Das gängige Bild vom Idylliker Mörike bedarf der Korrektur. Schritt für Schritt beleuchtet die neue Biographie das konfliktreiche Innenleben des Autors, der sensibel auf jede Veränderung seiner Umgebung reagierte, vor allem auf die politischen Ereignisse zwischen Karlsbader Beschlüssen und Deutsch-Französischem Krieg. Im Zentrum der Biographie stehen deshalb zeitbezogene Interpretationen seiner Werke, die faszinierende Einblicke in sein dichterisches Schaffen gewähren. Vor dem Hintergrund der Kultur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts schildert Veronika Beci Mörikes ambivalente Haltung zu Fragen seiner Zeit und setzt sich mit seiner Beziehung zu anderen Größen der Epoche: Hölderlin, Waiblinger, Uhland, Heyse, Raabe und Storm auseinander. Mörike war keineswegs unberührt von den Bewegungen seiner Zeit - ein neuer Blick auf den großen schwäbischen Dichter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2004Ein Mann gegen die Wirklichkeit
Zweihundert Jahre Liebe, Natur und Poesie: Annäherungen an den Dichter Eduard Mörike im Jubiläumsjahr
Es war noch Winter in dem kleinen, abgeschiedenen Dorf Pflummern auf den kalten Höhen der Schwäbischen Alb im März 1829, als sich Eduard Mörike sicher war: "Er ists". Wer? Na er. Und Mörike dichtete: "Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte; / Süße, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land. / Veilchen träumen schon, / Wollen balde kommen. / - Horch, von fern ein leiser Harfenton! / Frühling, ja du bists! / Dich hab ich vernommen."
Es schneit auf der Alb, und der Vikar und Dichter Eduard Mörike sieht den Veilchen schon beim Träumen zu. Er ahnt sie. Er dichtet sie herbei. Er hört sie und läßt sie klingen. Das ist Eduard Mörike, wie ihn jeder kennt. "Ich bin gegen die Wirklichkeit verblendet", hat er zwei Jahre zuvor geschrieben, als seine Schwester Luise an Auszehrung gestorben war und er sich vor Schmerz nicht fassen konnte. Diese "Verblendung" war sein Schutz gegen die Welt, so wie sie war, so wie sie ihn immer und immer wieder unvorbereitet traf. "Ein wohltätiger Schleier über dem Bewußtsein". Das waren seine Gedichte. Das war seine romantische Widerstandskraft. Gegen das Leben, mit dem er haderte, solange er lebte. Gegen die Knechtschaft des Erwerbslebens vor allem. Ungezählt seine Vikariatsstellenwechsel, seine Entschlüsse, sich von der "Vikariatsknechtschaft" zu befreien, und doch immer und immer wieder ein Neubeginn in einem anderen schwäbischen Örtchen.
Mörike war wohl einer der mobilsten Dichter des 19. Jahrhunderts. Nur lagen all diese neuen Dörfer des Neu- und Neu- und wieder Neubeginns in einem Umkreis von wenigen Kilometern in etwas größerer oder kleinerer Ferne von Stuttgart und hießen Oberboihingen, Ochsenwang und Cleversulzbach. Die große Flucht in die Südsee, nach Orplid, dem Reich der Träume und des Glücks, die er während des Theologiestudiums in Tübingen mit seinem Freund Ludwig Bauer unternehmen wollte, endete schon damals auf den örtlichen Neckarwiesen. Mörike hatte sein Orplid vor der Tür. Die Schwäbische Alb. Oder auch: "Die blauen Berge". Und den Himmel über der Alb. Und die Sprache von hier, die Worte ohne Pathos, die Sätze, stolz und weich und schön, aber immer in dem Bewußtsein, es noch ein wenig schöner sagen zu können. Das, was ist. Und das, was fehlt. "Welch ein Schauspiel!" soll der Kollege Emanuel Geibel unbeholfen beeindruckt ausgerufen haben, als er eines abends auf einem gemeinsamen Spaziergang mit Mörike beim Anblick der leuchtenden Wolken über Stuttgart großes Glück empfand. Mörike entgegnete lässig: "Mir nennet das Schäfle." So läßt man einen von der Gewalt der Natur besinnungslos schwafelnden Wortprahlhans schwäbisch-locker auflaufen. Sehr mörikesk.
Mit der Natur stand er auf vertrautem Fuß. In den zahlreichen Biographien, die in diesem Jahr, aus Anlaß seines zweihundertsten Geburtstags erschienen sind, ist das schon fast ein Leitmotiv: immer wenn Mörike seinen Biographen (und damals: seinen Zeitgenossen) schreibend kurz abhanden kommt, muß man nur in einen Wald hineinlaufen oder an einen Bach, in eine kleine Hütte mit Ausblick, da wird man Mörike schon wiederfinden. Die Landschaft, die Natur sprach zu ihm und er zu ihr. In mehreren Pfarrhäusern, die er bewohnte, teilte er sein Domizil mit einem Star, der ihm zugeflogen war. Immer ein anderer Star, der sich dann nicht nur mit Mörike, sondern merkwürdigerweise auch mit dessen Katze gut verstand. Einer seiner Haus-Stare soll sich im Gespräch mit dem Dichter als der Virtuose Tartini zu erkennen gegeben haben, woraufhin Mörike die Gelegenheit natürlich nutzte, mit diesem über die Vorzüge der deutschen Musik gegenüber der italienischen zu diskutieren. Die Meinungen des fliegenden Virtuosen phantasierte der Dichter auf ein Briefblatt, das er im Dezember 1831 an seine damalige Verlobte Luise schickte. Für uns Nicht-Stare und Nicht-Dichter sieht es leider nur aus wie wirres Gekrakel ohne Sinn.
Ganz anders als in seinem "Cantus Luscinia" oder auch "Nachtigallengesang", der in der gestern eröffneten, kleinen, schönen Marbacher Ausstellung "Mörike und die Künste" zu sehen ist. "Tim tim tim tim" beginnt es hoffnungsvoll und schwingt so weiter, singt so weiter und endet knapp und klar: "hi gaigai ----gai--- / Quior zio zio pi". Alles eine Frage des Klangs. Wie alles bei Mörike. Die Ausstellung bietet zahlreiche Beispiele von Musikstücken, die Mörike zu Gedichten inspirierten oder die er gar direkt vertonte. Musik als Wort. Wort als Musik, das ist das Mörike-Wunder. So ist das Gedicht "Ach nur einmal noch im Leben!" ohne die Kenntnis von Mörikes Mozart-Erlebnis 1803, ohne das Wissen über die von Mörike besuchte Inszenierung von Mozarts Oper "La clemenza di Tito" nicht ganz zu verstehen. Ein Musikerlebnis, das ihn so erschütterte, daß er sich noch dreißig Jahre nach der Aufführung daran erinnerte: "Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba daß sich mir beide Fäuste vor Entzücken ballten." Und dies Gewalterlebnis fand den Weg in das schöne Gedicht.
Auch das Zeugnis eines weiteren erschütternden Mozart-Erlebnisses findet sich: Der Programmzettel jener Aufführung des "Don Giovanni", die Mörike zusammen mit seinen Geschwistern Luise und August im Sommer 1824 erlebt hatte, die ihn viel später zu seiner herrlichen Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag" inspirierte. Jene wundersame Künstlernovelle um Mozarts "Don Giovanni", die den Tod am Ende so leise dunkel drohen läßt. Und der um so dunkler droht, wenn man weiß, daß nur vier Tage nach jener geschwisterlich besuchten Aufführung sich August das Leben nahm. "Nervenschlag" war die offizielle Todesursache. Doch die Familie wußte es besser. Dieser Schatten liegt auf der scheinbar so leichten Mozart-Novelle, und dort im Kästchen in Marbach liegt dieser kleine, weiße, alte Zettel und spricht zu dem, der die Geschichte kennt.
Es sind auch erstaunlich viele Bilder zu sehen: Solche, nach denen Mörike dichtete, und solche, die nach Mörikes Gedichten gemalt wurden, und herrliche Bilder von Moritz von Schwind.
Da die Ausstellung leider "Mörike und die Künste" heißt und nicht "Mörike und die Liebe", kommen die Damen dort sehr kurz. Aber sie sind natürlich das Wichtigste in Mörikes Leben und Dichten. Ganze Bücher sind in diesem Mörike-Jubeljahr zu den einzelnen Liebesgeschichten des Dichters erschienen. Die leidenschaftliche Liebe zu der mignonhaften, intelligenten, wunderschönen Wunderdame Maria Mayer, in die sich der achtzehnjährige Mörike verliebte wie danach nie mehr in seinem Leben und die er doch aus moralischen Gründen von sich wies, steht groß im Mittelpunkt. Die Liebe in der Wirklichkeit währte nur sehr kurz. Aber die Liebe im Herzen währte ewig. Oder beinah. Jedenfalls verdanken wir ihr von "Als ginge, luftgesponnen, ein Zauberfaden / Von ihr zu mir, ein ängstig Band" bis zu jenem schauerlichen "Doch weh! o weh! was soll mir dieser Blick? / Sie küßt mich zwischen Lieben noch und Hassen, / Sie kehrt sich ab, und kehrt mir nie zurück."
Er hat sie von sich gewiesen, nachdem sie verschwunden war, spurlos, und später einfach wiederkam, wie aus dem Nichts. Da wollte er sie nicht mehr sehen. Und schrieb: "Ihr Leben - so viel ist gewiss, hat aufgehört in das meinige weiter einzugreifen, als ein Traum, den ich gehabt und der mir viel genützt." Der Traum ist aus, den Nutzen hat der Dichter. Und der Leser. Doch die Liebe bleibt eine Andeutungsliebe. Eine Liebe der Abwesenheit. Wie selten hat Mörike die Liebe lebensfroh ausgedichtet bis ins letzte Detail. Fast nie. Nur dieses eine Mal, kurz nach dem Tod der Schwester, die zuvor als eiserne Moralinstanz über ihn gewacht hatte. Da dichtete er über die "Nimmersatte Liebe": "Wir bissen uns die Lippen wund, / Da wir uns heute küssten. / Das Mädchen hielt in guter Ruh, / Wie's Lämmlein unterm Messer; / Ihr Auge bat: nur immer zu, / Je weher, desto besser."
Doch war das eine kurze Euphorie der Deutlichkeit. Schon die Brautbriefe, die er seiner späteren Verlobten Luise schrieb, zeigen wieder den großen Dichter der Entwirklichung, der Poetisierung der Welt und der geliebten Menschen. Es war eine weitere ideale Liebe, da sie sich nur selten sahen. Viel Platz für Sehnsuchtsprojektionen und Verschönerungen einer banalen Wirklichkeit. Nach einem Abschied schrieb er: "Ich freute mich zuletzt nur auf eine einsame Stunde, wo ich nach Herzenslust unter ungehemmten Tränen meine eigene Trauer gleichsam würde umarmen können und erschöpfen dürfen." Luise, die lieber sich selbst als jene selbstgenügsame Trauer des Dichters umarmt gesehen hätte, ließ bald die Verlobung lösen. Und Mörike konnte endlich seine vielleicht schönsten Verse dichten: "Lass oh Welt, o lass mich sein! / Locket nicht mit Liebesgaben, / Lasst dies Herz alleine haben / Seine Wonne, seine Pein."
VOLKER WEIDERMANN
"Mörike und die Künste", in Marbach noch bis Oktober. Bücher: Ehrenfried Kluckert: "Eduard Mörike. Sein Leben und Werk". DuMont. 2004. 304 Seiten. 24,90 Euro. Veronika Beci: "Eduard Mörike. Die gestörte Idylle". Artemis und Winkler. 2004. 417 Seiten. 26 Euro. Mathias Mayer: "Mörike und Peregrina. Geheimnis einer Liebe". C. H. Beck. 250 Seiten. 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zweihundert Jahre Liebe, Natur und Poesie: Annäherungen an den Dichter Eduard Mörike im Jubiläumsjahr
Es war noch Winter in dem kleinen, abgeschiedenen Dorf Pflummern auf den kalten Höhen der Schwäbischen Alb im März 1829, als sich Eduard Mörike sicher war: "Er ists". Wer? Na er. Und Mörike dichtete: "Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte; / Süße, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land. / Veilchen träumen schon, / Wollen balde kommen. / - Horch, von fern ein leiser Harfenton! / Frühling, ja du bists! / Dich hab ich vernommen."
Es schneit auf der Alb, und der Vikar und Dichter Eduard Mörike sieht den Veilchen schon beim Träumen zu. Er ahnt sie. Er dichtet sie herbei. Er hört sie und läßt sie klingen. Das ist Eduard Mörike, wie ihn jeder kennt. "Ich bin gegen die Wirklichkeit verblendet", hat er zwei Jahre zuvor geschrieben, als seine Schwester Luise an Auszehrung gestorben war und er sich vor Schmerz nicht fassen konnte. Diese "Verblendung" war sein Schutz gegen die Welt, so wie sie war, so wie sie ihn immer und immer wieder unvorbereitet traf. "Ein wohltätiger Schleier über dem Bewußtsein". Das waren seine Gedichte. Das war seine romantische Widerstandskraft. Gegen das Leben, mit dem er haderte, solange er lebte. Gegen die Knechtschaft des Erwerbslebens vor allem. Ungezählt seine Vikariatsstellenwechsel, seine Entschlüsse, sich von der "Vikariatsknechtschaft" zu befreien, und doch immer und immer wieder ein Neubeginn in einem anderen schwäbischen Örtchen.
Mörike war wohl einer der mobilsten Dichter des 19. Jahrhunderts. Nur lagen all diese neuen Dörfer des Neu- und Neu- und wieder Neubeginns in einem Umkreis von wenigen Kilometern in etwas größerer oder kleinerer Ferne von Stuttgart und hießen Oberboihingen, Ochsenwang und Cleversulzbach. Die große Flucht in die Südsee, nach Orplid, dem Reich der Träume und des Glücks, die er während des Theologiestudiums in Tübingen mit seinem Freund Ludwig Bauer unternehmen wollte, endete schon damals auf den örtlichen Neckarwiesen. Mörike hatte sein Orplid vor der Tür. Die Schwäbische Alb. Oder auch: "Die blauen Berge". Und den Himmel über der Alb. Und die Sprache von hier, die Worte ohne Pathos, die Sätze, stolz und weich und schön, aber immer in dem Bewußtsein, es noch ein wenig schöner sagen zu können. Das, was ist. Und das, was fehlt. "Welch ein Schauspiel!" soll der Kollege Emanuel Geibel unbeholfen beeindruckt ausgerufen haben, als er eines abends auf einem gemeinsamen Spaziergang mit Mörike beim Anblick der leuchtenden Wolken über Stuttgart großes Glück empfand. Mörike entgegnete lässig: "Mir nennet das Schäfle." So läßt man einen von der Gewalt der Natur besinnungslos schwafelnden Wortprahlhans schwäbisch-locker auflaufen. Sehr mörikesk.
Mit der Natur stand er auf vertrautem Fuß. In den zahlreichen Biographien, die in diesem Jahr, aus Anlaß seines zweihundertsten Geburtstags erschienen sind, ist das schon fast ein Leitmotiv: immer wenn Mörike seinen Biographen (und damals: seinen Zeitgenossen) schreibend kurz abhanden kommt, muß man nur in einen Wald hineinlaufen oder an einen Bach, in eine kleine Hütte mit Ausblick, da wird man Mörike schon wiederfinden. Die Landschaft, die Natur sprach zu ihm und er zu ihr. In mehreren Pfarrhäusern, die er bewohnte, teilte er sein Domizil mit einem Star, der ihm zugeflogen war. Immer ein anderer Star, der sich dann nicht nur mit Mörike, sondern merkwürdigerweise auch mit dessen Katze gut verstand. Einer seiner Haus-Stare soll sich im Gespräch mit dem Dichter als der Virtuose Tartini zu erkennen gegeben haben, woraufhin Mörike die Gelegenheit natürlich nutzte, mit diesem über die Vorzüge der deutschen Musik gegenüber der italienischen zu diskutieren. Die Meinungen des fliegenden Virtuosen phantasierte der Dichter auf ein Briefblatt, das er im Dezember 1831 an seine damalige Verlobte Luise schickte. Für uns Nicht-Stare und Nicht-Dichter sieht es leider nur aus wie wirres Gekrakel ohne Sinn.
Ganz anders als in seinem "Cantus Luscinia" oder auch "Nachtigallengesang", der in der gestern eröffneten, kleinen, schönen Marbacher Ausstellung "Mörike und die Künste" zu sehen ist. "Tim tim tim tim" beginnt es hoffnungsvoll und schwingt so weiter, singt so weiter und endet knapp und klar: "hi gaigai ----gai--- / Quior zio zio pi". Alles eine Frage des Klangs. Wie alles bei Mörike. Die Ausstellung bietet zahlreiche Beispiele von Musikstücken, die Mörike zu Gedichten inspirierten oder die er gar direkt vertonte. Musik als Wort. Wort als Musik, das ist das Mörike-Wunder. So ist das Gedicht "Ach nur einmal noch im Leben!" ohne die Kenntnis von Mörikes Mozart-Erlebnis 1803, ohne das Wissen über die von Mörike besuchte Inszenierung von Mozarts Oper "La clemenza di Tito" nicht ganz zu verstehen. Ein Musikerlebnis, das ihn so erschütterte, daß er sich noch dreißig Jahre nach der Aufführung daran erinnerte: "Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba daß sich mir beide Fäuste vor Entzücken ballten." Und dies Gewalterlebnis fand den Weg in das schöne Gedicht.
Auch das Zeugnis eines weiteren erschütternden Mozart-Erlebnisses findet sich: Der Programmzettel jener Aufführung des "Don Giovanni", die Mörike zusammen mit seinen Geschwistern Luise und August im Sommer 1824 erlebt hatte, die ihn viel später zu seiner herrlichen Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag" inspirierte. Jene wundersame Künstlernovelle um Mozarts "Don Giovanni", die den Tod am Ende so leise dunkel drohen läßt. Und der um so dunkler droht, wenn man weiß, daß nur vier Tage nach jener geschwisterlich besuchten Aufführung sich August das Leben nahm. "Nervenschlag" war die offizielle Todesursache. Doch die Familie wußte es besser. Dieser Schatten liegt auf der scheinbar so leichten Mozart-Novelle, und dort im Kästchen in Marbach liegt dieser kleine, weiße, alte Zettel und spricht zu dem, der die Geschichte kennt.
Es sind auch erstaunlich viele Bilder zu sehen: Solche, nach denen Mörike dichtete, und solche, die nach Mörikes Gedichten gemalt wurden, und herrliche Bilder von Moritz von Schwind.
Da die Ausstellung leider "Mörike und die Künste" heißt und nicht "Mörike und die Liebe", kommen die Damen dort sehr kurz. Aber sie sind natürlich das Wichtigste in Mörikes Leben und Dichten. Ganze Bücher sind in diesem Mörike-Jubeljahr zu den einzelnen Liebesgeschichten des Dichters erschienen. Die leidenschaftliche Liebe zu der mignonhaften, intelligenten, wunderschönen Wunderdame Maria Mayer, in die sich der achtzehnjährige Mörike verliebte wie danach nie mehr in seinem Leben und die er doch aus moralischen Gründen von sich wies, steht groß im Mittelpunkt. Die Liebe in der Wirklichkeit währte nur sehr kurz. Aber die Liebe im Herzen währte ewig. Oder beinah. Jedenfalls verdanken wir ihr von "Als ginge, luftgesponnen, ein Zauberfaden / Von ihr zu mir, ein ängstig Band" bis zu jenem schauerlichen "Doch weh! o weh! was soll mir dieser Blick? / Sie küßt mich zwischen Lieben noch und Hassen, / Sie kehrt sich ab, und kehrt mir nie zurück."
Er hat sie von sich gewiesen, nachdem sie verschwunden war, spurlos, und später einfach wiederkam, wie aus dem Nichts. Da wollte er sie nicht mehr sehen. Und schrieb: "Ihr Leben - so viel ist gewiss, hat aufgehört in das meinige weiter einzugreifen, als ein Traum, den ich gehabt und der mir viel genützt." Der Traum ist aus, den Nutzen hat der Dichter. Und der Leser. Doch die Liebe bleibt eine Andeutungsliebe. Eine Liebe der Abwesenheit. Wie selten hat Mörike die Liebe lebensfroh ausgedichtet bis ins letzte Detail. Fast nie. Nur dieses eine Mal, kurz nach dem Tod der Schwester, die zuvor als eiserne Moralinstanz über ihn gewacht hatte. Da dichtete er über die "Nimmersatte Liebe": "Wir bissen uns die Lippen wund, / Da wir uns heute küssten. / Das Mädchen hielt in guter Ruh, / Wie's Lämmlein unterm Messer; / Ihr Auge bat: nur immer zu, / Je weher, desto besser."
Doch war das eine kurze Euphorie der Deutlichkeit. Schon die Brautbriefe, die er seiner späteren Verlobten Luise schrieb, zeigen wieder den großen Dichter der Entwirklichung, der Poetisierung der Welt und der geliebten Menschen. Es war eine weitere ideale Liebe, da sie sich nur selten sahen. Viel Platz für Sehnsuchtsprojektionen und Verschönerungen einer banalen Wirklichkeit. Nach einem Abschied schrieb er: "Ich freute mich zuletzt nur auf eine einsame Stunde, wo ich nach Herzenslust unter ungehemmten Tränen meine eigene Trauer gleichsam würde umarmen können und erschöpfen dürfen." Luise, die lieber sich selbst als jene selbstgenügsame Trauer des Dichters umarmt gesehen hätte, ließ bald die Verlobung lösen. Und Mörike konnte endlich seine vielleicht schönsten Verse dichten: "Lass oh Welt, o lass mich sein! / Locket nicht mit Liebesgaben, / Lasst dies Herz alleine haben / Seine Wonne, seine Pein."
VOLKER WEIDERMANN
"Mörike und die Künste", in Marbach noch bis Oktober. Bücher: Ehrenfried Kluckert: "Eduard Mörike. Sein Leben und Werk". DuMont. 2004. 304 Seiten. 24,90 Euro. Veronika Beci: "Eduard Mörike. Die gestörte Idylle". Artemis und Winkler. 2004. 417 Seiten. 26 Euro. Mathias Mayer: "Mörike und Peregrina. Geheimnis einer Liebe". C. H. Beck. 250 Seiten. 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zu einer psychologischen Deutung von Autor und Werk neige Veronika Beci in ihrer Biographie Eduard Mörikes, berichtet Rezensentin Hannelore Schlaffer, die im Rahmen einer Sammelrezension eine ganze Reihe von neuen, anläßlich des 200. Geburtstags des Dichters erschienen Biographien bespricht. Im Blick auf alle Biographien moniert Schlaffer das ihnen zugrundeliegende "Schema Mörike"; Mörike erscheine als Mythos, zu dessen Ausstattung eine einmalige, lebenszerstörende Liebe, ein Freundeskreis, ein ungeliebter Beruf, eine missglückte Ehe, und schließlich ein schmales, doch umso tieferes Werk gehörten. Dieses Schema hindere die Biographen ein wenig daran aus der Stimme Mörikes sein Wesen herauszuhören. Bezogen auf Becis Biographie hebt Schlaffer die Bedeutung von Mörikes Verhältnis zu seiner Familie hervor. Die Tragödie Mörikes beginne für Beci in der Familie und nicht in der Liebe, vor allem mit dem Tod von dessen Bruder August, berichtet Schlaffer. Beci erkenne in der Hypochondrie "den Tenor von Mörikes Existenz". Damit habe die Autorin einen "gravierenderen Punkt" gefunden, "Mörikes Sprachklang aus Lust und Klage zu erklären, als den einer einmaligen Leidenschaft, die lebensbestimmend werden konnte."
© Perlentaucher Medien GmbH
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