, weil er einen Arzt kennenlernte, der ihm ermöglichte, sich zum Krankenpfleger ausbilden zu lassen, sodass er nicht mehr in die Grube musste.
Jonathan Littell, der aus der Perspektive eines SS-Mannes schrieb, hat keine Formulierung zustande gebracht, die für sich stehen kann. Insofern hat sein Buch ein Diktum Claude Lanzmannsbestätigt: Täter reden nicht. Warlam Schalamows Prosa ist das Gegenstück. Alle seine Beobachtungen sind wichtig, und in ihrer Präzision sind sie schön. Mag es um erfrorene Zehen gehen oder um Bäume, die im Norden wie die Menschen „im Liegen” sterben. FRANZISKA AUGSTEIN
WARLAM SCHALAMOW: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007. 342 S., 22,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Warlam Schalamows Kurzgeschichten aus dem Gulag
Deutsche Konzentrationslager haben ihren Platz in der Literatur. Von den Lagern des stalinistischen Gulag weiß man hingegen wenig. Vom einen auf das andere zu schließen, wäre ein Fehler. Seine Jugend abgezogen, bestand das Leben des Journalisten Warlam Schalamow aus zwei Teilen. Erst war er fast 18 Jahre lang in den Lagern des hohen Nordens eingesperrt. Dann, nachdem Stalins Tod 1953 ihm die Freiheit geschenkt hatte, verbrachte er viele Jahre damit, seine Erlebnisse auf den Begriff zu bringen. Wer den Körpersäften, die bei Jonathan Littell in die Gegend spritzen, literarisch nichts abgewinnen kann, darf sich Schalamow und seiner Übersetzerin Gabriele Leupold anvertrauen, die mit diesem Buch für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2008 nominiert ist.
Angesichts des Bankrotts der humanistischen Ideale, der ihm im Gulag augenfällig wurde, hielt Schalamow die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Romanform für überholt. Drei Wochen dauerte es im Schnitt, bis ein Intellektueller in den Goldbergwerken im Osten Sibiriens auf seine Kenntnisse nichts mehr gab. Hunger, Gewalt und Arbeit bei mehr als minus 50 Grad Kälte zersetzten jedes Individuum. Undenkbar schien Schalamow die Vorstellung, einen Mann, dessen Denken erstarrt ist, reduziert auf den Wunsch nach Wärme, Schlaf und Brot, zum Protagonisten eines Romans zu machen. So ein Mann hat keine Sprache mehr. Er ist wie ausgelöscht.
Die Hände der Häftlinge in den Bergwerken der Kolyma waren denaturiert und nur noch wie „Prothesen” benutzbar: „In den eineinhalb Jahren Arbeit in der Grube hatten sich beide Hände auf die Dicke des Schaufel- oder Hackengriffs gekrümmt und waren, so schien es Andrejew, für immer erstarrt.” Seine Erfahrungen im Gulag hat Schalamow nicht in Romane, sondern auf Hunderte Seiten in episodisch erzählte, artistisch hochdisziplinierte Literatur umgewandelt. Dass er als Journalist und als Lyriker angefangen hatte, merkt man den Texten an: Da hat jedes Wort seinen Sinn. Da ist kein Wort zu viel. In der poetischen Lakonik seiner Kurzgeschichten spiegelt sich seine schwarze Anthropologie. Dieser Autor vertraut Pflanzen und Steinen mehr als Menschen.
Das zäheste aller Tiere
Die Lager des Gulag waren anders als deutsche KZs. Im KZ fürchteten die Häftlinge sich vor einer Lungenentzündung. Im Gulag sehnten sie sie herbei. Im KZ starben viele Arbeitssklaven nach einigen Monaten. Die Gefangenschaft im Gulag konnte zwanzig Jahre währen. Die Bücher von Eugen Kogon, Robert Antelme, Primo Levi, Jorge Semprún und vielen anderen zeugen von der Gewissheit, dass die humanistische Ethik im KZ nicht zugrunde gegangen sei. Nach fast 18 Lagerjahren hatte Schalamow diese Gewissheit verloren. Der Mensch, den er in Gestalt der Russen kennengelernt hatte, war ihm zuwider. Er habe, schrieb er, „den unwiderstehlichen Drang des russischen Menschen zur Denunziation” erkannt. „Der Mensch ist nicht darum zum Menschen geworden, weil er Gottes Geschöpf ist, und auch nicht, weil er an jeder Hand einen bemerkenswerten Daumen hat, sondern weil er physisch kräftiger und zäher war als alle Tiere.” In der Kolyma starben die Pferde ohne Verzug, obwohl sie besser ernährt wurden als die Menschen. Der Mensch „lebt von demselben, was den Stein, den Baum, den Vogel, den Hund leben lässt. Doch er klammert sich fester ans Leben als sie”. Das war der ganze Unterschied.
Nein, Schalamow war nicht der liebenswürdige, in TV-Shows präsentable Überlebende, dessen Menschenliebe den Nachgeborenen ein anrührendes Beispiel gibt. Aber als Autor wollte er sein Publikum erreichen, er wollte – trotz seiner Skepsis – vermitteln, was er erlebt hatte. Das war die Hoffnung, die ihm geblieben war, vom gelebten Leben hatte er sich auf das papierene zurückgezogen. Wenn der Schriftsteller sein Material zu gut kenne, schrieb er, „verstehen ihn jene nicht, für die er schreibt. Der Schriftsteller hat sie verraten, hat sich auf die Seite seines Materials geschlagen”.
Das wollte Schalamow nicht, so wenig, wie er sich im Lager auf die Seite der Machthaber schlagen wollte. 1961 schrieb er, „stolz” darauf zu sein, gleich zu Beginn seiner Haft beschlossen zu haben, „niemals Brigadier zu werden”: An anderen Häftlingen wollte er nicht schuldig werden. Schalamow haderte mit Tolstois Idee der „Nichtwidersetzung” gegen das Böse. Doch genau das praktizierte er selbst. Er lernte, die literarische russische Tradition abzulehnen – und steht doch mittendrin. Überlebt hat er nur, weil er einen Arzt kennenlernte, der ihm ermöglichte, sich zum Krankenpfleger ausbilden zu lassen, sodass er nicht mehr in die Grube musste.
Jonathan Littell, der aus der Perspektive eines SS-Mannes schrieb, hat keine Formulierung zustande gebracht, die für sich stehen kann. Insofern hat sein Buch ein Diktum Claude Lanzmannsbestätigt: Täter reden nicht. Warlam Schalamows Prosa ist das Gegenstück. Alle seine Beobachtungen sind wichtig, und in ihrer Präzision sind sie schön. Mag es um erfrorene Zehen gehen oder um Bäume, die im Norden wie die Menschen „im Liegen” sterben. FRANZISKA AUGSTEIN
WARLAM SCHALAMOW: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007. 342 S., 22,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Olga Martynova beschäftigt sich in einem Essay mit der Frage, warum Solschenizyns Roman "Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch" in der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte und dem Autor letztlich zum Nobelpreis verhalf, während Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" nahezu unbekannt blieb. Für die Rezensentin, das lässt sie durchblicken, ist Schalamow der größere Schriftsteller von beiden, dessen "Erzählungen aus Kolyma" in der Sowjetunion nicht mehr zu seinen Lebzeiten erschienen sind. In ihnen berichtet der Autor in "schonungsloser" Präzision und knapper Nüchternheit vom unmenschlichen Alltag in den Lagern der unwirtlichen Kolyma-Region, wobei für ihn die Erniedrigungen durch die mitinhaftierten "Kriminellen" noch schwerer zu ertragen waren als die menschenfeindliche Natur, so Martynova. Grundsätzlicher Unterschied zwischen Solschenizyn und Schalamow sei, dass ersterer sich in seinem Werk für "große Ideen" und Politik einsetzte, Schalamow dagegen, desillusioniert und verbittert, vor allem seine Erlebnisse dokumentieren wollte. Martynova erhofft sich, dass durch die deutsche Publikation der "Erzählungen aus der Kolyma" sich der Blick für das "herzzerreißend vollendete" Leben und Werk dieses Schriftstellers öffnet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH