Nachdenken über das Leben
»Sie fuhr aus dem Schlaf. Es mußte schon spät sein, denn im ganzen Haus war es still. Cecilie öffnete die Augen und knipste die Lampe über dem Bett an. Sie hörte eine Stimme, die fragte: 'Hast du gut geschlafen?' Wer war das?«
Schneeweiß und unantastbar sitzt der Engel Ariel plötzlich auf der Fensterbank der sterbenden Cecilie. Es ist Weihnachten, und unten im Haus bereitet die Familie alles zum großen Fest vor. Da beginnt Ariel mit der krebskranken Cecilie zu sprechen: über die Schöpfung, den Kosmos und die Sinne, mit denen die Menschen die Schöpfung wahrnehmen. Umgekehrt möchte Ariel von Cecilie alles über das Leben der Menschen wissen, die im Gegensatz zu ihm ja sterbliche Geschöpfe sind.
Zum ersten und zum letzten Mal in ihrem Leben sieht sich Cecilie herausgefordert, ihre Existenz in der Welt zu durchdenken und mit ihrer Vorstellungskraft das zu durchdringen, was Spiegel uns als vertraute Fassade zeigen. Ein unendlicher Kosmos tut sich ihr plötzlich hinter Wörtern und Begriffen auf, den sie nur bruchstückhaft erfassen kann. Und bei aller Unfertigkeit ist sie am Ende trotzdem der Welt und sich selbst ein großes Stück nähergekommen.
»Sie fuhr aus dem Schlaf. Es mußte schon spät sein, denn im ganzen Haus war es still. Cecilie öffnete die Augen und knipste die Lampe über dem Bett an. Sie hörte eine Stimme, die fragte: 'Hast du gut geschlafen?' Wer war das?«
Schneeweiß und unantastbar sitzt der Engel Ariel plötzlich auf der Fensterbank der sterbenden Cecilie. Es ist Weihnachten, und unten im Haus bereitet die Familie alles zum großen Fest vor. Da beginnt Ariel mit der krebskranken Cecilie zu sprechen: über die Schöpfung, den Kosmos und die Sinne, mit denen die Menschen die Schöpfung wahrnehmen. Umgekehrt möchte Ariel von Cecilie alles über das Leben der Menschen wissen, die im Gegensatz zu ihm ja sterbliche Geschöpfe sind.
Zum ersten und zum letzten Mal in ihrem Leben sieht sich Cecilie herausgefordert, ihre Existenz in der Welt zu durchdenken und mit ihrer Vorstellungskraft das zu durchdringen, was Spiegel uns als vertraute Fassade zeigen. Ein unendlicher Kosmos tut sich ihr plötzlich hinter Wörtern und Begriffen auf, den sie nur bruchstückhaft erfassen kann. Und bei aller Unfertigkeit ist sie am Ende trotzdem der Welt und sich selbst ein großes Stück nähergekommen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.1996Trostmaschine Philosophie
Alles Sternenstaub: Jostein Gaarder ist wieder da
Jostein Gaarder ist ein erfolgreicher Mann. Seit den frühen neunziger Jahren betreibt er eine Volkshochschule der Weltweisheit in Fernkursen. Der 1991 in Norwegen und zwei Jahre später in Deutschland veröffentlichte Roman "Sofies Welt", eine zur Fabel gewordene Geschichte der Philosophie, hat den Sozialdemokraten und Familienmenschen aus Oslo zum Millionär gemacht. Die meisten Rezensionen, die zu den mittlerweile drei Büchern Jostein Gaarders erschienen, verweisen auf diesen Erfolg: Eineinhalb Millionen Exemplare sind allein in Deutschland von "Sofies Welt" verkauft worden, dreihunderttausend vom "Kartengeheimnis", und beim jüngsten und dünnsten, dem vor wenigen Wochen erschienenen "Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort" (alle bei Hanser in München erschienen), sind es auch schon fast hunderttausend.
Jedes Mal, wenn von diesem Erfolg die Rede ist, fehlt der frohe Hinweis nicht, daß die Philosophie - ein Fach, das man fest in der Hand von Trockenschwimmern und Staubwedeln vermutete - in diesen Büchern eine Renaissance feiere. Nichts könnte falscher sein. Der schadenfrohe Vergleich mit der akademischen Disziplin führt in die Irre. Denn mit Philosophie haben diese drei Bücher nur bedingt etwas zu tun: Jostein Gaarders Kunst ist die Erfindung und schließlich auch die Serienfertigung von Naivität. "War es nicht seltsam, daß sie auf der Welt war und in einem wunderlichen Märchen herumlaufen konnte?" fragt sich Sofie. "Die Welt", denkt Hans-Thomas im "Kartengeheimnis", "ist ein so phantastisches Wunder, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll." Cecilie schließlich, die krebskranke Heldin des jüngsten Buches, muß lernen, daß Engel nichts anderes tun als staunen. Und Gott selbst staunt auch: "Deshalb freut er sich über neugierige kleine Kinder mehr als über das weltgewandte Auftreten der Erwachsenen." Nur wenn man diese Naivität als ein Staunen versteht, ist man nach altehrwürdiger Auffassung auch schon am Anfang der Philosophie.
Jostein Gaarder gibt die Philosophie, zum Vergnügen und zur Beruhigung vor allem der älteren Leser, ab sechs Jahren frei. Denn das Staunen ist in seinen Augen nicht nur der Anfang, sondern auch der Zweck aller Bemühungen um Weltweisheit: "Was ist dieser Weltstoff? Was ist vor Milliarden von Jahren explodiert? Woher kam es?" - "Das ist das große Rätsel." - "Aber es betrifft uns zutiefst. Denn wir sind selber aus diesem Stoff. Wir sind ein Funken des großen Feuers, das vor Jahrmillionen angezündet worden ist."
Das Ende dieses Dialogs ist typisch für die literarische Technik Jostein Gaarders. Er schließt in Ergriffenheit, und dann heißt es allenfalls: "Das hast du schön gesagt." Jostein Gaarder schreibt Erbauungsliteratur. Und seinem Erfolg liegt ein Rezept zugrunde, wie es zu Beginn dieses Jahrhunderts, in einer religiösen Begeisterung für die Naturwissenschaften, vor allem der Chirurg und Erbauungsschriftsteller Carl Ludwig Schleich mit ebenso großer Wirkung anwandte.
Jostein Gaarder verwandelt die Philosophie in eine mit viel Pädagogik geschmierte Staun- und Trostmaschine. Er verfabelt seine Botschaft und stellt Figuren auf die Bühne, die sich von den letzten Fragen mit Haut und Haaren ergreifen lassen. Es sind kindliche Allegorien auf die Wirksamkeit des ganz, ganz tiefen Denkens. Der Autor selber tritt dabei als sanfter Lehrer auf, als einer, dem man, wie allen guten Verführern, rückhaltlos vertrauen darf. Und das kann man auch wirklich. Denn dieser Denker ist als Weisheitsfreund ein Freund der Kinder.
Dreimal hat Jostein Gaarder die große Wundertüte der gefälligen Lebenslehren aufgemacht. Dreimal ist dasselbe drin, und nur die Verpackung, die literarische Form, ist verschieden. Weil aber das zweite Buch, eben "Sofies Welt", auf deutsch zuerst erschien, ist der Eindruck entstanden, es müsse auch in den beiden anderen Werken um Philosophie gehen. Nun ist "Sofies Welt" zwar eine Geschichte philosophischer Theorien in einer äußerst verknappten Form: Jeder Philosoph, jede Schule des Denkens wird auf einen Kern- und Glaubenssatz reduziert. Diese Glaubenssätze läßt Jostein Gaarder dann Revue passieren - mit dem zu erwartenden, schlichten Ergebnis, daß bedeutende Denker große und schwierige Fragen gestellt haben, aber keiner je zu einer klaren Antwort imstande gewesen ist. Es ist alles "Sternenstaub".
Nach Friedrich Nietzsche hat die akademische Philosophie die Beantwortung letzter Fragen aufgegeben und sich in zwei Fraktionen geteilt: Die eine ist historisch und verwaltet das, was andere sich gedacht haben, indem sie ihm Deutung über Deutung verleiht. Die andere ist analytisch und versucht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, indem sie immer neue Bedingungen und Möglichkeiten dafür erfindet, was man für wahr soll halten können. Ludwig Wittgenstein ist nicht der einzige, der daran verzweifelt ist. Jostein Gaarders Leistung besteht darin, zum ersten Mal den existentiellen Kern der analytischen Philosophie und der modernen Skepsis auf populäre Weise dargestellt zu haben. Und nicht nur das: Er gibt den Verzicht auf Wahrheit als positive Lebenseinstellung weiter, er erklärt die bittere Lehre der modernen Philosophie zu einer frohen Botschaft.
In Norwegen ist das "Kartengeheimnis" zuerst erschienen, und Jostein Gaarder treibt in diesem Buch noch erheblichen literarischen Aufwand. Ein ganzer romantischer Apparat vom Buch im Buch, von Spiegelschriften und Vexierbildern, verwunschener Purpurlimonade und magischen Inseln wird in Gang gesetzt, um das große Wundern plausibel zu machen. Doch im Unterschied zur Romantik kommt Jostein Gaarders Zauberzeug aus Bullerbü und ist von unnachgiebig freundlicher Natur. So freundlich, daß die Mutter, die doch Mann und Sohn verließ, um "sich selbst" in Griechenland zu finden, nach acht Jahren bei bloßem Hinsehen entdeckt, daß sie "mütterliche Instinkte" besitzt, die keinesfalls eine weitere Trennung von ihrem Ehemann dulden. Wo die Welt ein Rätsel sein soll, zählen die scheinbar einfachen Dinge doppelt: die ländliche Heimat in einem Krähwinkel Europas, die Gattenliebe und die Stimme des Blutes.
Freundlich ist sogar der Tod. Von einem sterbenden Kind, dem sentimentalsten aller sentimentalen Motive, handelt der jüngste Roman Jostein Gaarders. Der ganze große Erzählapparat der beiden vorangegangenen Bücher ist auf einen Engel geschrumpft, der dieses Kind beim Sterben begleitet - ein tränentreibendes Gebetbuchbildchen aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, wie es scheint, doch behutsam modernisiert. Der Engel hat ein paar Züge von Astrid Lindgrens "Karlsson auf dem Dach" angenommen, noch mehr aber von Steven Spielbergs Filmfigur "E.T.". Auch in diesem Film bricht das Jenseitige in den modernen Alltag ein, die Kinder werden zur Kindlichkeit zurückgeführt und die Gatten versöhnt, bis die Knaben am Ende auf ihren Fahrrädern in den Himmel schweben.
Im übrigen hat es eine ähnliche Geschichte vom Genius, der ein vom Leben gezeichnetes Kind über das Wunder der Schöpfung belehrt, schon einmal gegeben, wenn auch mit glücklicherem Ende: In Carl Ludwig Schleichs 1912 erschienenem Roman "Es läuten die Glocken" unterhalten sich der "Luftpeter" und die kleine Else über den Sinn des Daseins, bis dessen ganzes Elend von ihr abgefallen ist. Parallelen zu Carl Ludwig Schleich finden sich in allen Büchern Jostein Gaarders, und sie beginnen bei den Kapitelüberschriften: "Kant, der bestirnte Himmel über mir ..." titelt Jostein Gaarder, "Der Weltallsdenker zu Königsberg" sein älterer Kollege. Und sie enden noch lange nicht am Schluß, wenn Sofie in das Sternenzelt guckt und bei Schleich der Abendhimmel aufgeht. Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll: über die Wiederkehr der Erbauungsliteratur im halbseriösen Gewand oder darüber, daß sich angesichts eines offensichtlichen Kalküls mit dem Sentimentalen bei Publikum und Kritik nicht ein bißchen Mißmut rührt.
Der Titel des Romans "Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort" ist dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther entlehnt. Jostein Gaarder gibt dieser Stelle einen dekonstruktivistischen Sinn: "Manchmal können wir durch den Spiegel schauen und ein wenig von dem entdecken, was sich auf der anderen Seite befindet. Aber wenn wir den Spiegel ganz sauber wischten, würden wir viel mehr sehen. Nur könnten wir uns dann selbst nicht mehr erkennen." Man muß nur mißtrauisch genug gegen die Vernunft sein, lautet die Botschaft, dann stellt sich das Vertrauen in den Sinn des Lebens bald ein. Denn was sind schon die Menschen? "Seifenblasen, die Gott fliegen läßt." Jostein Gaarder predigt das Unding einer seiner selbst bewußten Naivität. Das kostet den Verstand. THOMAS STEINFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles Sternenstaub: Jostein Gaarder ist wieder da
Jostein Gaarder ist ein erfolgreicher Mann. Seit den frühen neunziger Jahren betreibt er eine Volkshochschule der Weltweisheit in Fernkursen. Der 1991 in Norwegen und zwei Jahre später in Deutschland veröffentlichte Roman "Sofies Welt", eine zur Fabel gewordene Geschichte der Philosophie, hat den Sozialdemokraten und Familienmenschen aus Oslo zum Millionär gemacht. Die meisten Rezensionen, die zu den mittlerweile drei Büchern Jostein Gaarders erschienen, verweisen auf diesen Erfolg: Eineinhalb Millionen Exemplare sind allein in Deutschland von "Sofies Welt" verkauft worden, dreihunderttausend vom "Kartengeheimnis", und beim jüngsten und dünnsten, dem vor wenigen Wochen erschienenen "Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort" (alle bei Hanser in München erschienen), sind es auch schon fast hunderttausend.
Jedes Mal, wenn von diesem Erfolg die Rede ist, fehlt der frohe Hinweis nicht, daß die Philosophie - ein Fach, das man fest in der Hand von Trockenschwimmern und Staubwedeln vermutete - in diesen Büchern eine Renaissance feiere. Nichts könnte falscher sein. Der schadenfrohe Vergleich mit der akademischen Disziplin führt in die Irre. Denn mit Philosophie haben diese drei Bücher nur bedingt etwas zu tun: Jostein Gaarders Kunst ist die Erfindung und schließlich auch die Serienfertigung von Naivität. "War es nicht seltsam, daß sie auf der Welt war und in einem wunderlichen Märchen herumlaufen konnte?" fragt sich Sofie. "Die Welt", denkt Hans-Thomas im "Kartengeheimnis", "ist ein so phantastisches Wunder, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll." Cecilie schließlich, die krebskranke Heldin des jüngsten Buches, muß lernen, daß Engel nichts anderes tun als staunen. Und Gott selbst staunt auch: "Deshalb freut er sich über neugierige kleine Kinder mehr als über das weltgewandte Auftreten der Erwachsenen." Nur wenn man diese Naivität als ein Staunen versteht, ist man nach altehrwürdiger Auffassung auch schon am Anfang der Philosophie.
Jostein Gaarder gibt die Philosophie, zum Vergnügen und zur Beruhigung vor allem der älteren Leser, ab sechs Jahren frei. Denn das Staunen ist in seinen Augen nicht nur der Anfang, sondern auch der Zweck aller Bemühungen um Weltweisheit: "Was ist dieser Weltstoff? Was ist vor Milliarden von Jahren explodiert? Woher kam es?" - "Das ist das große Rätsel." - "Aber es betrifft uns zutiefst. Denn wir sind selber aus diesem Stoff. Wir sind ein Funken des großen Feuers, das vor Jahrmillionen angezündet worden ist."
Das Ende dieses Dialogs ist typisch für die literarische Technik Jostein Gaarders. Er schließt in Ergriffenheit, und dann heißt es allenfalls: "Das hast du schön gesagt." Jostein Gaarder schreibt Erbauungsliteratur. Und seinem Erfolg liegt ein Rezept zugrunde, wie es zu Beginn dieses Jahrhunderts, in einer religiösen Begeisterung für die Naturwissenschaften, vor allem der Chirurg und Erbauungsschriftsteller Carl Ludwig Schleich mit ebenso großer Wirkung anwandte.
Jostein Gaarder verwandelt die Philosophie in eine mit viel Pädagogik geschmierte Staun- und Trostmaschine. Er verfabelt seine Botschaft und stellt Figuren auf die Bühne, die sich von den letzten Fragen mit Haut und Haaren ergreifen lassen. Es sind kindliche Allegorien auf die Wirksamkeit des ganz, ganz tiefen Denkens. Der Autor selber tritt dabei als sanfter Lehrer auf, als einer, dem man, wie allen guten Verführern, rückhaltlos vertrauen darf. Und das kann man auch wirklich. Denn dieser Denker ist als Weisheitsfreund ein Freund der Kinder.
Dreimal hat Jostein Gaarder die große Wundertüte der gefälligen Lebenslehren aufgemacht. Dreimal ist dasselbe drin, und nur die Verpackung, die literarische Form, ist verschieden. Weil aber das zweite Buch, eben "Sofies Welt", auf deutsch zuerst erschien, ist der Eindruck entstanden, es müsse auch in den beiden anderen Werken um Philosophie gehen. Nun ist "Sofies Welt" zwar eine Geschichte philosophischer Theorien in einer äußerst verknappten Form: Jeder Philosoph, jede Schule des Denkens wird auf einen Kern- und Glaubenssatz reduziert. Diese Glaubenssätze läßt Jostein Gaarder dann Revue passieren - mit dem zu erwartenden, schlichten Ergebnis, daß bedeutende Denker große und schwierige Fragen gestellt haben, aber keiner je zu einer klaren Antwort imstande gewesen ist. Es ist alles "Sternenstaub".
Nach Friedrich Nietzsche hat die akademische Philosophie die Beantwortung letzter Fragen aufgegeben und sich in zwei Fraktionen geteilt: Die eine ist historisch und verwaltet das, was andere sich gedacht haben, indem sie ihm Deutung über Deutung verleiht. Die andere ist analytisch und versucht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, indem sie immer neue Bedingungen und Möglichkeiten dafür erfindet, was man für wahr soll halten können. Ludwig Wittgenstein ist nicht der einzige, der daran verzweifelt ist. Jostein Gaarders Leistung besteht darin, zum ersten Mal den existentiellen Kern der analytischen Philosophie und der modernen Skepsis auf populäre Weise dargestellt zu haben. Und nicht nur das: Er gibt den Verzicht auf Wahrheit als positive Lebenseinstellung weiter, er erklärt die bittere Lehre der modernen Philosophie zu einer frohen Botschaft.
In Norwegen ist das "Kartengeheimnis" zuerst erschienen, und Jostein Gaarder treibt in diesem Buch noch erheblichen literarischen Aufwand. Ein ganzer romantischer Apparat vom Buch im Buch, von Spiegelschriften und Vexierbildern, verwunschener Purpurlimonade und magischen Inseln wird in Gang gesetzt, um das große Wundern plausibel zu machen. Doch im Unterschied zur Romantik kommt Jostein Gaarders Zauberzeug aus Bullerbü und ist von unnachgiebig freundlicher Natur. So freundlich, daß die Mutter, die doch Mann und Sohn verließ, um "sich selbst" in Griechenland zu finden, nach acht Jahren bei bloßem Hinsehen entdeckt, daß sie "mütterliche Instinkte" besitzt, die keinesfalls eine weitere Trennung von ihrem Ehemann dulden. Wo die Welt ein Rätsel sein soll, zählen die scheinbar einfachen Dinge doppelt: die ländliche Heimat in einem Krähwinkel Europas, die Gattenliebe und die Stimme des Blutes.
Freundlich ist sogar der Tod. Von einem sterbenden Kind, dem sentimentalsten aller sentimentalen Motive, handelt der jüngste Roman Jostein Gaarders. Der ganze große Erzählapparat der beiden vorangegangenen Bücher ist auf einen Engel geschrumpft, der dieses Kind beim Sterben begleitet - ein tränentreibendes Gebetbuchbildchen aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, wie es scheint, doch behutsam modernisiert. Der Engel hat ein paar Züge von Astrid Lindgrens "Karlsson auf dem Dach" angenommen, noch mehr aber von Steven Spielbergs Filmfigur "E.T.". Auch in diesem Film bricht das Jenseitige in den modernen Alltag ein, die Kinder werden zur Kindlichkeit zurückgeführt und die Gatten versöhnt, bis die Knaben am Ende auf ihren Fahrrädern in den Himmel schweben.
Im übrigen hat es eine ähnliche Geschichte vom Genius, der ein vom Leben gezeichnetes Kind über das Wunder der Schöpfung belehrt, schon einmal gegeben, wenn auch mit glücklicherem Ende: In Carl Ludwig Schleichs 1912 erschienenem Roman "Es läuten die Glocken" unterhalten sich der "Luftpeter" und die kleine Else über den Sinn des Daseins, bis dessen ganzes Elend von ihr abgefallen ist. Parallelen zu Carl Ludwig Schleich finden sich in allen Büchern Jostein Gaarders, und sie beginnen bei den Kapitelüberschriften: "Kant, der bestirnte Himmel über mir ..." titelt Jostein Gaarder, "Der Weltallsdenker zu Königsberg" sein älterer Kollege. Und sie enden noch lange nicht am Schluß, wenn Sofie in das Sternenzelt guckt und bei Schleich der Abendhimmel aufgeht. Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll: über die Wiederkehr der Erbauungsliteratur im halbseriösen Gewand oder darüber, daß sich angesichts eines offensichtlichen Kalküls mit dem Sentimentalen bei Publikum und Kritik nicht ein bißchen Mißmut rührt.
Der Titel des Romans "Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort" ist dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther entlehnt. Jostein Gaarder gibt dieser Stelle einen dekonstruktivistischen Sinn: "Manchmal können wir durch den Spiegel schauen und ein wenig von dem entdecken, was sich auf der anderen Seite befindet. Aber wenn wir den Spiegel ganz sauber wischten, würden wir viel mehr sehen. Nur könnten wir uns dann selbst nicht mehr erkennen." Man muß nur mißtrauisch genug gegen die Vernunft sein, lautet die Botschaft, dann stellt sich das Vertrauen in den Sinn des Lebens bald ein. Denn was sind schon die Menschen? "Seifenblasen, die Gott fliegen läßt." Jostein Gaarder predigt das Unding einer seiner selbst bewußten Naivität. Das kostet den Verstand. THOMAS STEINFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Autor ist nicht nur ein Sokrates der 90er Jahre, sondern auch ein milder Erzähler. Der Tod beschließt das Buch, doch ist er bei Gaarder das Ende eines langen Fragens und ohne Schrecken. Dieses Buch kann für viele Menschen sehr hilfreich sein." K. K. in der 'Neuen Osnabrücker Zeitung'
"Dieses Werk Gaarders durchzieht ein mitreißender Spannungsbogen, der neben all dem Wunderbaren auch die Komik nicht zu kurz kommen läßt. Und am Schluß wohnt der Rührung etwas Befreiendes inne." Ulrich Karger in der 'Frankfurter Stadtillustrierten'
"Gaarder beweist in diesem ergreifend schönen Buch, daß er, wie schon in 'Sofies Welt', sein Metier meisterhaft beherrscht." Manuela Haselberger in der 'Südwest Presse'
"Weil Gaarder seine erwachsenen und jugendlichen Leserinnen und Leser behutsam, geistreich und humorvoll an den Tod heranführt und diesem dadurch seinen Schrecken zu nehmen weiss, ist es ein lebensbejahendes Buch geworden." Judith Stofer im 'Tages-Anzeiger', Zürich
"Dieses Werk Gaarders durchzieht ein mitreißender Spannungsbogen, der neben all dem Wunderbaren auch die Komik nicht zu kurz kommen läßt. Und am Schluß wohnt der Rührung etwas Befreiendes inne." Ulrich Karger in der 'Frankfurter Stadtillustrierten'
"Gaarder beweist in diesem ergreifend schönen Buch, daß er, wie schon in 'Sofies Welt', sein Metier meisterhaft beherrscht." Manuela Haselberger in der 'Südwest Presse'
"Weil Gaarder seine erwachsenen und jugendlichen Leserinnen und Leser behutsam, geistreich und humorvoll an den Tod heranführt und diesem dadurch seinen Schrecken zu nehmen weiss, ist es ein lebensbejahendes Buch geworden." Judith Stofer im 'Tages-Anzeiger', Zürich
»Jostein Gaarder hat ein unsentimentales, sanftes, gescheites Buch geschrieben.« Süddeutsche Zeitung
"Die Machart ist schlicht und wirkungsvoll: wenige Stimmen, einige Geräusche und schöne, leise Tonklänge."