»Einer der wichtigsten Autoren meiner Generation« Karl Ove KnausgårdKarl Meyer ist Zahnarzt und führt ein durch und durch bürgerliches Leben. Doch als sein erst achtzehnjähriger Sohn Ole-Jakob Suizid begeht, droht es die Familie zu zerreißen. Karls Frau Eva steht unter Schock, die Tochter Stine verstummt. Auch Karl ist in seiner Trauer gefangen. Er denkt zurück an sein Kind, vor allem aber an das, was die Familie schon vor dessen Tod auf eine Belastungsprobe stellte: Karls Liebschaft mit der deutlich jüngeren Mona. Ist es diese Affäre, die Ole-Jakob in den Tod getrieben hat? Die Schuldfrage steht im Raum - und Karl läuft davon. Er begibt sich auf eine Reise in die Slowakei. Dort hofft er, Erlösung zu finden: in einem Haus, in dem man, so heißt es, mit seinen tiefsten Ängsten konfrontiert wird - und das man entweder gebrochen oder geheilt verlässt.'Durch die Nacht' ist die Anatomie eines Trauerprozesses und ein Buch, das unter die Haut geht. Stig Sæterbakken schont seine Leser nicht. Dieser so dringlich erzählte Roman schildert die Abgründe, die in uns allen lauern, und wie leicht wir die verletzen, die uns nahe stehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2019Der Sonntag, an dem ich verrückt wurde
Stig Sæterbakkens Trauerroman "Durch die Nacht"
Die Korkpinnwand neben dem Kühlschrank ist verschwunden. Stattdessen hängt dort ein Kalender, in den die Aktivitäten von drei Menschen eingetragen sind. Eigentlich müssten es vier sein. Doch der vierte Mensch, dessen Blick auf den Kalender fällt, ist nicht mehr Teil der Familie. Er kommt jetzt zu Besuch in das Haus, in dem er früher gelebt hat, und betrachtet es als Fremder. Auch eine neue Schürze hängt neben der Spüle - "sichtbares Zeichen" dafür, dass die Frau nun allein in diesem Haus bestimmt.
Es ist eine alte Trennungsgeschichte, und doch ist sie immer neu. Stig Sæterbakken erzählt sie mit lakonischem Blick auf die äußeren Anzeichen, die solch ein Familienzerfall mit sich bringt. Der Sohn, bald achtzehn, benutzt das vom Vater geschenkte Fahrrad nicht mehr, wohl aus Trotz. "Die Kette rostete und hing schlaff durch, der Sitz war an den Seiten aufgeschlitzt, als wäre jemand mit dem Messer auf ihn losgegangen." Die jüngere Tochter immerhin präsentiert noch stolz eine Urkunde. Die Hände der Mutter sind kalt wie Stein, als der Vater sie berührt.
Das ist alles traurig genug - aber noch nichts im Vergleich dazu, was noch kommen wird. Denn dieser Roman ist mehr als eine Variante moderner Beziehungsmisere, in der manche ihre eigene wiedererkennen mögen; er ist vielmehr der Horrortrip eines Menschen, der auf der ersten Seite schon bekundet, in andauernder Nacht zu leben. Zu Beginn ist die Katastrophe bereits geschehen, wir lesen von ihr in Rückblenden, so durcheinandergeraten wie ihr Erzähler. Dessen Sohn nämlich ist tot, bevor er erwachsen wird. Und es scheint klar, wer daran die Schuld tragen soll.
Alles hätte anders verlaufen können, wenn der Vater an einem Abend Jahre zuvor einfach zu Hause geblieben wäre. Wenn er keine Affäre begonnen hätte, nicht ausgezogen wäre, nicht seine Familie zerstört hätte. Aber ist es wirklich so einfach? Der Verzweifelte scheint es irgendwann selbst zu glauben, nach weiteren drei Jahren mit Frau und Tochter, die ihn offenbar hassen, wird er ein zweites Mal ausziehen und sich auf eine Reise in noch tiefere Dunkelheit begeben, die den Roman schließlich Richtung David Lynch abbiegen lässt, in ein sonderbares Haus tief in der Slowakei, dessen Besucher "mit den schlimmsten Ängsten ihres Lebens konfrontiert werden". Er wird aber auch eine andere Frau vor dem Suizid retten, die schon am Brückengeländer steht, bevor er schließlich in ein Traumland einbiegt, in dem ewige Weihnacht ist.
Sæterbakkens Roman hat die Qualität, die zuletzt beschriebenen Wendungen nicht völlig aus der Luft gegriffen wirken zu lassen, sondern als tatsächlich konsequente Folge äußerlichen und psychischen Erlebens, das auf einem alles bestimmenden Knacks beruht. "Als ich an einem Sonntag verrückt wurde", beginnt etwa ein Textabschnitt. Der Erzähler steht vor einer laufenden Waschmaschine, zitternd an Armen und Beinen, und "mit diesem Zittern kam eine Art Schluchzen", man weiß nicht, ob von der Maschine oder vom Menschen. "Ich sah eine Zeichentrickfigur vor mir, irgendeinen Volltrottel nach dem Zusammenprall mit einem Fahnenmast, das Gesicht fast aufgelöst flimmernd in einem trockenen Weinen ohne Tränen."
Eine Erschütterung ist auch dieses Buch, das in gewisser Weise unabgeschlossen bleibt. Im Original 2011 erschienen, bleibt es der letzte Roman seines 1966 in Lillehammer geborenen Verfassers. Stig Sæterbakken nahm sich 2012 das Leben.
JAN WIELE
Stig Sæterbakken: "Durch die Nacht". Roman.
Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Welzig. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stig Sæterbakkens Trauerroman "Durch die Nacht"
Die Korkpinnwand neben dem Kühlschrank ist verschwunden. Stattdessen hängt dort ein Kalender, in den die Aktivitäten von drei Menschen eingetragen sind. Eigentlich müssten es vier sein. Doch der vierte Mensch, dessen Blick auf den Kalender fällt, ist nicht mehr Teil der Familie. Er kommt jetzt zu Besuch in das Haus, in dem er früher gelebt hat, und betrachtet es als Fremder. Auch eine neue Schürze hängt neben der Spüle - "sichtbares Zeichen" dafür, dass die Frau nun allein in diesem Haus bestimmt.
Es ist eine alte Trennungsgeschichte, und doch ist sie immer neu. Stig Sæterbakken erzählt sie mit lakonischem Blick auf die äußeren Anzeichen, die solch ein Familienzerfall mit sich bringt. Der Sohn, bald achtzehn, benutzt das vom Vater geschenkte Fahrrad nicht mehr, wohl aus Trotz. "Die Kette rostete und hing schlaff durch, der Sitz war an den Seiten aufgeschlitzt, als wäre jemand mit dem Messer auf ihn losgegangen." Die jüngere Tochter immerhin präsentiert noch stolz eine Urkunde. Die Hände der Mutter sind kalt wie Stein, als der Vater sie berührt.
Das ist alles traurig genug - aber noch nichts im Vergleich dazu, was noch kommen wird. Denn dieser Roman ist mehr als eine Variante moderner Beziehungsmisere, in der manche ihre eigene wiedererkennen mögen; er ist vielmehr der Horrortrip eines Menschen, der auf der ersten Seite schon bekundet, in andauernder Nacht zu leben. Zu Beginn ist die Katastrophe bereits geschehen, wir lesen von ihr in Rückblenden, so durcheinandergeraten wie ihr Erzähler. Dessen Sohn nämlich ist tot, bevor er erwachsen wird. Und es scheint klar, wer daran die Schuld tragen soll.
Alles hätte anders verlaufen können, wenn der Vater an einem Abend Jahre zuvor einfach zu Hause geblieben wäre. Wenn er keine Affäre begonnen hätte, nicht ausgezogen wäre, nicht seine Familie zerstört hätte. Aber ist es wirklich so einfach? Der Verzweifelte scheint es irgendwann selbst zu glauben, nach weiteren drei Jahren mit Frau und Tochter, die ihn offenbar hassen, wird er ein zweites Mal ausziehen und sich auf eine Reise in noch tiefere Dunkelheit begeben, die den Roman schließlich Richtung David Lynch abbiegen lässt, in ein sonderbares Haus tief in der Slowakei, dessen Besucher "mit den schlimmsten Ängsten ihres Lebens konfrontiert werden". Er wird aber auch eine andere Frau vor dem Suizid retten, die schon am Brückengeländer steht, bevor er schließlich in ein Traumland einbiegt, in dem ewige Weihnacht ist.
Sæterbakkens Roman hat die Qualität, die zuletzt beschriebenen Wendungen nicht völlig aus der Luft gegriffen wirken zu lassen, sondern als tatsächlich konsequente Folge äußerlichen und psychischen Erlebens, das auf einem alles bestimmenden Knacks beruht. "Als ich an einem Sonntag verrückt wurde", beginnt etwa ein Textabschnitt. Der Erzähler steht vor einer laufenden Waschmaschine, zitternd an Armen und Beinen, und "mit diesem Zittern kam eine Art Schluchzen", man weiß nicht, ob von der Maschine oder vom Menschen. "Ich sah eine Zeichentrickfigur vor mir, irgendeinen Volltrottel nach dem Zusammenprall mit einem Fahnenmast, das Gesicht fast aufgelöst flimmernd in einem trockenen Weinen ohne Tränen."
Eine Erschütterung ist auch dieses Buch, das in gewisser Weise unabgeschlossen bleibt. Im Original 2011 erschienen, bleibt es der letzte Roman seines 1966 in Lillehammer geborenen Verfassers. Stig Sæterbakken nahm sich 2012 das Leben.
JAN WIELE
Stig Sæterbakken: "Durch die Nacht". Roman.
Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Welzig. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Empathie für das Unvorstellbare
Stig Sætterbakkens letzter Roman „Durch die Nacht“
Karl Meyer ist am Ende: sein achtzehnjähriger Sohn hat sich umgebracht. „Tausend Mal am Tag vergaß ich, dass Jakob-Ole tot war. Tausend Mal am Tag fiel es mir plötzlich wieder ein. Beides war unerträglich. Ihn zu vergessen war das Schlimmste, was ich tun konnte. An ihn zu denken war das Schlimmste, was ich tun konnte.“ Auf der Suche nach den Gründen für den Freitod seines Sohnes findet Meyer die Schuld bei sich selbst: Er war es, der die Familie für eine Affäre mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau verlassen hatte, der weglief von seiner Ehefrau und den beiden Kindern.
Der Roman erzählt die Zeit vor und nach dem Unglück. Sæterbakken geht es dabei um die Extremsituationen: im Äußersten soll sich das Wesen, die Natur des Menschen, sein Eigentliches zeigen. Eine zentrale und zugleich umstrittene Figur in der norwegischen Literaturlandschaft, war Sæterbakken Zeit seines Lebens (1966–2012), ein literarischer Extremist. Schon sehr früh erregte er Mitte der 1980er-Jahre durch eine Gedichtsammlung Aufmerksamkeit, die er als achtzehnjähriger Schüler veröffentlichte. Neben den zahlreichen Romanen schrieb er Essays und übersetzte die Werke Ján Buzássys, Ivan Kupecs und Nikanor Teratologens ins Norwegische. Er war künstlerischer Leiter des Literaturfestivals in Lillehammer, bis er 2009 seinen Posten verliert, als er den Holocaustleugner David Irving einlädt.
„Durch die Nacht“ ist ein Tagebuch der Trauer, der Flucht vor einer unerträglichen Wirklichkeit, erzählt aus der Perspektive eines Vaters, eines Ehebrechers, eines Verrücktgewordenen, einer ganz und gar gebrochenen Figur. Meyer zu bemitleiden, fällt aber nicht leicht. Er ist ein heilloser Pathetiker und damit die klischeehafte Verkörperung eines gewissen dunklen Tons, einer existenziellen Motivik, des scandinavian blues, der mit Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal und Merethe Lindstrøm in den letzten Jahren zur trademark norwegischer Literatur geworden ist. Existenzielle „Wirklichkeitsliteratur“, die von der allzumenschlichen Wahrheit des Liebens, Lebens und Träumens erzählt, von Schmerz, von Rausch, Einsamkeit und Kompromisslosigkeit. Wenn Meyer von der Zeit des Kennenlernens seiner Frau Eva erzählt, wird er hyperbolisch, seine Verliebtheit steigert sich zur größten Liebe aller Zeiten, eine Trennung das Ende der Welt. Er suhlt sich in der Größe seiner eigenen Gefühle, gerührt von der eigenen Fähigkeit zu großen Emotionen. Eine Figur, für die die Wirklichkeit immer schon wahlweise „wie im Film“, „wie im Traum“ oder wie in einem Gemälde von Edvard Munch daherkommt.
Es dauert nicht lange, bis er Mona kennenlernt. Sie soll ihn retten, den mittelalten Zahnarzt. Mona erscheint ihm als das große Versprechen, in ihrer Nähe nimmt der blasse Meyer „Farbe“ an: „Sie lächelte mich an, und um mich war es geschehen. Ich entlockte ihr dieses Lächeln, und es ließ mich ihr verfallen. Wie eine schöne Welle schlug es über mir zusammen, alles, von dem ich geglaubt hatte, ich könne darauf verzichten. Sie weckte etwas in mir, von dem ich vergessen hatte, dass ich es haben wollte.“
Meyer zögert, ist hin- und hergerissen und entscheidet sich dann doch für Mona, zieht mit ihr zusammen, fühlt sich frei und doch nach kurzer Zeit unglücklich. Als er merkt, dass ihm sein Imaginäres einen Streich gespielt hat, sich Mona doch nicht als Frau der Träume erweist, verlässt er sie, nennt sie ein „großes Kind“, findet damit aber lediglich eine perfekte Beschreibung für sich selbst. Wer so viel fühlt, hat es wahrlich nicht leicht, der Leser solcher Plattitüden aber auch nicht: „Es musste dieses Doppelleben gewesen sein, das mich in zwei Teile gespalten hatte. Da war dieser eine Teil, der einfach nur ertrinken wollte, und der andere, der leben wollte. Würde ich jemals wieder eins sein? War ich das jemals? Zu lieben half, und trinken half, dann floss alles zu einer Ganzheit zusammen. Doch dann wachte ich aus dem Rausch auf und fiel wieder auseinander wie eine Frucht, die man in der Mitte durchschneidet.“
Doch es ist zu spät, er findet nicht mehr in sein altes Leben zurück. Insbesondere sein Sohn kann ihm den Verrat an der Familie nicht verzeihen, verhärtet sich und fährt schließlich betrunken in einen Laster. An dem Punkt verliert der Roman seinen Protagonisten und Meyer das Interesse an der Wirklichkeit. Er macht sich auf eine Reise, die einer halluzinatorischen Psychose ähnelt, flieht nach Deutschland zu einem Horrorfilm-Festival, besucht albtraumhafte Theatervorstellungen und ist auf der Suche nach einem geheimnisvollen Haus in der Slowakei, von dem manche behaupten, „dort gewesen und um vieles erleichtert wieder herausgekommen zu sein, von allem kuriert, was ihnen das Leben schwergemacht hatte, froh und munter, ohne eine einzige Angst im Leib. Doch das Grauen kommt in anderer Gestalt als erwartet. Der wahre Horror, den Meyer nicht erträgt, ist der Horror des Alltäglichen, die Durchschnittlichkeit und Lächerlichkeit der eigenen Person, das stumpfsinnig Redundante und x-Beliebige seiner Existenz. Das Haus führt die qualvolle Erinnerung an das Versäumte und achtlos Vergeudete vor Augen. Sæterbakkens letzter Roman ist eine ambivalente Angelegenheit: eine verstörende Untersuchung des literarisch Zumutbaren und des Wesens menschlicher Trauer, das Testament eines Schriftstellers, der sich einmal als Misanthropen, der Menschen liebt, bezeichnet hat. „Durch die Nacht“ wird allzu oft von einer holzhammerhaften Drastik dominiert, die Sæeterbakken am Ende beinahe um den Anspruch bringt, den er stets an Literatur zu stellen versucht hat: Empathie für das Unvorstellbare zu ermöglichen.
WOLFGANG HOTTNER
Stig Sæterbakken:
Durch die Nacht.
Roman. Aus dem Norwegischen
von Karl-Ludwig Wetzig,
Dumont Verlag, Köln 2019.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stig Sætterbakkens letzter Roman „Durch die Nacht“
Karl Meyer ist am Ende: sein achtzehnjähriger Sohn hat sich umgebracht. „Tausend Mal am Tag vergaß ich, dass Jakob-Ole tot war. Tausend Mal am Tag fiel es mir plötzlich wieder ein. Beides war unerträglich. Ihn zu vergessen war das Schlimmste, was ich tun konnte. An ihn zu denken war das Schlimmste, was ich tun konnte.“ Auf der Suche nach den Gründen für den Freitod seines Sohnes findet Meyer die Schuld bei sich selbst: Er war es, der die Familie für eine Affäre mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau verlassen hatte, der weglief von seiner Ehefrau und den beiden Kindern.
Der Roman erzählt die Zeit vor und nach dem Unglück. Sæterbakken geht es dabei um die Extremsituationen: im Äußersten soll sich das Wesen, die Natur des Menschen, sein Eigentliches zeigen. Eine zentrale und zugleich umstrittene Figur in der norwegischen Literaturlandschaft, war Sæterbakken Zeit seines Lebens (1966–2012), ein literarischer Extremist. Schon sehr früh erregte er Mitte der 1980er-Jahre durch eine Gedichtsammlung Aufmerksamkeit, die er als achtzehnjähriger Schüler veröffentlichte. Neben den zahlreichen Romanen schrieb er Essays und übersetzte die Werke Ján Buzássys, Ivan Kupecs und Nikanor Teratologens ins Norwegische. Er war künstlerischer Leiter des Literaturfestivals in Lillehammer, bis er 2009 seinen Posten verliert, als er den Holocaustleugner David Irving einlädt.
„Durch die Nacht“ ist ein Tagebuch der Trauer, der Flucht vor einer unerträglichen Wirklichkeit, erzählt aus der Perspektive eines Vaters, eines Ehebrechers, eines Verrücktgewordenen, einer ganz und gar gebrochenen Figur. Meyer zu bemitleiden, fällt aber nicht leicht. Er ist ein heilloser Pathetiker und damit die klischeehafte Verkörperung eines gewissen dunklen Tons, einer existenziellen Motivik, des scandinavian blues, der mit Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal und Merethe Lindstrøm in den letzten Jahren zur trademark norwegischer Literatur geworden ist. Existenzielle „Wirklichkeitsliteratur“, die von der allzumenschlichen Wahrheit des Liebens, Lebens und Träumens erzählt, von Schmerz, von Rausch, Einsamkeit und Kompromisslosigkeit. Wenn Meyer von der Zeit des Kennenlernens seiner Frau Eva erzählt, wird er hyperbolisch, seine Verliebtheit steigert sich zur größten Liebe aller Zeiten, eine Trennung das Ende der Welt. Er suhlt sich in der Größe seiner eigenen Gefühle, gerührt von der eigenen Fähigkeit zu großen Emotionen. Eine Figur, für die die Wirklichkeit immer schon wahlweise „wie im Film“, „wie im Traum“ oder wie in einem Gemälde von Edvard Munch daherkommt.
Es dauert nicht lange, bis er Mona kennenlernt. Sie soll ihn retten, den mittelalten Zahnarzt. Mona erscheint ihm als das große Versprechen, in ihrer Nähe nimmt der blasse Meyer „Farbe“ an: „Sie lächelte mich an, und um mich war es geschehen. Ich entlockte ihr dieses Lächeln, und es ließ mich ihr verfallen. Wie eine schöne Welle schlug es über mir zusammen, alles, von dem ich geglaubt hatte, ich könne darauf verzichten. Sie weckte etwas in mir, von dem ich vergessen hatte, dass ich es haben wollte.“
Meyer zögert, ist hin- und hergerissen und entscheidet sich dann doch für Mona, zieht mit ihr zusammen, fühlt sich frei und doch nach kurzer Zeit unglücklich. Als er merkt, dass ihm sein Imaginäres einen Streich gespielt hat, sich Mona doch nicht als Frau der Träume erweist, verlässt er sie, nennt sie ein „großes Kind“, findet damit aber lediglich eine perfekte Beschreibung für sich selbst. Wer so viel fühlt, hat es wahrlich nicht leicht, der Leser solcher Plattitüden aber auch nicht: „Es musste dieses Doppelleben gewesen sein, das mich in zwei Teile gespalten hatte. Da war dieser eine Teil, der einfach nur ertrinken wollte, und der andere, der leben wollte. Würde ich jemals wieder eins sein? War ich das jemals? Zu lieben half, und trinken half, dann floss alles zu einer Ganzheit zusammen. Doch dann wachte ich aus dem Rausch auf und fiel wieder auseinander wie eine Frucht, die man in der Mitte durchschneidet.“
Doch es ist zu spät, er findet nicht mehr in sein altes Leben zurück. Insbesondere sein Sohn kann ihm den Verrat an der Familie nicht verzeihen, verhärtet sich und fährt schließlich betrunken in einen Laster. An dem Punkt verliert der Roman seinen Protagonisten und Meyer das Interesse an der Wirklichkeit. Er macht sich auf eine Reise, die einer halluzinatorischen Psychose ähnelt, flieht nach Deutschland zu einem Horrorfilm-Festival, besucht albtraumhafte Theatervorstellungen und ist auf der Suche nach einem geheimnisvollen Haus in der Slowakei, von dem manche behaupten, „dort gewesen und um vieles erleichtert wieder herausgekommen zu sein, von allem kuriert, was ihnen das Leben schwergemacht hatte, froh und munter, ohne eine einzige Angst im Leib. Doch das Grauen kommt in anderer Gestalt als erwartet. Der wahre Horror, den Meyer nicht erträgt, ist der Horror des Alltäglichen, die Durchschnittlichkeit und Lächerlichkeit der eigenen Person, das stumpfsinnig Redundante und x-Beliebige seiner Existenz. Das Haus führt die qualvolle Erinnerung an das Versäumte und achtlos Vergeudete vor Augen. Sæterbakkens letzter Roman ist eine ambivalente Angelegenheit: eine verstörende Untersuchung des literarisch Zumutbaren und des Wesens menschlicher Trauer, das Testament eines Schriftstellers, der sich einmal als Misanthropen, der Menschen liebt, bezeichnet hat. „Durch die Nacht“ wird allzu oft von einer holzhammerhaften Drastik dominiert, die Sæeterbakken am Ende beinahe um den Anspruch bringt, den er stets an Literatur zu stellen versucht hat: Empathie für das Unvorstellbare zu ermöglichen.
WOLFGANG HOTTNER
Stig Sæterbakken:
Durch die Nacht.
Roman. Aus dem Norwegischen
von Karl-Ludwig Wetzig,
Dumont Verlag, Köln 2019.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Angela Gutzeit hält es kaum aus. Was Stig Saeterbakken in seinem Roman erzählt, rührt laut Gutzeit an die Gespaltenheit der Existenz, an Schuld und Versagen und die Unmöglichkeit der Liebe, auch zu sich selbst. Wuchtig und unerträglich erscheint ihr die Geschichte eines Selbstmords, berichtet vom Vater des Toten als eine Art Selbstbezichtigung. Suggestiv findet sie Saeterbakkens Erzählweise, die sie ins Geschehen hineinsaugt und Distanz zu den Figuren beinahe unmöglich macht, wie sie schreibt. Wie der Held im Buch schließlich den Boden unter den Füßen verliert, schildert der Autor in albtraumhaft-surrealen Sequenzen, die Gutzeit zunächst befremden, deren Vorboten sie aber bei genauem Hinsehen überall im Text entdeckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieses Buch ist eine Erschütterung« Jan Wiele, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Sæterbakkens Prosa [ist] großartig [...], weil er in jedem Moment genau hinschaut, und weil er sich in all seinen Texten sehr nah an das Leben herantraut« Dirk van Versendaal, STERN »[Ein] Meisterwerk der norwegischen Literatur« Angela Gutzeit, DEUTSCHLANDFUNK BÜCHERMARKT »Nachtschwarzer Realismus und ein phantasmagorischer Existenzialismus verbinden sich zu einer so beklemmenden wie faszinierenden Lektüre. Das Pathos mag gelegentlich dick aufgetragen sein, aber hohl tönt es nie.« Wolfgang Schneider, TAGESSPIEGEL »Die düstere Geschichte von Schuld und Sühne leuchtet als stringente Beschreibung einer seelischen Höllenfahrt.« Ferdinand Quante, WDR 5 »Meisterlich kombiniert er literarische Stile [...] Ein Buch, das einen berührt und nachdenklich macht - über das Existenzielle im Leben eines Menschen.« Agnes Bührig, NDR Kultur »Lektüre, die unter die Haut geht. [...] Intensiv, erschütternd, lesenswert.« Carina Kontio, HANDELSBLATT »Mit kraftvoller, alle Klischees vermeidender Sprache erzählt Sæterbakken eine Geschichte, die so alt ist wie die Literatur selbst« Philipp Haibach, ROLLING STONE »Stig Sæterbakkens 'Durch die Nacht' [...] könnte ein Klassiker der Trauerliteratur werden.« Nina Berendonk, DONNA »Sæterbakkens Roman gleicht einem Gemälde von Munch. Niemand weiss, wo die Grenze von Melancholie und Entrückung, Wahnsinn und Hellsicht verläuft« Andreas Breitenstein, NEUE ZÜRICHER ZEITUNG »'Durch die Nacht' ist Trauerbericht, Roadnovel und hat auch so ein bisschen was von einem horrormäßigen Fiebertraum. Ein schmerzhaftes Buch, aber so gut. Heftig!« Gesa Wegeng, WDR 1Live Stories »Berührend und atemlos kleben die Augen an den Zeilen des Autors, mit der eigenen Angst im Nacken, dass es sich ja nicht zu schnell der letzten Seite nähert.« Bärbel Schäfer, DPA »Stig Sæterbakken schreibt intensiv. Messerscharf seziert er den Trauerprozess eines Mannes, der verzweifelt den Weg zurück ins Leben sucht.« Barbara Hoppe, WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG »Kein anderes Buch hat mich 2019 so berührt.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Jeder Satz in diesem Buch [ist] wie in Messing gefasst. Schwerwiegend. Und von Dauer.« Ingrid Mylo, BADISCHE ZEITUNG »Ein Buch, berührend wie ein bohrender Schmerz.« Markus Clauer, Die RHEINPFALZ »Stig Saeterbakkens düsterer Roman 'Durch die Nacht' blickt tief in die Abgründe der menschlichen Seele, bis er abdriftet ins Surreale, fast Horrorhafte einer gespaltenen menschlichen Existenz. Das schockiert, berührt, irritiert.« MÜNCHNER MERKUR »Stig Saeterbakkens Roman 'Durch die Nacht' durchschreitet die größtmögliche Verzweiflung und lässt zugleich irrsinnige Hoffnungen aufblitzen.« NEUE RUHR ZEITUNG »Ein Buch über den Tod, den Zerfall einer Ehe und das Unsagbare« Bärbel Schäfer »Sæterbakken schreibt gewaltig, aber nicht brüllend, es ist ein stilles Timbre der Hilflosigkeit seiner Figuren.« Jan C. Behmann, DER FREITAG »Der norwegische Autor Stig Sæterbakken und sein Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig formulieren präzise. Sie schildern diese Reise durch die Nacht in einer Sprache, die keine Gnade mit dem Leser kennt. Es geht in die Tiefe und an die Abgründe der Existenz. [...] Das ist so surreal wie überzeugend, so rührend wie schmerzlich.« Birgit Grimm, SÄCHSISCHE ZEITUNG »Ein Autor, der mit so großer Wärme und gleichzeitiger Härte so grandiose Inhalte formuliert, und Zustände aus den entlegenen Winkeln des Menschen herausholt, hat Großes geleistet« Martin G. Wanko, VORARLBERGER NACHRICHTEN »Wer die Sprache liebt, sollte [dieses Buch] nicht verpassen.« Barbara Hoppe, FEUILLETONSCOUT »starker Stoff« Christian Mückl, NÜRNBERGER ZEITUNG »Und so kraftvoll und direkt die Sprache ist, die er für die Trauer und die Wut findet, so leise und zärtlich beschreibt er die schönen Erinnerungen [...] Die Erzählung entwickelt eine solche Sogkraft, dass man das Buch bis zur letzten Szene nicht mehr aus der Hand legen kann.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Ein Buch, das unter die Haut geht.« Daniela Barbu, TAUNUS ZEITUNG