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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2024Hilfe für die Ukraine muss von Deutschland kommen
Von Kurt-Jürgen Maaß
In den Wirren des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution versuchte die Ukraine, ihre Unabhängigkeit als eigener Staat zu erkämpfen. Dabei erhoffte sie sich die Unterstützung von Deutschland. Ein Journalist der "Frankfurter Zeitung" beschrieb dies informationsreich in einem im Sommer 1918 erschienenen Buch, das auch heute noch spannend zu lesen ist.
Fritz Wertheimer war von 1907 bis 1918 Redakteur der "Frankfurter Zeitung" (FZ). Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er für seine Zeitung als "Kriegsberichterstatter" im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung bei Hindenburg akkreditiert. Auf der Grundlage seiner regelmäßigen Artikel in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlichte er acht "Kriegstagebücher". Das achte und letzte hieß "Durch Ukraine und Krim", es erschien im Juli 1918.
Ausgangspunkt dieses Buches war der Frieden von Brest-Litowsk zwischen den sogenannten "Mittelmächten" (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Osmanisches Reich) und Sowjetrussland vom 3. März 1918. Vorausgegangen waren im Jahr 1917 eine zunehmende Kriegsmüdigkeit Russlands und der Oktoberumsturz 1917. Unmittelbar danach schlug Revolutionsführer Lenin einen Waffenstillstand vor, der am 15. Dezember 1917 in Kraft trat und den Friedensschluss vorbereiten sollte. Leo Trotzki als Militärführer der Bolschewisten war absolut gegen die Initiative und versuchte, sie zu hintertreiben.
Zwei Monate später, am 17. Februar 1918, erklärte Deutschland den Waffenstillstand für beendet und besetzte innerhalb weniger Tage Estland, Livland, Weißrussland, die Ukraine und die Krim sowie Teile Russlands ("Operation Faustschlag"). Daraufhin bat die Regierung von Sowjetrussland um Frieden, und Deutschland setzte eine Frist von drei Tagen, das Friedenspapier mit sehr harten Bedingungen für Russland anzunehmen. Lenin war bereit, Trotzki unentschlossen. Am 3. März 1918 wurde der Friedensschluss unterzeichnet.
Zwei Wochen später brach Fritz Wertheimer zu seiner Reise auf, um unmittelbar aus den eroberten Gebieten für die "Frankfurter Zeitung" "über politische und wirtschaftliche Verhältnisse zu unterrichten, um derentwillen trotz des Friedensschlusses dieser letzte Akt der Kriegführung im Osten nötig war". Im Vorwort entschuldigte er sich dafür, dass ein Teil der gesammelten Artikel bei der damals herrschenden Papiernot vor der Zusammenfassung als Buch - es erschien im Juni 1918 - nicht im Druck erschienen sei.
Das Buch sollte dem deutschen Leser verständlich machen, warum Deutschland den "unter deutscher Patenschaft" gegründeten ukrainischen Staat unterstützte. Die Ukraine hatte Ende Dezember 1917 Sowjetrussland offiziell den Krieg erklärt und schon am 9. Februar 1918 einen Separatfrieden mit den Mittelmächten geschlossen. Nach diesem Friedensschluss überfielen "bolschewistische Truppen" Teile der Ukraine, öffneten die Zuchthäuser und Gefängnisse und machten die Strafgefangenen zu ihrer "Kerntruppe". Es begann ein "schonungsloses Morden". Binnen eines Monats wurden allein in Kiew 6000 Menschen erschossen, davon 2500 ehemalige russische Offiziere. Später, so berichtete Wertheimer, fand man die Listen zu diesem "systematischen Massenmord". Die russischen Truppen wurden von den einrückenden deutschen Truppen vertrieben.
In Kiew lebten damals 460.000 Einwohner, davon 231.000 Großrussen, 87.000 Juden, 56.000 Ukrainer, 43.000 Polen, 21.000 Kleinrussen und 22.000 Angehörige anderer Nationalitäten. Ukrainisches Denken im Sinne eines neuen eigenen Staates war nur bei einem kleinen Teil vorhanden, Träger des Staatsgedankens waren eher "linksstehende und sozialistische Parteien". Die Bauern waren überwiegend Analphabeten. Die Schulen, so analysierte Wertheimer, waren "extrem unterfinanziert, oft nur einklassig, der Unterricht kurz und nur von Oktober bis Mai, weil alle Kinder in der Landwirtschaft helfen mussten".
Besonders interessierte Wertheimer - vielleicht auch im Hinblick auf seine deutsche Leserschaft - das Schicksal und die Situation der deutschen Auswanderer, "Kolonisten" genannt. Auf Einladung des russischen Zaren Alexander I. waren 1803 die ersten 3000 aus Württemberg (überwiegend aus Ulm) gekommen, in den Folgejahren weitere größere Gruppen, auch aus Baden, dem Elsass und der Rheinpfalz. Die deutschen Auswanderer waren gut organisiert, gründeten sogar einen "allrussischen Kongress der Deutschrussen", im Landkreis Odessa stellten sie 40 Prozent der Bevölkerung und besaßen dort 60 Prozent des gesamten Bodens.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine etwa 800.000 deutsche Kolonisten. Von ihnen - so war der Eindruck von Wertheimer - glaubte kaum einer an den Bestand einer selbständigen Ukraine. Würde die neue Republik von Sozialisten regiert und würde das "freie Eigentum" abgeschafft, würden, so die verbreitete Meinung, die deutschen Kolonien geschlossen in die deutsche Heimat zurückwandern.
Wertheimer, der selbst aus einer jüdischen Familie stammte, interessierte sich auch für die jüdischen Kolonisten am Dnjepr. Man schätzte damals, dass es in Südrussland 35 jüdische Kolonien gab. Die russische Regierung hatte diese Gruppen, die ursprünglich vorwiegend aus Handwerkern und Händlern bestanden, zu Bauern umzuerziehen versucht und hatte zur Unterstützung in jede jüdische Kolonie zwei oder drei deutsche "Musterbauern" gesetzt, die sie beraten und unterstützen sollten. Die Umschulung war allerdings nur begrenzt erfolgreich. Die jüdischen Siedler, so erfuhr Wertheimer, seien keine Ackerbauern und würden es auch nie.
Aus der Ukraine reiste der Kriegsberichterstatter auf die Krim, und hier war sein Eindruck: "Wohl nirgends auf russischer Erde ist der deutsche Einmarsch mit so einhelliger Begeisterung begrüßt worden wie auf der Krim." Das hing mit der überragenden wirtschaftlichen Bedeutung der deutschen Kolonisten für das dortige Wirtschaftsleben zusammen: rund 70 Prozent des gesamten anbaufähigen Flachlandes wurden von ihnen bewirtschaftet. Zusätzlich hatten Deutsche und Tataren 1917 die Krim zur "unabhängigen Republik" erklärt, dieser "Aufstand" war aber von den Bolschewisten blutig niedergeschlagen worden.
Im letzten Teil seines Buches beziehungsweise seiner Sammlung von FZ-Artikeln beschäftigte sich Wertheimer ausführlich mit den gesellschaftlichen, politischen und strukturellen Problemen der Gründung eines eigenständigen Staates Ukraine. An verschiedenen Stellen seines Buches unterstrich er immer wieder die Bildungsdefizite, denn nahezu 80 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Unter den Sünden des Zarismus sei die schwerste die "völlige Unbildung", die dazu geführt habe, dass die Menschen durch Agitatoren jeglicher Richtung zu beeinflussen seien - von Nationalitäten-Feindschaften über Parteigrundsätze bis hin zu Sozialneid und Armut. Das Land leide schwer unter der "klaffenden Schlucht" zwischen der dünnen Schicht der Gebildeten und der trägen Masse des Bauerntums. So gelang es den Sozialisten, die Bauern gegen den Großgrundbesitz aufzustacheln, und dies führte zu einem regelrechten Bauernkrieg in der Ukraine, in dem eine "maßlos verhetzte Bauernschaft" große Teile des Gutsbesitzes zerstörte, Schlösser und Gutshäuser beraubte und verbrannte und die Wirtschaftsgebäude vernichtete. Wertheimer nannte es "vandalische Verwüstungen". Sie hatten fatale Folgen etwa für die zerstörte Zuckerindustrie - Wertheimer bezeichnete dies als eine der "ernstesten und dringendsten Fragen der jungen ukrainischen Republik".
Wertheimer erlebte während seines Aufenthalts dort auch die Suche nach einer neuen Führung für das Land. Die Ukraine hatte - das teilte sie mit vielen anderen Völkern Europas - keine stringente Tradition von Staatlichkeit und Eliten. Bei seiner Ankunft fand er eine Art Regierung vor, die auf die Zentralna Rada zurückging, eine nach der Vertreibung des Zaren im Frühjahr 1917 von Repräsentanten politischer, kultureller und beruflicher Organisationen gewählte Vertretung des Volkes, die durch Nachwahlen bis zum Sommer 1917 auf mehr als 800 Delegierte angestiegen war. Sie war in der Anfangszeit das Verwaltungs- und zugleich "Regierungs"-Gremium des neuen Landes. Im Januar 1918 beschloss das Gremium die Sozialisierung des gesamten Bodens und die Verteilung unter die "arbeitende Klasse" - dies führte zu dem anarchischen Bauernkrieg mit unübersehbaren Schäden für die Landwirtschaft. Um die von den Mittelmächten erwarteten Getreidelieferungen aus der Ukraine sicherzustellen, mussten schließlich Soldaten eingreifen und die maßlosen Bauernvorstellungen beschneiden. Der deutsche Beobachter schilderte wortreich die Zerrissenheit der innerstaatlichen Kräfte, die um die Macht in der neuen Ukraine kämpfen.
Die Rada verlor während der stürmischen Monate nach dem deutschen Einmarsch zunehmend an Unterstützung. Als dann die Lebensmittellieferungen aus der Ukraine an die Mittelmächte nicht den erwarteten Umfang erreichten, unterstützten die Besatzer Ende April 1918 den Umsturzplan des früheren Generals Pawlo Skoropadskyj, eines ehemaligen Großgrundbesitzers. Der General hatte eine neue Partei gegründet, die "ukrainischen Volksgromada", deren Ziel die Wiederherstellung des Eigentums an Grund und Boden war. Der Aufruf zur nationalen Zusammenarbeit, so schrieb Wertheimer, lasse "an Klarheit über die politische Auffassung der inneren wie der auswärtig-politischen Verhältnisse der Ukrainer wenig zu wünschen übrig". Allerdings: Hilfe bei der Schaffung einer neuen Staatlichkeit für die Ukraine könne nur von Deutschland kommen.
Als aus Rada-Kreisen eine Verschwörung gegen die deutschen Truppen und Offiziere aufgedeckt wurde, nutzte die Volksgromada die Unruhe, um Ende April 1918 bei einem Bauernkongress in Kiew mit 4000 Teilnehmern die Idee zu lancieren, eine neue Regierung zu bilden und dabei "nach altem, historischem Brauch der Ukrainer einen Hetman mit ukrainischem Nationalgefühl an die Spitze zu stellen". Der Bauernkongress bestimmte durch "minutenlanges Toben des Beifallssturms" Skoropadskyj zum neuen "Hetman" und damit zum Staatsoberhaupt der neuen Ukraine. Das war nichts anderes als ein Staatsstreich, aber Wertheimer sah ihn positiv. Obwohl die Kräfte des Landes noch alles andere als Zusammenwirken und Kompromissfähigkeit praktizierten, sah der deutsche Beobachter Chancen für einen konstruktiven Neuanfang. Die Zentralmächte Europas, also vor allem Deutschland und Österreich-Ungarn, müssten dem ukrainischen Staat alle Hilfe angedeihen lassen, die seine Selbständigkeit stützen und wirtschaftlich wie politisch festigen könne, so seine Schlussfolgerung, mit der sein Buch endet.
Die Geschichte entwickelte sich nach Wertheimers Rückreise Mitte Juni 1918 nach Deutschland allerdings stürmisch weiter und anders, als der Journalist erwartet hatte: nicht nur beging Skoropadskyj entscheidende politische Fehler - seine kompromisslose Restauration und der Versuch, die gesamte Sozialisierung von Grund und Boden zu annullieren, machten ihn zunehmend unbeliebt. Nach dem weiteren erzwungenen Regierungswechsel im November 1918 wurde Skoropadskyj gestürzt und zum Verräter erklärt, er versteckte sich in Kiew und floh mit Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amtes nach Deutschland ins Exil.
Die desolate Informationslage während der Schlussphase des Krieges führte dazu, dass Wertheimer während seines Aufenthaltes in der Ukraine vom Zusammenbruch der Westfront wohl nur sehr wenig erfuhr. Am 11. November 1918 im Waffenstillstand von Compiègne kam es zum Ende der Kampfhandlungen. Der Frieden von Brest-Litowsk wurde annulliert. Es war auch das Ende der ersten Unabhängigkeit der Ukraine.
Fritz Wertheimer verließ die Redaktion der "Frankfurter Zeitung" Ende 1918 und war von 1919 an Generalsekretär des neu gegründeten Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart, das sich für das Auswärtige Amt schwerpunktmäßig um die deutsche Diaspora im Ausland kümmern sollte. Wegen seiner jüdischen Wurzeln wurde er 1933 von den Nationalsozialisten direkt entlassen. Er emigrierte später nach Brasilien.
Kurt-Jürgen Maaß, Honorarprofessor an der Universität Tübingen, ist ehemaliger Generalsekretär des Instituts für Auslandsbeziehungen.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Kurt-Jürgen Maaß
In den Wirren des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution versuchte die Ukraine, ihre Unabhängigkeit als eigener Staat zu erkämpfen. Dabei erhoffte sie sich die Unterstützung von Deutschland. Ein Journalist der "Frankfurter Zeitung" beschrieb dies informationsreich in einem im Sommer 1918 erschienenen Buch, das auch heute noch spannend zu lesen ist.
Fritz Wertheimer war von 1907 bis 1918 Redakteur der "Frankfurter Zeitung" (FZ). Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er für seine Zeitung als "Kriegsberichterstatter" im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung bei Hindenburg akkreditiert. Auf der Grundlage seiner regelmäßigen Artikel in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlichte er acht "Kriegstagebücher". Das achte und letzte hieß "Durch Ukraine und Krim", es erschien im Juli 1918.
Ausgangspunkt dieses Buches war der Frieden von Brest-Litowsk zwischen den sogenannten "Mittelmächten" (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Osmanisches Reich) und Sowjetrussland vom 3. März 1918. Vorausgegangen waren im Jahr 1917 eine zunehmende Kriegsmüdigkeit Russlands und der Oktoberumsturz 1917. Unmittelbar danach schlug Revolutionsführer Lenin einen Waffenstillstand vor, der am 15. Dezember 1917 in Kraft trat und den Friedensschluss vorbereiten sollte. Leo Trotzki als Militärführer der Bolschewisten war absolut gegen die Initiative und versuchte, sie zu hintertreiben.
Zwei Monate später, am 17. Februar 1918, erklärte Deutschland den Waffenstillstand für beendet und besetzte innerhalb weniger Tage Estland, Livland, Weißrussland, die Ukraine und die Krim sowie Teile Russlands ("Operation Faustschlag"). Daraufhin bat die Regierung von Sowjetrussland um Frieden, und Deutschland setzte eine Frist von drei Tagen, das Friedenspapier mit sehr harten Bedingungen für Russland anzunehmen. Lenin war bereit, Trotzki unentschlossen. Am 3. März 1918 wurde der Friedensschluss unterzeichnet.
Zwei Wochen später brach Fritz Wertheimer zu seiner Reise auf, um unmittelbar aus den eroberten Gebieten für die "Frankfurter Zeitung" "über politische und wirtschaftliche Verhältnisse zu unterrichten, um derentwillen trotz des Friedensschlusses dieser letzte Akt der Kriegführung im Osten nötig war". Im Vorwort entschuldigte er sich dafür, dass ein Teil der gesammelten Artikel bei der damals herrschenden Papiernot vor der Zusammenfassung als Buch - es erschien im Juni 1918 - nicht im Druck erschienen sei.
Das Buch sollte dem deutschen Leser verständlich machen, warum Deutschland den "unter deutscher Patenschaft" gegründeten ukrainischen Staat unterstützte. Die Ukraine hatte Ende Dezember 1917 Sowjetrussland offiziell den Krieg erklärt und schon am 9. Februar 1918 einen Separatfrieden mit den Mittelmächten geschlossen. Nach diesem Friedensschluss überfielen "bolschewistische Truppen" Teile der Ukraine, öffneten die Zuchthäuser und Gefängnisse und machten die Strafgefangenen zu ihrer "Kerntruppe". Es begann ein "schonungsloses Morden". Binnen eines Monats wurden allein in Kiew 6000 Menschen erschossen, davon 2500 ehemalige russische Offiziere. Später, so berichtete Wertheimer, fand man die Listen zu diesem "systematischen Massenmord". Die russischen Truppen wurden von den einrückenden deutschen Truppen vertrieben.
In Kiew lebten damals 460.000 Einwohner, davon 231.000 Großrussen, 87.000 Juden, 56.000 Ukrainer, 43.000 Polen, 21.000 Kleinrussen und 22.000 Angehörige anderer Nationalitäten. Ukrainisches Denken im Sinne eines neuen eigenen Staates war nur bei einem kleinen Teil vorhanden, Träger des Staatsgedankens waren eher "linksstehende und sozialistische Parteien". Die Bauern waren überwiegend Analphabeten. Die Schulen, so analysierte Wertheimer, waren "extrem unterfinanziert, oft nur einklassig, der Unterricht kurz und nur von Oktober bis Mai, weil alle Kinder in der Landwirtschaft helfen mussten".
Besonders interessierte Wertheimer - vielleicht auch im Hinblick auf seine deutsche Leserschaft - das Schicksal und die Situation der deutschen Auswanderer, "Kolonisten" genannt. Auf Einladung des russischen Zaren Alexander I. waren 1803 die ersten 3000 aus Württemberg (überwiegend aus Ulm) gekommen, in den Folgejahren weitere größere Gruppen, auch aus Baden, dem Elsass und der Rheinpfalz. Die deutschen Auswanderer waren gut organisiert, gründeten sogar einen "allrussischen Kongress der Deutschrussen", im Landkreis Odessa stellten sie 40 Prozent der Bevölkerung und besaßen dort 60 Prozent des gesamten Bodens.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine etwa 800.000 deutsche Kolonisten. Von ihnen - so war der Eindruck von Wertheimer - glaubte kaum einer an den Bestand einer selbständigen Ukraine. Würde die neue Republik von Sozialisten regiert und würde das "freie Eigentum" abgeschafft, würden, so die verbreitete Meinung, die deutschen Kolonien geschlossen in die deutsche Heimat zurückwandern.
Wertheimer, der selbst aus einer jüdischen Familie stammte, interessierte sich auch für die jüdischen Kolonisten am Dnjepr. Man schätzte damals, dass es in Südrussland 35 jüdische Kolonien gab. Die russische Regierung hatte diese Gruppen, die ursprünglich vorwiegend aus Handwerkern und Händlern bestanden, zu Bauern umzuerziehen versucht und hatte zur Unterstützung in jede jüdische Kolonie zwei oder drei deutsche "Musterbauern" gesetzt, die sie beraten und unterstützen sollten. Die Umschulung war allerdings nur begrenzt erfolgreich. Die jüdischen Siedler, so erfuhr Wertheimer, seien keine Ackerbauern und würden es auch nie.
Aus der Ukraine reiste der Kriegsberichterstatter auf die Krim, und hier war sein Eindruck: "Wohl nirgends auf russischer Erde ist der deutsche Einmarsch mit so einhelliger Begeisterung begrüßt worden wie auf der Krim." Das hing mit der überragenden wirtschaftlichen Bedeutung der deutschen Kolonisten für das dortige Wirtschaftsleben zusammen: rund 70 Prozent des gesamten anbaufähigen Flachlandes wurden von ihnen bewirtschaftet. Zusätzlich hatten Deutsche und Tataren 1917 die Krim zur "unabhängigen Republik" erklärt, dieser "Aufstand" war aber von den Bolschewisten blutig niedergeschlagen worden.
Im letzten Teil seines Buches beziehungsweise seiner Sammlung von FZ-Artikeln beschäftigte sich Wertheimer ausführlich mit den gesellschaftlichen, politischen und strukturellen Problemen der Gründung eines eigenständigen Staates Ukraine. An verschiedenen Stellen seines Buches unterstrich er immer wieder die Bildungsdefizite, denn nahezu 80 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Unter den Sünden des Zarismus sei die schwerste die "völlige Unbildung", die dazu geführt habe, dass die Menschen durch Agitatoren jeglicher Richtung zu beeinflussen seien - von Nationalitäten-Feindschaften über Parteigrundsätze bis hin zu Sozialneid und Armut. Das Land leide schwer unter der "klaffenden Schlucht" zwischen der dünnen Schicht der Gebildeten und der trägen Masse des Bauerntums. So gelang es den Sozialisten, die Bauern gegen den Großgrundbesitz aufzustacheln, und dies führte zu einem regelrechten Bauernkrieg in der Ukraine, in dem eine "maßlos verhetzte Bauernschaft" große Teile des Gutsbesitzes zerstörte, Schlösser und Gutshäuser beraubte und verbrannte und die Wirtschaftsgebäude vernichtete. Wertheimer nannte es "vandalische Verwüstungen". Sie hatten fatale Folgen etwa für die zerstörte Zuckerindustrie - Wertheimer bezeichnete dies als eine der "ernstesten und dringendsten Fragen der jungen ukrainischen Republik".
Wertheimer erlebte während seines Aufenthalts dort auch die Suche nach einer neuen Führung für das Land. Die Ukraine hatte - das teilte sie mit vielen anderen Völkern Europas - keine stringente Tradition von Staatlichkeit und Eliten. Bei seiner Ankunft fand er eine Art Regierung vor, die auf die Zentralna Rada zurückging, eine nach der Vertreibung des Zaren im Frühjahr 1917 von Repräsentanten politischer, kultureller und beruflicher Organisationen gewählte Vertretung des Volkes, die durch Nachwahlen bis zum Sommer 1917 auf mehr als 800 Delegierte angestiegen war. Sie war in der Anfangszeit das Verwaltungs- und zugleich "Regierungs"-Gremium des neuen Landes. Im Januar 1918 beschloss das Gremium die Sozialisierung des gesamten Bodens und die Verteilung unter die "arbeitende Klasse" - dies führte zu dem anarchischen Bauernkrieg mit unübersehbaren Schäden für die Landwirtschaft. Um die von den Mittelmächten erwarteten Getreidelieferungen aus der Ukraine sicherzustellen, mussten schließlich Soldaten eingreifen und die maßlosen Bauernvorstellungen beschneiden. Der deutsche Beobachter schilderte wortreich die Zerrissenheit der innerstaatlichen Kräfte, die um die Macht in der neuen Ukraine kämpfen.
Die Rada verlor während der stürmischen Monate nach dem deutschen Einmarsch zunehmend an Unterstützung. Als dann die Lebensmittellieferungen aus der Ukraine an die Mittelmächte nicht den erwarteten Umfang erreichten, unterstützten die Besatzer Ende April 1918 den Umsturzplan des früheren Generals Pawlo Skoropadskyj, eines ehemaligen Großgrundbesitzers. Der General hatte eine neue Partei gegründet, die "ukrainischen Volksgromada", deren Ziel die Wiederherstellung des Eigentums an Grund und Boden war. Der Aufruf zur nationalen Zusammenarbeit, so schrieb Wertheimer, lasse "an Klarheit über die politische Auffassung der inneren wie der auswärtig-politischen Verhältnisse der Ukrainer wenig zu wünschen übrig". Allerdings: Hilfe bei der Schaffung einer neuen Staatlichkeit für die Ukraine könne nur von Deutschland kommen.
Als aus Rada-Kreisen eine Verschwörung gegen die deutschen Truppen und Offiziere aufgedeckt wurde, nutzte die Volksgromada die Unruhe, um Ende April 1918 bei einem Bauernkongress in Kiew mit 4000 Teilnehmern die Idee zu lancieren, eine neue Regierung zu bilden und dabei "nach altem, historischem Brauch der Ukrainer einen Hetman mit ukrainischem Nationalgefühl an die Spitze zu stellen". Der Bauernkongress bestimmte durch "minutenlanges Toben des Beifallssturms" Skoropadskyj zum neuen "Hetman" und damit zum Staatsoberhaupt der neuen Ukraine. Das war nichts anderes als ein Staatsstreich, aber Wertheimer sah ihn positiv. Obwohl die Kräfte des Landes noch alles andere als Zusammenwirken und Kompromissfähigkeit praktizierten, sah der deutsche Beobachter Chancen für einen konstruktiven Neuanfang. Die Zentralmächte Europas, also vor allem Deutschland und Österreich-Ungarn, müssten dem ukrainischen Staat alle Hilfe angedeihen lassen, die seine Selbständigkeit stützen und wirtschaftlich wie politisch festigen könne, so seine Schlussfolgerung, mit der sein Buch endet.
Die Geschichte entwickelte sich nach Wertheimers Rückreise Mitte Juni 1918 nach Deutschland allerdings stürmisch weiter und anders, als der Journalist erwartet hatte: nicht nur beging Skoropadskyj entscheidende politische Fehler - seine kompromisslose Restauration und der Versuch, die gesamte Sozialisierung von Grund und Boden zu annullieren, machten ihn zunehmend unbeliebt. Nach dem weiteren erzwungenen Regierungswechsel im November 1918 wurde Skoropadskyj gestürzt und zum Verräter erklärt, er versteckte sich in Kiew und floh mit Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amtes nach Deutschland ins Exil.
Die desolate Informationslage während der Schlussphase des Krieges führte dazu, dass Wertheimer während seines Aufenthaltes in der Ukraine vom Zusammenbruch der Westfront wohl nur sehr wenig erfuhr. Am 11. November 1918 im Waffenstillstand von Compiègne kam es zum Ende der Kampfhandlungen. Der Frieden von Brest-Litowsk wurde annulliert. Es war auch das Ende der ersten Unabhängigkeit der Ukraine.
Fritz Wertheimer verließ die Redaktion der "Frankfurter Zeitung" Ende 1918 und war von 1919 an Generalsekretär des neu gegründeten Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart, das sich für das Auswärtige Amt schwerpunktmäßig um die deutsche Diaspora im Ausland kümmern sollte. Wegen seiner jüdischen Wurzeln wurde er 1933 von den Nationalsozialisten direkt entlassen. Er emigrierte später nach Brasilien.
Kurt-Jürgen Maaß, Honorarprofessor an der Universität Tübingen, ist ehemaliger Generalsekretär des Instituts für Auslandsbeziehungen.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.