Wer je im Süden Frankreichs unterwegs war, wird es sofort gespürt haben: Dies ist ein gesegnetes Land. Hochkultur von den Römern bis heute, unerschöpflich in seiner mehr als 2000jährigen Geschichte, in seiner Schönheit und der Reichhaltigkeit des Lebensgenusses. Es ist eine Gegend, die suchterzeugend wirkt, nicht nur wegen der Annehmlichkeiten des alltäglichen "Savoir vivre", sondern auch weil man bald mehr wissen will über die Zeugen der kulturellen Vergangenheit, die einem auf Schritt und Tritt begegnen. Dies umso mehr, als man spürt: Alle sind sie hier einmal gewesen, die großen Künstler und Schriftsteller aus ganz Europa, sei es als Reisende, Einwanderer oder Emigranten auf der Flucht. In der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts spielt der Süden Frankreichs deswegen eine besondere Rolle; Sanary-sur-mer entwickelte sich ab 1933 zu einem Zentrum des literarischen Exils, und da der "Midi" nach Ausbruch des Krieges noch lange Zeit unbesetzt blieb, konnten sich viele von hieraus retten: per Schiff von Marseille oder durch Überquerung der Pyrenäen. Manfred Hammes geht all diesen Spuren nach: Das Rhonetal abwärts reisend, durch streift er die "mittäglichen Provinzen Frankreichs" zwischen spanischer und italienischer Grenze. Er berichtet von Autoren und Künstlern, die geliebt, verfolgt oder gefeiert wurden, erzählt von geheimnisvollen Orten, die man nicht verpassen sollte, und gibt nebenher kulinarische Empfehlungen, die eine Südfrankreich-Reise vollends unvergesslich machen.
Sollten Sie einen Châteauneuf-du-Pape der großen Jahrgänge im Keller haben, er wäre die angemessene Begleitung zur Lektüre dieses Buchs. Denn es richtet sich ausdrücklich auch an jene Liebhaber des Reisens, die dazu ihre Leseecke nur ungern verlassen. Einen "Reiseverführer" nennt es der Autor und untertreibt maßlos. Zwei Jahrzehnte hat er Material gesammelt, noch länger ist ihm Frankreichs Süden mehr als nur Wahlheimat. Man spürt von der ersten Zeile an: Da schreibt ein Eingesessener, nicht ein Durchreisender. Entstanden ist darüber kein Aussteiger-Entschleunigungs-Selbstfindungs-Geschwurbel, sondern eine profunde Kulturgeschichte, glänzend formuliert, prachtvoll bebildert und vom Verlag wunderschön ausgestattet. Der Schwerpunkt Literatur ist eine Referenz an das Nachbarland, genießt sie dort doch ungleich höheren Stellenwert als hierzulande. Ihren Spuren folgt der Autor auf den großen Routen, in den Städten, über waghalsige Bergpisten und noch in weltfernste Nester. Wahrscheinlich gibt es in Südfrankreich kein Nebensträßchen, das er nicht abgefahren, keinen Saumpfad, den er nicht abgegangen wäre, so bildhaft und präzise beschreibt er die Schauplätze. Dabei lagen ihm die Schicksale jener Schriftsteller besonders am Herzen, die dort Zuflucht vor den Nazis fanden. Es ist vielleicht die fundierteste Darstellung zu diesem Thema, ganz gewiss ist es die am besten geschriebene. Eine wahre Comédie humaine, ein Kaleidoskop aus Fakten, Geschichten, Zitaten und Anekdoten, ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk nicht zuletzt durch das ausführliche Register. Dass mit der Literatur- und Kulturgeschichte Südfrankreichs die Kulinarik aufs engste verwoben ist, versteht sich. Es sind Geschichten von der Kunst des Genießens, von Menschen und Käuzen, von verführerisch klingenden Spezialitäten und sonnensatten Weinen. Dabei versteht der Autor unter Genuss keine esoterische Spielart von Essstörungen und Gastronomie nicht als Konzeptkunst kochender Narzissten. Seine Hingabe gilt Wirtshäusern, die vom Charakter des Patrons geprägt werden, nicht von den Allüren der Gäste. Und er genießt einfache bäuerliche Produkte, gern mit einem funkelnden Rosé im Glas, ohne sie in Reliquien ästhetischer Daseinsüberhöhung zu transzendieren. Gerade auch die lukullischen Streifzüge zu unscheinbaren Orten, wo das Wesentliche im Verborgenen blüht, machen den Charme dieses Opus Magnum des Midi aus. Jede Seite klingt nach Leidenschaft und der Kunst des schönen Lebens à la française. Sei es die Begegnung mit Menschen, mit Artefakten oder das Erlebnis anmutiger Landschaften: Die Begeisterung dieses glücklichen Sisyphos klingt auf jeder Seite an. Die Materialfülle ist ungeheuer. Nebenbei erfährt man, was es mit der Schönheit der Frauen von Arles auf sich hat, warum ein van Gogh in einem Kaninchenstall landete, wo man Autos mit frisch eingefräster Motornummer und eine Kalaschnikow secondhand erwerben kann. Darüber vergeht die Reise durch siebenhundert Seiten wie im Flug.
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"Durch den Süden Frankreichs - Literatur Kunst Kulinarik" von Manfred Hammes. Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2019. 704 Seiten, 1300 Abbildungen. Gebunden, 29,80 Euro.
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