Edvard Grieg ist bis heute der berühmteste Komponist Norwegens. Seine Werke stellen neben denen des Malers Edvard Munch und des Dichters Henrik Ibsen eine der drei kulturellen Säulen dieses Landes am Rande Europas mit internationaler Ausstrahlung dar. Grieg hat Norwegen gewissermaßen auf die "musikalische Weltkarte" gesetzt. Seine Peer-Gynt-Musik gehört zum musikalischen Allgemeingut und sein a-Moll-Konzert ist eines der weltweit meistgespielten Klavierkonzerte. Auf unverwechselbare Weise fügt Grieg in seinen Werken mitteleuropäische Musiktradition mit norwegischen Klängen zu einer ganz eigenen spätromantischen Tonsprache zusammen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Seinen Ton erkennt man gleich
Von wegen Musik für Stubenmädchen: Patrick Dinslage legt eine längst fällige Monographie über den Komponisten Edvard Grieg vor.
Von Jan Brachmann
Edvard Grieg war, wie sein Freund Peter Tschaikowsky über ihn schrieb, "ein Herr von sehr kleinem Wuchs, von schwächlichem Aussehen, mit Schultern von ungleicher Höhe", wohl wegen seines eingefallenen Brustkorbs in Folge einer schweren Lungenerkrankung. Und doch ist dieser kleine, kranke Mann ein Riese gewesen, der Norwegen auf die musikalische Landkarte der Welt gesetzt hat - mit einem derart prägnanten, äußerst individuellen Idiom, das man so blitzschnell seinem Autor zuordnen kann, wie das bei kaum einem anderen Komponisten der Fall ist.
Wenige Musiker, allenfalls Tschaikowsky oder Verdi, hatten eine solche Popularität schon zu Lebzeiten erreicht. Grieg wurde mit seiner Frau Nina von Königin Victoria auf Schloss Windsor zum Tee empfangen, frühstückte mit Kaiser Wilhelm II., der ihn achtungsvoll, geradezu liebenswürdig behandelte, genoss die Verehrung der Könige von Dänemark und Schweden, gehörte mehreren Akademien der Künste in Europa an und ließ sich von Johannes Brahms in dessen Wiener Leib-lokal "Zum Roten Igel" einladen.
Grieg darf unter den Komponisten als einer der wenigen Intellektuellen gelten, also als Künstler, der sich zur politischen Stimme machte, da er sowohl gegen den Antisemitismus in Frankreich zur Zeit der Dreyfus-Affäre öffentlich Stellung bezog, als auch mit Telegrammen an den König von England und den deutschen Kaiser um Schlichtung bat angesichts eines drohenden Krieges zwischen Norwegen und Schweden bei der Auflösung der Union beider Länder im Jahr 1905.
Es hat lange gedauert, genau 37 Jahre nämlich, bis man Edvard Grieg für würdig erachtete, in der Buch-Reihe "Große Komponisten und ihre Zeit" - sie heißt wirklich noch so - beim Laaber-Verlag vorzukommen. An Griegs Körpergröße von einem Meter zweiundfünfzig hat es wohl nicht gelegen. Eher konnte sich in Deutschland lange das Urteil des als besonders nachdenklich geltenden Pianisten Alfred Brendel behaupten, Grieg sei "Musik für Stubenmädchen", wozu ein Pianist und Grieg-Interpret von Rang, Swjatoslaw Richter, in seinem Tagebuch nur traurig vermerkte: "Gott vergebe ihm dies".
Grieg war für deutsche und österreichische Pianisten so wenig konzertwürdig wie für deutsche Musikologen wissenschaftswürdig. Noch das Buch von Hanspeter Krellmann "Griegs lyrische Klavierstücke: Ein musikalischer Werkführer", 2008 erschienen, ist ein Stück Prosa der gerümpften Nase, vorurteilssatt bis zur Gehässigkeit, dabei ziemlich ehrgeizlos in der eigenen Arbeit. Lange Zeit blieb das gut recherchierte, ursprünglich in der DDR erschienene Buch von Hella Brock die einzige solide Grieg-Biographie deutscher Provenienz, ergänzt um den inhaltsreichen Bildband "Edvard Grieg. Mensch und Künstler" der beiden norwegischen Forscher Finn Benestad und Dag Schjelderup-Ebbe, der seit 1993 in deutscher Sprache vorliegt.
Patrick Dinslage, der die Forschungsliteratur kennt, selbst Norwegisch spricht und die Grieg-Forschungsstelle in Leipzig leitet, legt nun eine überfällige Monographie in der Reihe des Laaber-Verlags vor. Dinslage folgt der Ursprungskonzeption der Reihe von 1981, die zu einer Zeit festgelegt wurde, da Biographik nicht als ernstzunehmende Disziplin in der westdeutschen Musikwissenschaft galt, weil sie, wie es deren Papst Carl Dahlhaus formulierte, "für den Kunstcharakter der Werke ohne Belang" sei. Die Biographie wurde knapp als Zeittabelle am Anfang der Bücher abgehakt, woraufhin sich dann manche Autoren der Monographien weigerten, auch nur irgendeine Verbindung zwischen Leben und Werk der Komponisten herzustellen.
Auch Dinslage beginnt - nach einem instruktiven Vorwort, das nicht nur Griegs stilistische Prägnanz benennt, sondern auch dessen denkwürdige Balance zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus im neunzehnten Jahrhundert - mit einer Zeittabelle. Sie ist, was Grieg und seine Frau betrifft, sehr informativ, in den Bemerkungen zu den Zeitgenossen manchmal etwas willkürlich oder zufällig. Danach aber geht es, im Hauptteil des Buches, sofort analytisch mitten hinein ins Werk. Man mag darin eine methodologische Unterwerfung unter herrschende Wissenschaftsdiskurse vergangener Dekaden sehen, die Griegs Musik den "Kunstcharakter" absprechen wollten. Aber Dinslages Anstrengungen der Rechtfertigung, seine Analysen lohnen die Mühe der Lektüre: Schon die Betrachtung der "Arietta", des ersten der "Lyrischen Stücke", fördert Eminentes zutage. Grieg verknüpft seine melodische Signatur, das "Grieg-Motiv" (Grundton, kleine Sekunde abwärts, große Terz abwärts), mit dem äußerst durchdachten Tonartenplan, indem er jene Akkorde, die dem Verwandtschaftsverhältnis nach am weitesten auseinander liegen, durch diese Signatur miteinander verklammert.
Sogar wer abschätzig über Grieg als Kleinmeister oder Salonmusiker urteilte, musste früher zugestehen, dass er einer "der feinhörigsten Harmoniker" war, wie der Theoretiker Ernst Kurth es 1920 formulierte. Dinslage aber gelingt nun analytisch der Nachweis, dass diese aromatische, äußerst originelle Harmonik bei Grieg nicht das Ergebnis einer zufällig erfolgreichen Akkordtrüffelschnüffelei war, sondern Konsequenz eines kontrapunktischen Denkens, also eines Strebens nach starker melodischer Prägnanz in der Gleichzeitigkeit der Linien.
Dass Grieg die große Form, eigenem Bekunden zum Trotz, sehr wohl beherrschte, dass er dabei mehr auf harmonischen Kontrast und melodische Dringlichkeit als auf thematische Vermittlung setzte (die es bei ihm gleichwohl gibt), das macht Dinslage in seiner Betrachtung der drei Violinsonaten und des Streichquartetts fasslich. Ratlos allerdings bleibt der Leser weiterhin bei der Frage, woran es eigentlich liegt, dass wir Grieg sofort als "Grieg" erkennen, was den "nordischen Ton" ausmachen könnte und ob es nicht eher ein personalstilistischer "Grieg-Ton" sei. Dinslage kann diese Frage eher problematisierend diskutieren als überzeugend klären.
Vor dem abschließenden Bildteil, den Anmerkungen und dem Werkverzeichnis gibt es allerdings noch einige sehr bereichernde biographische Kapitel, wovon jenes zu Grieg als Musikschriftsteller belegt, dass Kürze, Prägnanz, Originalität auch Tugenden des Autors Grieg waren. Eine kursorische Auswertung von Griegs penibel geführten Haushaltsbüchern macht den Künstler als Menschen noch sympathischer: Er verstand zu leben, lud gern Menschen zum Essen ein und gab im Hotel allen Abteilungen großzügig Trinkgeld.
Patrick Dinslage: "Edvard Grieg und seine Zeit".
Laaber Verlag, Laaber 2018. 358 S., Abb., geb., 37,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von wegen Musik für Stubenmädchen: Patrick Dinslage legt eine längst fällige Monographie über den Komponisten Edvard Grieg vor.
Von Jan Brachmann
Edvard Grieg war, wie sein Freund Peter Tschaikowsky über ihn schrieb, "ein Herr von sehr kleinem Wuchs, von schwächlichem Aussehen, mit Schultern von ungleicher Höhe", wohl wegen seines eingefallenen Brustkorbs in Folge einer schweren Lungenerkrankung. Und doch ist dieser kleine, kranke Mann ein Riese gewesen, der Norwegen auf die musikalische Landkarte der Welt gesetzt hat - mit einem derart prägnanten, äußerst individuellen Idiom, das man so blitzschnell seinem Autor zuordnen kann, wie das bei kaum einem anderen Komponisten der Fall ist.
Wenige Musiker, allenfalls Tschaikowsky oder Verdi, hatten eine solche Popularität schon zu Lebzeiten erreicht. Grieg wurde mit seiner Frau Nina von Königin Victoria auf Schloss Windsor zum Tee empfangen, frühstückte mit Kaiser Wilhelm II., der ihn achtungsvoll, geradezu liebenswürdig behandelte, genoss die Verehrung der Könige von Dänemark und Schweden, gehörte mehreren Akademien der Künste in Europa an und ließ sich von Johannes Brahms in dessen Wiener Leib-lokal "Zum Roten Igel" einladen.
Grieg darf unter den Komponisten als einer der wenigen Intellektuellen gelten, also als Künstler, der sich zur politischen Stimme machte, da er sowohl gegen den Antisemitismus in Frankreich zur Zeit der Dreyfus-Affäre öffentlich Stellung bezog, als auch mit Telegrammen an den König von England und den deutschen Kaiser um Schlichtung bat angesichts eines drohenden Krieges zwischen Norwegen und Schweden bei der Auflösung der Union beider Länder im Jahr 1905.
Es hat lange gedauert, genau 37 Jahre nämlich, bis man Edvard Grieg für würdig erachtete, in der Buch-Reihe "Große Komponisten und ihre Zeit" - sie heißt wirklich noch so - beim Laaber-Verlag vorzukommen. An Griegs Körpergröße von einem Meter zweiundfünfzig hat es wohl nicht gelegen. Eher konnte sich in Deutschland lange das Urteil des als besonders nachdenklich geltenden Pianisten Alfred Brendel behaupten, Grieg sei "Musik für Stubenmädchen", wozu ein Pianist und Grieg-Interpret von Rang, Swjatoslaw Richter, in seinem Tagebuch nur traurig vermerkte: "Gott vergebe ihm dies".
Grieg war für deutsche und österreichische Pianisten so wenig konzertwürdig wie für deutsche Musikologen wissenschaftswürdig. Noch das Buch von Hanspeter Krellmann "Griegs lyrische Klavierstücke: Ein musikalischer Werkführer", 2008 erschienen, ist ein Stück Prosa der gerümpften Nase, vorurteilssatt bis zur Gehässigkeit, dabei ziemlich ehrgeizlos in der eigenen Arbeit. Lange Zeit blieb das gut recherchierte, ursprünglich in der DDR erschienene Buch von Hella Brock die einzige solide Grieg-Biographie deutscher Provenienz, ergänzt um den inhaltsreichen Bildband "Edvard Grieg. Mensch und Künstler" der beiden norwegischen Forscher Finn Benestad und Dag Schjelderup-Ebbe, der seit 1993 in deutscher Sprache vorliegt.
Patrick Dinslage, der die Forschungsliteratur kennt, selbst Norwegisch spricht und die Grieg-Forschungsstelle in Leipzig leitet, legt nun eine überfällige Monographie in der Reihe des Laaber-Verlags vor. Dinslage folgt der Ursprungskonzeption der Reihe von 1981, die zu einer Zeit festgelegt wurde, da Biographik nicht als ernstzunehmende Disziplin in der westdeutschen Musikwissenschaft galt, weil sie, wie es deren Papst Carl Dahlhaus formulierte, "für den Kunstcharakter der Werke ohne Belang" sei. Die Biographie wurde knapp als Zeittabelle am Anfang der Bücher abgehakt, woraufhin sich dann manche Autoren der Monographien weigerten, auch nur irgendeine Verbindung zwischen Leben und Werk der Komponisten herzustellen.
Auch Dinslage beginnt - nach einem instruktiven Vorwort, das nicht nur Griegs stilistische Prägnanz benennt, sondern auch dessen denkwürdige Balance zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus im neunzehnten Jahrhundert - mit einer Zeittabelle. Sie ist, was Grieg und seine Frau betrifft, sehr informativ, in den Bemerkungen zu den Zeitgenossen manchmal etwas willkürlich oder zufällig. Danach aber geht es, im Hauptteil des Buches, sofort analytisch mitten hinein ins Werk. Man mag darin eine methodologische Unterwerfung unter herrschende Wissenschaftsdiskurse vergangener Dekaden sehen, die Griegs Musik den "Kunstcharakter" absprechen wollten. Aber Dinslages Anstrengungen der Rechtfertigung, seine Analysen lohnen die Mühe der Lektüre: Schon die Betrachtung der "Arietta", des ersten der "Lyrischen Stücke", fördert Eminentes zutage. Grieg verknüpft seine melodische Signatur, das "Grieg-Motiv" (Grundton, kleine Sekunde abwärts, große Terz abwärts), mit dem äußerst durchdachten Tonartenplan, indem er jene Akkorde, die dem Verwandtschaftsverhältnis nach am weitesten auseinander liegen, durch diese Signatur miteinander verklammert.
Sogar wer abschätzig über Grieg als Kleinmeister oder Salonmusiker urteilte, musste früher zugestehen, dass er einer "der feinhörigsten Harmoniker" war, wie der Theoretiker Ernst Kurth es 1920 formulierte. Dinslage aber gelingt nun analytisch der Nachweis, dass diese aromatische, äußerst originelle Harmonik bei Grieg nicht das Ergebnis einer zufällig erfolgreichen Akkordtrüffelschnüffelei war, sondern Konsequenz eines kontrapunktischen Denkens, also eines Strebens nach starker melodischer Prägnanz in der Gleichzeitigkeit der Linien.
Dass Grieg die große Form, eigenem Bekunden zum Trotz, sehr wohl beherrschte, dass er dabei mehr auf harmonischen Kontrast und melodische Dringlichkeit als auf thematische Vermittlung setzte (die es bei ihm gleichwohl gibt), das macht Dinslage in seiner Betrachtung der drei Violinsonaten und des Streichquartetts fasslich. Ratlos allerdings bleibt der Leser weiterhin bei der Frage, woran es eigentlich liegt, dass wir Grieg sofort als "Grieg" erkennen, was den "nordischen Ton" ausmachen könnte und ob es nicht eher ein personalstilistischer "Grieg-Ton" sei. Dinslage kann diese Frage eher problematisierend diskutieren als überzeugend klären.
Vor dem abschließenden Bildteil, den Anmerkungen und dem Werkverzeichnis gibt es allerdings noch einige sehr bereichernde biographische Kapitel, wovon jenes zu Grieg als Musikschriftsteller belegt, dass Kürze, Prägnanz, Originalität auch Tugenden des Autors Grieg waren. Eine kursorische Auswertung von Griegs penibel geführten Haushaltsbüchern macht den Künstler als Menschen noch sympathischer: Er verstand zu leben, lud gern Menschen zum Essen ein und gab im Hotel allen Abteilungen großzügig Trinkgeld.
Patrick Dinslage: "Edvard Grieg und seine Zeit".
Laaber Verlag, Laaber 2018. 358 S., Abb., geb., 37,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main