»Einer der wichtigsten Autoren meiner Generation« Karl Ove KnausgårdKarl Meyer ist Zahnarzt und führt ein durch und durch bürgerliches Leben. Doch als sein erst achtzehnjähriger Sohn Ole-Jakob Suizid begeht, droht es die Familie zu zerreißen. Karls Frau Eva steht unter Schock, die Tochter Stine verstummt. Auch Karl ist in seiner Trauer gefangen. Er denkt zurück an sein Kind, vor allem aber an das, was die Familie schon vor dessen Tod auf eine Belastungsprobe stellte: Karls Liebschaft mit der deutlich jüngeren Mona. Ist es diese Affäre, die Ole-Jakob in den Tod getrieben hat? Die Schuldfrage steht im Raum - und Karl läuft davon. Er begibt sich auf eine Reise in die Slowakei. Dort hofft er, Erlösung zu finden: in einem Haus, in dem man, so heißt es, mit seinen tiefsten Ängsten konfrontiert wird - und das man entweder gebrochen oder geheilt verlässt.'Durch die Nacht' ist die Anatomie eines Trauerprozesses und ein Buch, das unter die Haut geht. Stig Sæterbakken schont seine Leser nicht. Dieser so dringlich erzählte Roman schildert die Abgründe, die in uns allen lauern, und wie leicht wir die verletzen, die uns nahe stehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2019Der Sonntag, an dem ich verrückt wurde
Stig Sæterbakkens Trauerroman "Durch die Nacht"
Die Korkpinnwand neben dem Kühlschrank ist verschwunden. Stattdessen hängt dort ein Kalender, in den die Aktivitäten von drei Menschen eingetragen sind. Eigentlich müssten es vier sein. Doch der vierte Mensch, dessen Blick auf den Kalender fällt, ist nicht mehr Teil der Familie. Er kommt jetzt zu Besuch in das Haus, in dem er früher gelebt hat, und betrachtet es als Fremder. Auch eine neue Schürze hängt neben der Spüle - "sichtbares Zeichen" dafür, dass die Frau nun allein in diesem Haus bestimmt.
Es ist eine alte Trennungsgeschichte, und doch ist sie immer neu. Stig Sæterbakken erzählt sie mit lakonischem Blick auf die äußeren Anzeichen, die solch ein Familienzerfall mit sich bringt. Der Sohn, bald achtzehn, benutzt das vom Vater geschenkte Fahrrad nicht mehr, wohl aus Trotz. "Die Kette rostete und hing schlaff durch, der Sitz war an den Seiten aufgeschlitzt, als wäre jemand mit dem Messer auf ihn losgegangen." Die jüngere Tochter immerhin präsentiert noch stolz eine Urkunde. Die Hände der Mutter sind kalt wie Stein, als der Vater sie berührt.
Das ist alles traurig genug - aber noch nichts im Vergleich dazu, was noch kommen wird. Denn dieser Roman ist mehr als eine Variante moderner Beziehungsmisere, in der manche ihre eigene wiedererkennen mögen; er ist vielmehr der Horrortrip eines Menschen, der auf der ersten Seite schon bekundet, in andauernder Nacht zu leben. Zu Beginn ist die Katastrophe bereits geschehen, wir lesen von ihr in Rückblenden, so durcheinandergeraten wie ihr Erzähler. Dessen Sohn nämlich ist tot, bevor er erwachsen wird. Und es scheint klar, wer daran die Schuld tragen soll.
Alles hätte anders verlaufen können, wenn der Vater an einem Abend Jahre zuvor einfach zu Hause geblieben wäre. Wenn er keine Affäre begonnen hätte, nicht ausgezogen wäre, nicht seine Familie zerstört hätte. Aber ist es wirklich so einfach? Der Verzweifelte scheint es irgendwann selbst zu glauben, nach weiteren drei Jahren mit Frau und Tochter, die ihn offenbar hassen, wird er ein zweites Mal ausziehen und sich auf eine Reise in noch tiefere Dunkelheit begeben, die den Roman schließlich Richtung David Lynch abbiegen lässt, in ein sonderbares Haus tief in der Slowakei, dessen Besucher "mit den schlimmsten Ängsten ihres Lebens konfrontiert werden". Er wird aber auch eine andere Frau vor dem Suizid retten, die schon am Brückengeländer steht, bevor er schließlich in ein Traumland einbiegt, in dem ewige Weihnacht ist.
Sæterbakkens Roman hat die Qualität, die zuletzt beschriebenen Wendungen nicht völlig aus der Luft gegriffen wirken zu lassen, sondern als tatsächlich konsequente Folge äußerlichen und psychischen Erlebens, das auf einem alles bestimmenden Knacks beruht. "Als ich an einem Sonntag verrückt wurde", beginnt etwa ein Textabschnitt. Der Erzähler steht vor einer laufenden Waschmaschine, zitternd an Armen und Beinen, und "mit diesem Zittern kam eine Art Schluchzen", man weiß nicht, ob von der Maschine oder vom Menschen. "Ich sah eine Zeichentrickfigur vor mir, irgendeinen Volltrottel nach dem Zusammenprall mit einem Fahnenmast, das Gesicht fast aufgelöst flimmernd in einem trockenen Weinen ohne Tränen."
Eine Erschütterung ist auch dieses Buch, das in gewisser Weise unabgeschlossen bleibt. Im Original 2011 erschienen, bleibt es der letzte Roman seines 1966 in Lillehammer geborenen Verfassers. Stig Sæterbakken nahm sich 2012 das Leben.
JAN WIELE
Stig Sæterbakken: "Durch die Nacht". Roman.
Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Welzig. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stig Sæterbakkens Trauerroman "Durch die Nacht"
Die Korkpinnwand neben dem Kühlschrank ist verschwunden. Stattdessen hängt dort ein Kalender, in den die Aktivitäten von drei Menschen eingetragen sind. Eigentlich müssten es vier sein. Doch der vierte Mensch, dessen Blick auf den Kalender fällt, ist nicht mehr Teil der Familie. Er kommt jetzt zu Besuch in das Haus, in dem er früher gelebt hat, und betrachtet es als Fremder. Auch eine neue Schürze hängt neben der Spüle - "sichtbares Zeichen" dafür, dass die Frau nun allein in diesem Haus bestimmt.
Es ist eine alte Trennungsgeschichte, und doch ist sie immer neu. Stig Sæterbakken erzählt sie mit lakonischem Blick auf die äußeren Anzeichen, die solch ein Familienzerfall mit sich bringt. Der Sohn, bald achtzehn, benutzt das vom Vater geschenkte Fahrrad nicht mehr, wohl aus Trotz. "Die Kette rostete und hing schlaff durch, der Sitz war an den Seiten aufgeschlitzt, als wäre jemand mit dem Messer auf ihn losgegangen." Die jüngere Tochter immerhin präsentiert noch stolz eine Urkunde. Die Hände der Mutter sind kalt wie Stein, als der Vater sie berührt.
Das ist alles traurig genug - aber noch nichts im Vergleich dazu, was noch kommen wird. Denn dieser Roman ist mehr als eine Variante moderner Beziehungsmisere, in der manche ihre eigene wiedererkennen mögen; er ist vielmehr der Horrortrip eines Menschen, der auf der ersten Seite schon bekundet, in andauernder Nacht zu leben. Zu Beginn ist die Katastrophe bereits geschehen, wir lesen von ihr in Rückblenden, so durcheinandergeraten wie ihr Erzähler. Dessen Sohn nämlich ist tot, bevor er erwachsen wird. Und es scheint klar, wer daran die Schuld tragen soll.
Alles hätte anders verlaufen können, wenn der Vater an einem Abend Jahre zuvor einfach zu Hause geblieben wäre. Wenn er keine Affäre begonnen hätte, nicht ausgezogen wäre, nicht seine Familie zerstört hätte. Aber ist es wirklich so einfach? Der Verzweifelte scheint es irgendwann selbst zu glauben, nach weiteren drei Jahren mit Frau und Tochter, die ihn offenbar hassen, wird er ein zweites Mal ausziehen und sich auf eine Reise in noch tiefere Dunkelheit begeben, die den Roman schließlich Richtung David Lynch abbiegen lässt, in ein sonderbares Haus tief in der Slowakei, dessen Besucher "mit den schlimmsten Ängsten ihres Lebens konfrontiert werden". Er wird aber auch eine andere Frau vor dem Suizid retten, die schon am Brückengeländer steht, bevor er schließlich in ein Traumland einbiegt, in dem ewige Weihnacht ist.
Sæterbakkens Roman hat die Qualität, die zuletzt beschriebenen Wendungen nicht völlig aus der Luft gegriffen wirken zu lassen, sondern als tatsächlich konsequente Folge äußerlichen und psychischen Erlebens, das auf einem alles bestimmenden Knacks beruht. "Als ich an einem Sonntag verrückt wurde", beginnt etwa ein Textabschnitt. Der Erzähler steht vor einer laufenden Waschmaschine, zitternd an Armen und Beinen, und "mit diesem Zittern kam eine Art Schluchzen", man weiß nicht, ob von der Maschine oder vom Menschen. "Ich sah eine Zeichentrickfigur vor mir, irgendeinen Volltrottel nach dem Zusammenprall mit einem Fahnenmast, das Gesicht fast aufgelöst flimmernd in einem trockenen Weinen ohne Tränen."
Eine Erschütterung ist auch dieses Buch, das in gewisser Weise unabgeschlossen bleibt. Im Original 2011 erschienen, bleibt es der letzte Roman seines 1966 in Lillehammer geborenen Verfassers. Stig Sæterbakken nahm sich 2012 das Leben.
JAN WIELE
Stig Sæterbakken: "Durch die Nacht". Roman.
Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Welzig. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Angela Gutzeit hält es kaum aus. Was Stig Saeterbakken in seinem Roman erzählt, rührt laut Gutzeit an die Gespaltenheit der Existenz, an Schuld und Versagen und die Unmöglichkeit der Liebe, auch zu sich selbst. Wuchtig und unerträglich erscheint ihr die Geschichte eines Selbstmords, berichtet vom Vater des Toten als eine Art Selbstbezichtigung. Suggestiv findet sie Saeterbakkens Erzählweise, die sie ins Geschehen hineinsaugt und Distanz zu den Figuren beinahe unmöglich macht, wie sie schreibt. Wie der Held im Buch schließlich den Boden unter den Füßen verliert, schildert der Autor in albtraumhaft-surrealen Sequenzen, die Gutzeit zunächst befremden, deren Vorboten sie aber bei genauem Hinsehen überall im Text entdeckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieses Buch ist eine Erschütterung« Jan Wiele, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Sæterbakkens Prosa [ist] großartig [...], weil er in jedem Moment genau hinschaut, und weil er sich in all seinen Texten sehr nah an das Leben herantraut« Dirk van Versendaal, STERN »[Ein] Meisterwerk der norwegischen Literatur« Angela Gutzeit, DEUTSCHLANDFUNK BÜCHERMARKT »Nachtschwarzer Realismus und ein phantasmagorischer Existenzialismus verbinden sich zu einer so beklemmenden wie faszinierenden Lektüre. Das Pathos mag gelegentlich dick aufgetragen sein, aber hohl tönt es nie.« Wolfgang Schneider, TAGESSPIEGEL »Die düstere Geschichte von Schuld und Sühne leuchtet als stringente Beschreibung einer seelischen Höllenfahrt.« Ferdinand Quante, WDR 5 »Meisterlich kombiniert er literarische Stile [...] Ein Buch, das einen berührt und nachdenklich macht - über das Existenzielle im Leben eines Menschen.« Agnes Bührig, NDR Kultur »Lektüre, die unter die Haut geht. [...] Intensiv, erschütternd, lesenswert.« Carina Kontio, HANDELSBLATT »Mit kraftvoller, alle Klischees vermeidender Sprache erzählt Sæterbakken eine Geschichte, die so alt ist wie die Literatur selbst« Philipp Haibach, ROLLING STONE »Stig Sæterbakkens 'Durch die Nacht' [...] könnte ein Klassiker der Trauerliteratur werden.« Nina Berendonk, DONNA »Sæterbakkens Roman gleicht einem Gemälde von Munch. Niemand weiss, wo die Grenze von Melancholie und Entrückung, Wahnsinn und Hellsicht verläuft« Andreas Breitenstein, NEUE ZÜRICHER ZEITUNG »'Durch die Nacht' ist Trauerbericht, Roadnovel und hat auch so ein bisschen was von einem horrormäßigen Fiebertraum. Ein schmerzhaftes Buch, aber so gut. Heftig!« Gesa Wegeng, WDR 1Live Stories »Berührend und atemlos kleben die Augen an den Zeilen des Autors, mit der eigenen Angst im Nacken, dass es sich ja nicht zu schnell der letzten Seite nähert.« Bärbel Schäfer, DPA »Stig Sæterbakken schreibt intensiv. Messerscharf seziert er den Trauerprozess eines Mannes, der verzweifelt den Weg zurück ins Leben sucht.« Barbara Hoppe, WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG »Kein anderes Buch hat mich 2019 so berührt.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Jeder Satz in diesem Buch [ist] wie in Messing gefasst. Schwerwiegend. Und von Dauer.« Ingrid Mylo, BADISCHE ZEITUNG »Ein Buch, berührend wie ein bohrender Schmerz.« Markus Clauer, Die RHEINPFALZ »Stig Saeterbakkens düsterer Roman 'Durch die Nacht' blickt tief in die Abgründe der menschlichen Seele, bis er abdriftet ins Surreale, fast Horrorhafte einer gespaltenen menschlichen Existenz. Das schockiert, berührt, irritiert.« MÜNCHNER MERKUR »Stig Saeterbakkens Roman 'Durch die Nacht' durchschreitet die größtmögliche Verzweiflung und lässt zugleich irrsinnige Hoffnungen aufblitzen.« NEUE RUHR ZEITUNG »Ein Buch über den Tod, den Zerfall einer Ehe und das Unsagbare« Bärbel Schäfer »Sæterbakken schreibt gewaltig, aber nicht brüllend, es ist ein stilles Timbre der Hilflosigkeit seiner Figuren.« Jan C. Behmann, DER FREITAG »Der norwegische Autor Stig Sæterbakken und sein Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig formulieren präzise. Sie schildern diese Reise durch die Nacht in einer Sprache, die keine Gnade mit dem Leser kennt. Es geht in die Tiefe und an die Abgründe der Existenz. [...] Das ist so surreal wie überzeugend, so rührend wie schmerzlich.« Birgit Grimm, SÄCHSISCHE ZEITUNG »Ein Autor, der mit so großer Wärme und gleichzeitiger Härte so grandiose Inhalte formuliert, und Zustände aus den entlegenen Winkeln des Menschen herausholt, hat Großes geleistet« Martin G. Wanko, VORARLBERGER NACHRICHTEN »Wer die Sprache liebt, sollte [dieses Buch] nicht verpassen.« Barbara Hoppe, FEUILLETONSCOUT »starker Stoff« Christian Mückl, NÜRNBERGER ZEITUNG »Und so kraftvoll und direkt die Sprache ist, die er für die Trauer und die Wut findet, so leise und zärtlich beschreibt er die schönen Erinnerungen [...] Die Erzählung entwickelt eine solche Sogkraft, dass man das Buch bis zur letzten Szene nicht mehr aus der Hand legen kann.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Ein Buch, das unter die Haut geht.« Daniela Barbu, TAUNUS ZEITUNG