Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Alexander Kissler hat "137 Variationen eines ewig jungen Themas" gelesen: "Was bleibt?" In diesem Fall vom Ernst Troeltsch, der Theologe, Philosoph, Soziologe und Historiker war, über sehr viele Dinge nachdachte, sehr viele Bücher schrieb und 1923 starb. Was also bleibt? Die Nachrufe, die dieses Buch versammelt, haben in Kissler kein klares Bild des Menschen und Forschers Troeltsch entstehen lassen; zu undeutlich, zu widersprüchlich, zu ausufernd und dann wieder zu speziell findet er, was die Zeitgenossen, darunter auch enge Vertraute, über diesen Mann schrieben. Sie rühmten ihn, sie würdigten dies und jenes, sie riefen ihm ihre Verachtung nach. Aber was für ein chimärenhaftes Bild! Kissler, berührt und nachdenklich, ist beim Betrachten ein "schrecklicher Gedanke" gekommen: "dass der Mensch ganz aufgeht in dem, was andere von ihm zu berichten wissen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2003Der gescheiterte Meister
Was die Nachwelt Ernst Troeltsch noch zu sagen hatte
Ein schrecklicher Gedanke: dass der Mensch ganz aufgeht in dem, was andere von ihm zu berichten wissen. Dann wäre nämlich – beispielsweise – der Mensch Ernst Troeltsch identisch mit jenem Bild, das 137 Nachrufe von dem Theologen, Philosophen, Soziologen, Historiker und Schriftsteller zeichnen. Dann wäre die Person Troeltsch eine Chimäre aus undeutlichen Eigenschaften, grob, bezaubernd, ungerecht, anregend, ehrgeizig, melancholisch und nicht von dieser Welt – eine „knorrige Eiche aus dem bayrischen Walde”, ein „saftstrotzender Riesenbaum”, ein „donnernder Gebirgsstrom, dessen Kraft alle festen Ufer loszureißen und sich einzuverleiben droht.”
Wenn sogar Friedrich Meinecke, von dem das letzte Zitat stammt, zu Flora und Fauna flüchtet, um den Freund zu charakterisieren, dann deutet dieser Umstand auf mehr als nur auf die zeittypische Vorliebe für Pathos und Poesie. Troeltsch erschien auch engen Vertrauten als Imprimatur eines uferlosen Werkes, als weitgehend eigenschaftsloses Exlibris unzählbar vieler Bücher. Nach dem überraschenden Tod am 1. Februar 1923, dem eine ebenso überraschende Feuerbestattung folgte, – laut Herausgeber Graf war Troeltsch der erste protestantische Theologe, dessen Trauerfeier im Krematorium stattfand, – versuchten nur wenige Gedenkschreiber, Troeltschs Gelehrtenleben geordnet darzustellen. Zu den Ausnahmen rechnete der Philosoph Manfred Schroeter. Er strukturierte das Leben des „Riesenbaumes” in eine historische, dann religionsphilosophische, soziologische und schließlich geschichtsphilosophische Phase.
Ansonsten dominiert die im einzelnen stimmige, in der Summe heillos widersprüchliche Darstellung einzelner Arbeitsschwerpunkte. Goethe, Schleiermacher, Ulrich von Hutten müssen herhalten, um Troeltschs einen spezifischen Zug zu konturieren. Sein Begriff von der Theologie als einer Kulturwissenschaft des Christentums, neben der Neubewertung des Historismus und dem Versuch einer europäischen „Kultursynthese” die folgenreichste Leistung, war den Zeitgenossen wenige Zeilen wert. Man räsonierte lieber über sein „Ringen mit Marx” (Christian Herrmann), lobte den „Mehrer des seelischen und moralischen Deutschtums” (Theodor Heuss), den „geborenen Politiker” mit einer „starken Abhängigkeit von neuen Menschen und neuen Büchern” (Ludwig Marcuse).
Das Verbot schlechter Nachrede missachteten Verehrer und Verächter gleichermaßen. Paul Tillich nannte Troeltsch den „verehrten Meister”, aber auch einen Wegbereiter ohne Einsicht ins „Zerbrechen seines Humanitätsideals”, kurzum: „die negative Voraussetzung für jeden kommenden Aufbau”. Solche Differenzierungen sind dem wahren Polemiker fremd. Hermann Graf Keyserling erklärte fünf Monate nach Troeltschs Tod, der Verblichene sei „über die Auseinandersetzung mit subalternen Fragen niemals hinausgelangt”. Das 800- seitige Hauptwerk „Der Historismus und seine Probleme” hätte sich auf 50 Seiten darstellen lassen. Keyserling schließt mit der Prognose, „Bücher wie die von Troeltsch wird bald kein Mensch mehr lesen”. Die Nachrufe aber werden jetzt neue Leser finden, sind sie doch 137 Variationen eines ewig jungen Themas: Was bleibt?
ALEXANDER KISSLER
FRIEDRICH WILHELM GRAF (Hrsg.): Ernst Troeltsch in Nachrufen. Gütersloher Verlagshaus 2003. 770 S., 34,95 Euro.
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Was die Nachwelt Ernst Troeltsch noch zu sagen hatte
Ein schrecklicher Gedanke: dass der Mensch ganz aufgeht in dem, was andere von ihm zu berichten wissen. Dann wäre nämlich – beispielsweise – der Mensch Ernst Troeltsch identisch mit jenem Bild, das 137 Nachrufe von dem Theologen, Philosophen, Soziologen, Historiker und Schriftsteller zeichnen. Dann wäre die Person Troeltsch eine Chimäre aus undeutlichen Eigenschaften, grob, bezaubernd, ungerecht, anregend, ehrgeizig, melancholisch und nicht von dieser Welt – eine „knorrige Eiche aus dem bayrischen Walde”, ein „saftstrotzender Riesenbaum”, ein „donnernder Gebirgsstrom, dessen Kraft alle festen Ufer loszureißen und sich einzuverleiben droht.”
Wenn sogar Friedrich Meinecke, von dem das letzte Zitat stammt, zu Flora und Fauna flüchtet, um den Freund zu charakterisieren, dann deutet dieser Umstand auf mehr als nur auf die zeittypische Vorliebe für Pathos und Poesie. Troeltsch erschien auch engen Vertrauten als Imprimatur eines uferlosen Werkes, als weitgehend eigenschaftsloses Exlibris unzählbar vieler Bücher. Nach dem überraschenden Tod am 1. Februar 1923, dem eine ebenso überraschende Feuerbestattung folgte, – laut Herausgeber Graf war Troeltsch der erste protestantische Theologe, dessen Trauerfeier im Krematorium stattfand, – versuchten nur wenige Gedenkschreiber, Troeltschs Gelehrtenleben geordnet darzustellen. Zu den Ausnahmen rechnete der Philosoph Manfred Schroeter. Er strukturierte das Leben des „Riesenbaumes” in eine historische, dann religionsphilosophische, soziologische und schließlich geschichtsphilosophische Phase.
Ansonsten dominiert die im einzelnen stimmige, in der Summe heillos widersprüchliche Darstellung einzelner Arbeitsschwerpunkte. Goethe, Schleiermacher, Ulrich von Hutten müssen herhalten, um Troeltschs einen spezifischen Zug zu konturieren. Sein Begriff von der Theologie als einer Kulturwissenschaft des Christentums, neben der Neubewertung des Historismus und dem Versuch einer europäischen „Kultursynthese” die folgenreichste Leistung, war den Zeitgenossen wenige Zeilen wert. Man räsonierte lieber über sein „Ringen mit Marx” (Christian Herrmann), lobte den „Mehrer des seelischen und moralischen Deutschtums” (Theodor Heuss), den „geborenen Politiker” mit einer „starken Abhängigkeit von neuen Menschen und neuen Büchern” (Ludwig Marcuse).
Das Verbot schlechter Nachrede missachteten Verehrer und Verächter gleichermaßen. Paul Tillich nannte Troeltsch den „verehrten Meister”, aber auch einen Wegbereiter ohne Einsicht ins „Zerbrechen seines Humanitätsideals”, kurzum: „die negative Voraussetzung für jeden kommenden Aufbau”. Solche Differenzierungen sind dem wahren Polemiker fremd. Hermann Graf Keyserling erklärte fünf Monate nach Troeltschs Tod, der Verblichene sei „über die Auseinandersetzung mit subalternen Fragen niemals hinausgelangt”. Das 800- seitige Hauptwerk „Der Historismus und seine Probleme” hätte sich auf 50 Seiten darstellen lassen. Keyserling schließt mit der Prognose, „Bücher wie die von Troeltsch wird bald kein Mensch mehr lesen”. Die Nachrufe aber werden jetzt neue Leser finden, sind sie doch 137 Variationen eines ewig jungen Themas: Was bleibt?
ALEXANDER KISSLER
FRIEDRICH WILHELM GRAF (Hrsg.): Ernst Troeltsch in Nachrufen. Gütersloher Verlagshaus 2003. 770 S., 34,95 Euro.
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