In Edvard Munch. Eine Biografie zeichnet der norwegische Autor Atle Næss das Leben und Wirken Munchs nach und liefert damit ein reiches und nuanciertes Bild sowohl des Menschen als auch des Künstlers. Munch erscheint dem Leser dabei mit seiner intensiven Schöpferkraft, seiner Stärke und Verletzbarkeit. Es finden sich Freundschaft und Streit, Kampf und Liebe - sowie die Angst vor Verlust in den Liebesverhältnissen, die er erlebt hat. Edvard Munch. Eine Biografie liefert zudem ein neues Verständnis des Europäers Edvard Munch und seiner Gegenwart. Zugleich blickt das Buch hinter den Mythos des einsamen Künstlergenies.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015Er verstand es, Skandal zu machen
Hinter der Maske der Bohème war der norwegische Maler Edvard Munch ein entgegenkommender Mann, der sich um die Versorgung der Verwandtschaft kümmerte. Sein Biograph Atle Næss meint es dennoch zu gut mit ihm.
Von Julia Voss
Die Botschaft dieses Buches ist eindeutig. Sie lautet: bitte genau nehmen. Und das versteht jeder, der den Band auch nur in die Hand nimmt, denn allein der Text umfasst knapp sechshundert Seiten, den Anhang und die Bibliographie nicht mitgezählt. Sechshundert Seiten zum Leben und Werk des norwegischen Künstlers Edvard Munch, der 1863 geboren wurde und 1944 starb, einen Monat und elf Tage nach seinem achtzigsten Geburtstag. Ist das nicht zu viel?
Was die Archivlage anbetrifft, gehört Munch zu den Glücksfällen der historischen Forschung. Hinterlassen hat er nicht nur ein umfangreiches künstlerisches OEuvre, sondern darüber hinaus zahlreiche Briefe, Aufzeichnungen und Geschäftsunterlagen, so dass sowohl die Schritte seiner Karriere als auch das stete Auf und Ab seines Gefühlslebens detailreich dokumentiert worden sind. Von seinem elften Lebensjahr an sind Zeichnungen und Aquarelle überliefert, verwahrt von der Tante, die sich seit dem frühen Tod der Mutter um die Kinder kümmerte.
Und was trägt der Biograph Atle Næss darüber hinaus nicht alles zusammen! Als Munch im Jahr 1895 etwa sein berühmtes "Selbstporträt mit Zigarette" malte, stellte er zum ersten Mal nach dem berüchtigten Berliner Skandal wieder in Oslo aus. In der deutschen Hauptstadt war drei Jahre zuvor eine Ausstellung mit seinen Bildern kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen worden, nur fünf Tage lang hatte er sie zeigen dürfen. Die Verrisse waren nur so auf seine Werke heruntergeprasselt, gleichzeitig hatte er einflussreiche Freunde gewonnen, zum Beispiel den Publizisten und Sammler Harry Graf Kessler.
In der Heimat weckte das Aufsehen, für das seine Bilder gesorgt hatten, die Neugier. Der Kunsthändler Blomquist lud ihn für eine Ausstellung ein. Die Presse überschlug sich. Die "Aftenposten" schrieb, dass einzelne Bilder den "Brechreiz wecken und in die Versuchung führen, polizeiliche Unterstützung anzufordern". Ein Arzt, Doktor Juell, protestierte, weil er seine Töchter in den Gemälden wiederzuerkennen glaubte, eine davon kannte Munch aus Berlin, er hatte sie bereits porträtiert. Der besorgte Vater meinte den Bildern mehr als eine Freundschaft ablesen zu können, Anspielungen, die er als kompromittierend empfand, weshalb er Munch schrieb, dass er nicht begreife, "wie es Ihnen einfallen kann, diese öffentlich in Christiania auszustellen". Der Arzt war noch dazu ein Bekannter von Munchs Vater, der ebenfalls Medizin studiert hatte.
Næss fasst das Ende der Auseinandersetzung so zusammen: "Hinter der Bohème-Maske war Munch ein höflicher und entgegenkommender Mann, der keinerlei Wunsch hegte, einen alten Kollegen seines Vaters zu beleidigen. Schnell entfernte er das Bild aus der Ausstellung."
Trotz der Anfeindungen, trotz der persönlichen Verwicklungen, war die Schau ein Erfolg. Das Bildnis des rauchenden Künstlers kaufte die Nationalgalerie in Oslo, ein weiteres Gemälde erstand der konservative Kunstverein. Für Munchs Familie jedoch war 1895 ein trauriges Jahr: Im Frühjahr heiratet Andreas, der Bruder, und stirbt noch vor Jahresende, eine schwangere Frau hinterlassend. Die Tochter sollte ihren Vater nie kennenlernen. Da Edvard Munch selbst keine Kinder hatte, blieb das Mädchen die einzig bekannte nahe Verwandte des Künstlers.
Kurzum: Ein einziges Jahr im Leben des Künstlers ist ein dichtes Knäuel an Ereignissen, an Hoch- und Tiefpunkten, amourösen Verbindungen, Todesfällen, Umzügen, Ausstellungen, Freunden und Feinden, Bekanntschaften und Geldsorgen. Auf der einen Seite hat Munch in dem Landsmann Atle Næss, der 1949 geboren wurde, einen entspannten und wohlmeinenden Beobachter gefunden, der die Kunst liebt, aber auch weiß, dass sie im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr gegen ihre Feinde verteidigt werden muss.
Selbst erbitterte Gegner des Künstlers kommen in den Genuss von Næss' erzählerischer Güte. Über den deutschen Kaiser etwa, dessen Günstling Anton von Werner die Moderne in Berlin bekämpfte, wo es nur ging, heißt es lapidar: "Der Kaiser selbst war - leider muss man vielleicht sagen - äußerst kunstinteressiert."
Auf der anderen Seite leidet diese Biographie streckenweise unter Konturlosigkeit. Næss ist zwar ein erfahrener Autor, der neben Biographien auch Romane und Sachbücher verfasst hat. Das Leben Galileo Galileis etwa führte ihn nach Florenz in die Zeit um 1600, eine weitere Lebensbeschreibung über Leonardo da Vinci ist für das kommende Jahr angekündigt. Im Fall von Munch bleibt Næss jedoch als Erzähler häufig zu dicht an seinem Protagonisten, er kommentiert wenig.
Positiv ließe sich sagen, dass er sich keine billige Effekthascherei gestattet: Die Preisrekorde etwa, die in den vergangenen Jahren auf Auktionen mit Munchs Werken erzielt worden sind, interessieren ihn nicht. Mit zäher Genauigkeit schildert er dagegen die Geldsorgen, die den Künstler lange Jahre plagten, umso mehr, als er, der unverheiratet blieb, den Ehrgeiz besaß, seine Verwandten in Oslo weiter zu unterstützen. Niemand wird bezweifeln, dass Edvard Munch grundsätzlich zu jenen Persönlichkeiten gehört, deren Biographie auch auf sechshundert Seiten noch nicht auserzählt ist. So sympathisch der Ansatz des Autors ist, sich nicht an Legendenbildungen zu beteiligen, so überfordernd ist jedoch häufig die Fülle an Details. Der Leser fühlt sich streckenweise, als sei er in einen Ameisenhaufen hineingeraten, in dessen Gängen das Gewusel nicht abreißt und unablässig neue Fakten herbeigetragen werden. In den besten Momenten führt das Gedränge zu einer dichten Beschreibung, die vor allem die Andersartigkeit der Verhältnisse heraushebt, in der Munch lebte und arbeitete.
Als im Jahr 1937 Sozialisten im Zuge der Beschlagnahmeaktion "Entartete Kunst" aus deutschen Museen entfernt wurden, nahm Munch, wie Næss schreibt, die Ereignisse "verhältnismäßig ruhig auf". In völliger Verkennung der politischen Entwicklungen erschütterte ihn "die Verfolgung durch die Kamarilla in Norwegen". Gemeint waren die bissigen Kommentare der Kritiker im Land, die weniger geworden waren, ohne jedoch ganz abzureißen.
In den schlechteren Momenten wünscht man sich jedoch einen Autor, der weiß, dass auch die beste Erzählung unter der Last zu vieler Details zusammenbricht.
JULIA VOSS.
Atle Næss: "Edvard Munch". Eine Biografie.
Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach. Berlin University Press im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2015. 668 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinter der Maske der Bohème war der norwegische Maler Edvard Munch ein entgegenkommender Mann, der sich um die Versorgung der Verwandtschaft kümmerte. Sein Biograph Atle Næss meint es dennoch zu gut mit ihm.
Von Julia Voss
Die Botschaft dieses Buches ist eindeutig. Sie lautet: bitte genau nehmen. Und das versteht jeder, der den Band auch nur in die Hand nimmt, denn allein der Text umfasst knapp sechshundert Seiten, den Anhang und die Bibliographie nicht mitgezählt. Sechshundert Seiten zum Leben und Werk des norwegischen Künstlers Edvard Munch, der 1863 geboren wurde und 1944 starb, einen Monat und elf Tage nach seinem achtzigsten Geburtstag. Ist das nicht zu viel?
Was die Archivlage anbetrifft, gehört Munch zu den Glücksfällen der historischen Forschung. Hinterlassen hat er nicht nur ein umfangreiches künstlerisches OEuvre, sondern darüber hinaus zahlreiche Briefe, Aufzeichnungen und Geschäftsunterlagen, so dass sowohl die Schritte seiner Karriere als auch das stete Auf und Ab seines Gefühlslebens detailreich dokumentiert worden sind. Von seinem elften Lebensjahr an sind Zeichnungen und Aquarelle überliefert, verwahrt von der Tante, die sich seit dem frühen Tod der Mutter um die Kinder kümmerte.
Und was trägt der Biograph Atle Næss darüber hinaus nicht alles zusammen! Als Munch im Jahr 1895 etwa sein berühmtes "Selbstporträt mit Zigarette" malte, stellte er zum ersten Mal nach dem berüchtigten Berliner Skandal wieder in Oslo aus. In der deutschen Hauptstadt war drei Jahre zuvor eine Ausstellung mit seinen Bildern kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen worden, nur fünf Tage lang hatte er sie zeigen dürfen. Die Verrisse waren nur so auf seine Werke heruntergeprasselt, gleichzeitig hatte er einflussreiche Freunde gewonnen, zum Beispiel den Publizisten und Sammler Harry Graf Kessler.
In der Heimat weckte das Aufsehen, für das seine Bilder gesorgt hatten, die Neugier. Der Kunsthändler Blomquist lud ihn für eine Ausstellung ein. Die Presse überschlug sich. Die "Aftenposten" schrieb, dass einzelne Bilder den "Brechreiz wecken und in die Versuchung führen, polizeiliche Unterstützung anzufordern". Ein Arzt, Doktor Juell, protestierte, weil er seine Töchter in den Gemälden wiederzuerkennen glaubte, eine davon kannte Munch aus Berlin, er hatte sie bereits porträtiert. Der besorgte Vater meinte den Bildern mehr als eine Freundschaft ablesen zu können, Anspielungen, die er als kompromittierend empfand, weshalb er Munch schrieb, dass er nicht begreife, "wie es Ihnen einfallen kann, diese öffentlich in Christiania auszustellen". Der Arzt war noch dazu ein Bekannter von Munchs Vater, der ebenfalls Medizin studiert hatte.
Næss fasst das Ende der Auseinandersetzung so zusammen: "Hinter der Bohème-Maske war Munch ein höflicher und entgegenkommender Mann, der keinerlei Wunsch hegte, einen alten Kollegen seines Vaters zu beleidigen. Schnell entfernte er das Bild aus der Ausstellung."
Trotz der Anfeindungen, trotz der persönlichen Verwicklungen, war die Schau ein Erfolg. Das Bildnis des rauchenden Künstlers kaufte die Nationalgalerie in Oslo, ein weiteres Gemälde erstand der konservative Kunstverein. Für Munchs Familie jedoch war 1895 ein trauriges Jahr: Im Frühjahr heiratet Andreas, der Bruder, und stirbt noch vor Jahresende, eine schwangere Frau hinterlassend. Die Tochter sollte ihren Vater nie kennenlernen. Da Edvard Munch selbst keine Kinder hatte, blieb das Mädchen die einzig bekannte nahe Verwandte des Künstlers.
Kurzum: Ein einziges Jahr im Leben des Künstlers ist ein dichtes Knäuel an Ereignissen, an Hoch- und Tiefpunkten, amourösen Verbindungen, Todesfällen, Umzügen, Ausstellungen, Freunden und Feinden, Bekanntschaften und Geldsorgen. Auf der einen Seite hat Munch in dem Landsmann Atle Næss, der 1949 geboren wurde, einen entspannten und wohlmeinenden Beobachter gefunden, der die Kunst liebt, aber auch weiß, dass sie im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr gegen ihre Feinde verteidigt werden muss.
Selbst erbitterte Gegner des Künstlers kommen in den Genuss von Næss' erzählerischer Güte. Über den deutschen Kaiser etwa, dessen Günstling Anton von Werner die Moderne in Berlin bekämpfte, wo es nur ging, heißt es lapidar: "Der Kaiser selbst war - leider muss man vielleicht sagen - äußerst kunstinteressiert."
Auf der anderen Seite leidet diese Biographie streckenweise unter Konturlosigkeit. Næss ist zwar ein erfahrener Autor, der neben Biographien auch Romane und Sachbücher verfasst hat. Das Leben Galileo Galileis etwa führte ihn nach Florenz in die Zeit um 1600, eine weitere Lebensbeschreibung über Leonardo da Vinci ist für das kommende Jahr angekündigt. Im Fall von Munch bleibt Næss jedoch als Erzähler häufig zu dicht an seinem Protagonisten, er kommentiert wenig.
Positiv ließe sich sagen, dass er sich keine billige Effekthascherei gestattet: Die Preisrekorde etwa, die in den vergangenen Jahren auf Auktionen mit Munchs Werken erzielt worden sind, interessieren ihn nicht. Mit zäher Genauigkeit schildert er dagegen die Geldsorgen, die den Künstler lange Jahre plagten, umso mehr, als er, der unverheiratet blieb, den Ehrgeiz besaß, seine Verwandten in Oslo weiter zu unterstützen. Niemand wird bezweifeln, dass Edvard Munch grundsätzlich zu jenen Persönlichkeiten gehört, deren Biographie auch auf sechshundert Seiten noch nicht auserzählt ist. So sympathisch der Ansatz des Autors ist, sich nicht an Legendenbildungen zu beteiligen, so überfordernd ist jedoch häufig die Fülle an Details. Der Leser fühlt sich streckenweise, als sei er in einen Ameisenhaufen hineingeraten, in dessen Gängen das Gewusel nicht abreißt und unablässig neue Fakten herbeigetragen werden. In den besten Momenten führt das Gedränge zu einer dichten Beschreibung, die vor allem die Andersartigkeit der Verhältnisse heraushebt, in der Munch lebte und arbeitete.
Als im Jahr 1937 Sozialisten im Zuge der Beschlagnahmeaktion "Entartete Kunst" aus deutschen Museen entfernt wurden, nahm Munch, wie Næss schreibt, die Ereignisse "verhältnismäßig ruhig auf". In völliger Verkennung der politischen Entwicklungen erschütterte ihn "die Verfolgung durch die Kamarilla in Norwegen". Gemeint waren die bissigen Kommentare der Kritiker im Land, die weniger geworden waren, ohne jedoch ganz abzureißen.
In den schlechteren Momenten wünscht man sich jedoch einen Autor, der weiß, dass auch die beste Erzählung unter der Last zu vieler Details zusammenbricht.
JULIA VOSS.
Atle Næss: "Edvard Munch". Eine Biografie.
Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach. Berlin University Press im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2015. 668 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Liest man Julia Voss, dann bedauert man fast, dass der Autor statt einer großen Biografie nicht einen biografischen Essay über das Jahr 1895 im Leben des Malers geschrieben hat, ein Schwellenjahr mit ersten großen Skandalen, ersten großen Erfolgen und einem tragischen Ereignis, dem Tod des Bruders. So sind 600 Seiten draus geworden, die Voss einerseits großen Respekt abfordern, denn der Autor schreibe faktenreich, wohlmeinend und unspekulativ. Herauskommt dabei das Bild eines Künstlers, der trotz seiner düsteren Gemälde freundliche Umgangsformen hatte und sich stets um seine Familie sorgte. Auch Kritik hat Voss an der Biografie, vor allem, dass der Autor die Fülle des Materials nicht immer gegliedert und geordnet habe - insgesamt aber gibt sie eine Leseempfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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