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Ludwig Wittgenstein schrieb über die Sprache, sie gleiche einer "alten Stadt", einem "Gewinkel von Gäßchen und Plätzen". In diesem linguistischen Raum bewegen wir uns ganz selbstverständlich, während unmerklich neue Vororte entstehen und alte Viertel renoviert oder abgerissen werden.
Um die Historizität der Sprache, die Geburt und das Sterben von Lauten, Worten und Idiomen geht es in Daniel Heller-Roazens einundzwanzig funkelnden Essays. Sprachtheoretische Betrachtungen Benjamins, Jakobsons und Freuds schließt er kurz mit poetischen Anekdoten aus der Geschichte der Linguistik: über die…mehr

Produktbeschreibung
Ludwig Wittgenstein schrieb über die Sprache, sie gleiche einer "alten Stadt", einem "Gewinkel von Gäßchen und Plätzen". In diesem linguistischen Raum bewegen wir uns ganz selbstverständlich, während unmerklich neue Vororte entstehen und alte Viertel renoviert oder abgerissen werden.

Um die Historizität der Sprache, die Geburt und das Sterben von Lauten, Worten und Idiomen geht es in Daniel Heller-Roazens einundzwanzig funkelnden Essays. Sprachtheoretische Betrachtungen Benjamins, Jakobsons und Freuds schließt er kurz mit poetischen Anekdoten aus der Geschichte der Linguistik: über die Nymphe Io, die - von Jupiter in eine Kuh verwandelt - ihren Namen mit dem Huf in den Sand schrieb, den Turm von Babel und das Geplapper der Kinder (der Begriff Echolalie bezeichnet das Wiederholen vorgesagter Phrasen), Menschen ohne Zunge, einen Schizophrenen, der systematisch seine Muttersprache vergaß, das Verschwinden des h, dem Karl Kraus seine Elegie auf den Tod eines Lautes widmete, und über "tote" Idiome, die keine Sprachen mehr sind, "sondern nur noch Tinte und Papier".
Autorenporträt
Heller-Roazen, Daniel
Daniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Komparatistik an der Princeton University.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2008

Geschichtlichkeit nach dem Historismus?
Echolalien und Resonanzen: Über ein anderes Verhältnis zu Erinnern und Vergessen aus dem Geist der Sprachtheorie

Wer die Reden der Politiker und wohl auch die Eröffnungsreden der Historikertage ernst genug nähme, um sie philosophisch zu analysieren, der müsste zu dem Schluss kommen, dass der "Historismus", jene gesellschaftliche Konstruktion der Zeit für Handeln und Verhalten heute nicht weniger bestimmend ist, als sie es vor hundert oder hundertfünfzig Jahren war. Wir reden weiterhin so, als sei es uns gegeben, aus je verschiedenen, in die Zukunft projizierten Visionen der Welt immer bessere Welten auszuwählen. Und zwischen jener Vergangenheit und dieser Zukunft wollen wir die Gegenwart wie früher als Übergang erfahren, in dem wir, die Erfahrungen der Vergangenheit nutzend, die Weichen für die Verwirklichung der Zukunft stellen.

Dass wir uns, als Individuen und als Menschheit, durch die Zeit bewegen und so "Geschichte machen", soll keinesfalls in Frage stehen. Den Alltag der Zeit erleben wir freilich ganz anders. Nicht erst seit die Angst vor den Folgen des "global warming" über uns gekommen ist, hat sich der Eindruck breitgemacht, dass die Zukunft nun wieder, wie im Mittelalter, auf uns zukomme, statt handelnd gestaltet zu werden, und dass wir uns deshalb, wie Niklas Luhmann provokant formulierte, bestenfalls gegen das Risiko des Nichteintretens erwarteter Zukunft versichern können. Vergangenheiten überschwemmen - immer unverbrüchlicher bewahrt und immer originalgetreuer reproduziert - eine Gegenwart, die sich selbst nicht mehr finden kann und in der auch wir unsere Position als "Subjekte" nicht mehr entdecken, weil wir uns mehr als nach Fülle der Vergangenheit nach Distanz und Erlösung von ihren jüngeren Segmenten sehnen. Die Gegenwart wächst zwischen bedrohenden Zukünften und bleibenden Vergangenheiten heran zu einem ebenso trägen wie verwirrenden Labyrinth der Gleichzeitigkeiten.

Wie reagieren die Geisteswissenschaften auf diese Spannung zwischen den offiziellen Diskursen und dem alltäglichen Zeiterleben? Zum einen hat sich das Stagnieren der Gegenwart offenbar auch auf sie gelegt. Seit gut zwei Jahrzehnten, als sie in "Kulturwissenschaften" umdefiniert wurden, scheint die Folge immer neuer "Paradigmen" versiegt, welche die Geisteswissenschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so beweglich gemacht hatte. Gegenwärtig dominieren eher die Ausarbeitung großer Entwürfe aus den disziplinären Vergangenheiten, die Erschließung neuer Materialien und vor allem die reflektierte Neulektüre von Klassikern. Im Rückblick wird aber auch wieder sichtbar, dass die Geisteswissenschaften auf die ersten Symptome einer Umstellung in der Form der Zeit durchaus reagierten, als sie auf die Herausforderung durch die "Postmoderne" stießen. Beide Seiten ahnten und akzeptierten damals schon, dass jener "Kollektivsingular von Geschichte", mit dem der Historismus im späten achtzehnten Jahrhundert auf die Bahn gekommen war, seine unmittelbare Plausibilität verloren hatte. Die erste bei vielen Autoren und Lesern erfolgreiche Reaktion auf die Kritik an den "großen Erzählungen" im Kollektivsingular war jener Neohistorismus, der die Geschichtsschreibung als literarische Gattung wiederentdeckte und kanonisieren wollte. Er verlor sich bald in der Freude am Anekdotischen, in endlosen Debatten über rhetorische Formen und Erzählstrategien sowie in der allzu beliebigen Verfügung über die Zeugnisse der Vergangenheit.

Neohistoristisch ist die intellektuelle Stimmung bei den nachfolgenden Forschergenerationen gewiss nicht mehr. Sie kehrten bald von der Euphorie des immer neuen narrativen Umschichtens von Materialien und "Archiven" zum alten Standard der Genauigkeit und zum Ideal einer Fülle des Wissens zurück. Doch sie haben sich andererseits auch nicht dem alten Historismus der "Zunft" eingepasst. Ein beeindruckendes Bild von dem, was Geschichtlichkeit nach dem Historismus - und nach de

Neohistorismus - in den Geisteswissenschaften sein kann, ist ein 2005 erschienenes Buch des in Princeton lehrenden Mediävisten Daniel Heller-Roazen mit dem zugleich dunklen und vielversprechenden Titel "Echolalien - über das Vergessen von Sprache" (deutsch bei Suhrkamp, 2008).

Schon auf den ersten Blick erweist es sich als Dokument einer Gelehrsamkeit, welche es mit den Heroen der Geisteswissenschaft, mit Wilamowitz-Moellendorf und Curtius, mit Marc Bloch und Michel Foucault, aufnehmen kann und diese manchmal sogar, fast leichtfüßig, überbietet. Heller-Roazen stehen die Sprachen und Schriften, die Mythen, die Literaturen und das Wissen der griechisch-römischen Antike, des arabisch-jüdischen Mittelalters, der europäischen Renaissancen und der Moderne von Freud und Kafka in allen philologischen Details zur Verfügung, und darüber hinaus ist er ein Experte für die Geschichte jener akademischen Fächer, die sich diesen Kulturen gewidmet haben. Sein Buch, gegliedert in einundzwanzig vignettenartig kurze Kapitel, die auf historisch Singuläres konzentriert sind, ohne sich zu einer chronologischen oder argumentativen Sequenz zusammenzuschließen, nähert sich seinem Thema mit wachsender Intensität und Komplexität: Sprache als Medium des Vergessens, aber auch, in paradoxaler Zuspitzung, als Dimension der Unmöglichkeit des Vergessens. Statt seine Leser zu einer Philosophie der Sprache und gar der Geschichte führen zu wollen, verwickelt Daniel Heller-Roazen sie in eine spiralförmige Bewegung der Kontemplation.

Seit Roman Jakobsons Untersuchungen zur frühkindlichen Sprachentwicklung wissen wir, dass vor dem Einsatz zum aktiven "Spracherwerb" an der Schwelle zum zweiten Lebensjahr die menschlichen Sprechorgane eine prinzipiell unbegrenzte Vielfalt von Lauten produzieren können und tatsächlich produzieren. Diese Breite verengt sich drastisch, sobald Kinder beginnen, die ersten Wörter in ihrer Muttersprache zu bilden, so dass das Vergessen jener phonetischen Möglichkeiten des Lallens zur Bedingung für den Einsatz des Spracherwerbs wird. Heller-Roazen fragt, ob nicht ein vorbewusstes "Echo" jenes "Lallens" Bedingung des Sprechens ist, und sucht zu begründen, dass unsere Fähigkeit zu Ausrufen und onomatopoetischen Ausdrücken Beleg für ein solches Überleben des Lallens und mithin für eine Struktur des Vergessens sei, die uns nie wirklich restlos von früheren Freiheiten und Möglichkeiten des Sprechens abtrennt.

Damit ist eine Ambiguität namhaft gemacht, die eine bemerkenswerte Konvergenz mit unserem nachhistoristischen Alltagsverhältnis zur Vergangenheit aufweist. Denn jene Unfähigkeit unserer Tage, irgendeine Vergangenheit, irgendein Echo der Vergangenheit, hinter uns zu lassen, welche die Überschwemmung der Gegenwart durch Erinnerungen erklärt, ist ja auch gekoppelt an den nie erfüllbaren Wunsch nach der Erlösung von traumatischen Nah-Vergangenheiten. Es ergibt sich daraus für Heller-Roazen die Frage nach einer neuen menschlichen Selbstreferenz, nach einer Umformung oder gar einer Ersetzung des Subjektbegriffs innerhalb gewandelter Dimensionen der Zeit.

Wichtiger noch scheint es, Heller-Roazens Überlegungen in ein Verhältnis zu setzen zu dem Programm der "digitalen Geisteswissenschaften", welche ja die Verknüpfung der traditionellen Geisteswissenschaften mit dem Kampf gegen Vergessen und Zerstreuung des Wissens dadurch obsolet machen wollen, dass sie uns alle verfügbaren Informationen elektronisch bereitstellen. "Echolalien" ist ein in bester geisteswissenschaftlicher Tradition gegen die Wirkungen des Vergessens geschriebenes Buch, das aber zugleich - und darin liegt seine ebenso konstitutive wie brillante Ambivalenz - das Vergessen als eine Grundlage menschlicher Kultur preist, die sich mittlerweile anschickt, durch das elektronische Zeitalter eliminiert zu werden.

HANS ULRICH GUMBRECHT

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Dem 21 Essays umfassenden Band "Echolalien. Über das Vergessen der Sprache" des Literaturwissenschaftlers Daniel Heller-Roazen entnimmt die Rezensentin Sylvia Staude den Hauptgedanken, dass alles Sprachenvergessen nur eine Erneuerung sei. Die Ausführungen zum vielbeschworenen "Tod" mancher Sprachen wie dem Lateinischen sind der Rezensentin Lehrpfade, denen sie vom kindlichen Spracherwerb bis zum Verlust einzelner Buchstaben mit leichtem Schritt folgt (auch der den Band verlegende Suhrkamp Verlag kann das Verschwinden des Eszetts nicht verhindern, stichelt Staude). Nur zur Funktion der Inhaltsvermittlung hätte sie gerne mehr gelesen, denn dies - so meint die Rezensentin - sei doch der "Zweck jeder Sprache".

© Perlentaucher Medien GmbH